Ich. Sie. Die Frau (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
235 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76788-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich. Sie. Die Frau -  Niña Weijers
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Eine junge Schriftstellerin lebt in Amsterdam in einer kinderlosen, erfüllten Beziehung mit ihrem Partner und schreibt an ihrem zweiten Roman. Aber muss das schon alles gewesen sein? Sie könnte ja auch einen kleinen Sohn haben und in Scheidung leben. Oder auf einem Festival eine andere Schriftstellerin kennengelernt und sich in sie verliebt haben. Und sie könnte im Roman ihrer Freundin M bei einem Skiunfall ums Leben gekommen sein. Oder einen Hund haben. Welches dieser Leben wäre das richtige, das authentische? Und wie gut muss man sich kennen, um diese Frage zu beantworten?

Niña Weijers gibt sich nicht mit der Wirklichkeit zufrieden. Mit Ich. Sie. Die Frau hat sie einen wunderbar vertrackten, berührenden, gut gelaunten Roman geschrieben über die Veränderlichkeit von Lebensentscheidungen, über Freundschaft, Sexualität, Lust und Scham und Erinnerung. Und über die Frage, was geschehen wäre, wenn ...



<p>Ni&ntilde;a Weijers, geboren 1987 in Nijmegen, studierte Literaturwissenschaften in Amsterdam und Dublin. 2010 gewann sie den Literaturwettbewerb &raquo;Write Now!&laquo;. F&uuml;r ihren ersten Roman, <em>Die Konsequenzen</em>, der in zahlreichen L&auml;ndern erschienen ist, wurde sie mit mehreren Preisen, darunter dem renommierten Anton-Wachter- Preis, ausgezeichnet. <em>Ich. Sie. Die Frau</em> ist ihr zweiter Roman.</p>

 
 

 
 
 

Der Mann und die Frau saßen einander auf einer Terrasse gegenüber, wobei Terrasse hochgegriffen ist: Der Inhaber hatte zwei wacklige Tische auf die schmale Gasse gestellt, in minimaler Anerkennung der Tatsache, dass das Wetter mild war. Das wahre Leben spielte sich drinnen ab, zwischen den ochsenblutroten Wänden der Kneipe, die historisch genug war, keine Bar zu haben, sondern einen gesonderten Schankraum, ganz hinten, vom Café durch einen schwarzen Vorhang getrennt. Zigarettenrauch hatte den Wänden über Jahrzehnte hinweg ihre einzigartige Farbe verliehen, und daher hatte der Inhaber – der sechste Sohn in einer Familiendynastie – nach dem Rauchverbot beschlossen, die Tapete nicht mehr zu ersetzen. Niemand konnte sich erinnern, wie lange sie da schon hing. Hier und da begann sie sich von der Wand zu lösen, wodurch der Eindruck entstand, man könne sie mühelos abziehen, wie die Kruste von einer Wunde. Und obwohl auch die Holztische so abgenutzt waren, dass die Oberflächen mit großen Wasserflecken übersät waren, machte das Lokal keinen heruntergekommenen Eindruck. Im Gegenteil: Alles war blitzsauber, und die Kellner liefen in blütenweißen Hemden herum. Jeden Tag lagen frisch gekochte Eier auf einer dafür bestimmten Platte aus, fünfzig Cent das Stück, neben einem rot glänzenden Automaten mit knackigen Salzmandeln für einen Euro.

In dieser Zeit ging die Frau oft und gern dorthin. Sie arbeitete um die Ecke und kannte die Kellner, die wussten, was sie trank, und immer ein paar Worte mit ihr wechselten. Den Mann, der ihr gegenübersaß und ihr Liebster werden sollte, sah sie an diesem Nachmittag zum zweiten Mal. Sie hatte Angst gehabt, dass er sich als Enttäuschung entpuppen würde. Von der Nacht, in der sie ihn kennengelernt hatte, von ihm, war ihr kaum etwas in Erinnerung geblieben. Von seinen Gesichtszügen nicht, davon, wie er sprach und worüber, wie er gekleidet war. Das Einzige, was ihr wirklich in Erinnerung geblieben war, war ein unbestimmtes, aber angenehmes Gefühl von Vertrautheit. Mit einer ganzen Gruppe hatten sie in dieser dunklen Bar gestanden, eine zusammengewürfelte Schar von Leuten nach einer Theatervorstellung. Die Frau war mit der Regisseurin befreundet, der Mann mit einem der Techniker, obwohl er selbst kein Techniker war, sondern Politologe. Oder Soziologe. Jedenfalls promovierte er oder hatte gerade promoviert. Ein gemeinsamer Freund hatte sie miteinander bekannt gemacht, und danach war er den ganzen Abend in ihrer Nähe geblieben. Nicht auf die üble Tour, wie manche Männer in der Nähe von Frauen hängenbleiben, sondern ganz ruhig und selbstverständlich, jemand, der darauf vertraute, dass alles wie vorhergesehen laufen würde. Das kannte sie nicht. Die Männer, die sie attraktiv fand, waren meist arrogant und nicht nett; sie machten sie nervös und still oder aber übertrieben scharfsinnig.

Es war noch ein lustiger Abend geworden mit diesen Theaterleuten, und er hatte in einer Karaoke-Bar geendet, wo ein paar Schauspielerinnen halb lässig, aber lupenrein diesen affigen Song von Björk sangen, shh shh, jemand klaute ein Bild von der Wand, draußen auf dem Gehweg hatte der Mann sie geküsst, bedächtig und präzise, eine aufmerksam ausgeführte Arbeit, fast frei von Lust, aber voll von etwas anderem, etwas, was sie noch nicht beschreiben konnte, von dem sie aber zu ihrer eigenen Überraschung mehr wollte.

Am Tag danach hatte er ihr eine Nachricht in einem Ton geschickt, der ihr gefiel – witzig und intelligent, souverän. Er fragte, ob sie ihn noch mal sehen wolle, sie sagte ja, er nannte einen Tag, sie diesen Ort. Sie hatte nicht recht gewusst, was sie erwarten konnte, nicht zuletzt von sich selbst; die paar Male, die sie in der Vergangenheit ähnliche Verabredungen hatte, waren nicht gerade zu ihrem Vorteil ausgefallen. Sie wurde dann steif, formell, als würde sie sich abwechselnd bewerben und in der Bewerbungskommission sitzen, womit sie unbeabsichtigt den Mechanismus dieser Art von Austausch aufdeckte und alle Hoffnung auf einen natürlichen Verlauf der Dinge verfliegen ließ.

Doch sobald sie ihn dort sitzen sah – er war vor ihr da, wie er auch in den darauffolgenden Jahren immer vor ihr da sein würde –, wusste sie, dies hier war anders. Mit der linken Hand hielt er eine Zeitung, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag, in der rechten achtlos ein Glas Bier. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, sah er auf. Er kniff kurz die Augen zu Schlitzen zusammen (wie sich später herausstellte, in hartnäckiger Leugnung der Tatsache, dass er eine Brille brauchte), dann stand er auf, um sie zu begrüßen. Gutaussehend, lieb. Und gleichzeitig: als wäre er der Boss der gesamten Stadt. Er trug eine schwarze Jacke mit rotem Futter und silbernen Knöpfen, eine Tiroler Joppe, erzählte er ihr später am Abend, die er mal spontan in einem Secondhandshop gekauft hatte. Sie passte zu ihm und zugleich auch überhaupt nicht. (Er war es, der ihr verbieten würde, in ihren Texten das Wort zugleich so häufig zu verwenden, das er hässlich fand und außerdem faul: Wenn alles zugleich das Eine war und auch das genaue Gegenteil davon, dann war alles nichts und nichts alles, sie müsse spezifisch sein und nicht ständig um den heißen Brei herumreden. Und was gutaussehend, lieb bedeute? Teenagervokabular. Und sie müsse auch mit diesen Klammern überall aufhören. Man schreibe etwas hin oder eben nicht.)

Er sprach mit eigenartigen Pausen zwischen den Wörtern, als wäre für einen Moment das Signal zwischen seinem Gehirn und dem Mund unterbrochen. Wenn sie ihn etwas fragte, atmete er tief ein, und bevor er zu einer Antwort ansetzte, nickte er kurz. Nach zehn Minuten wusste sie, dass er sie wollte, ganz und gar. Und dass er sie nie verletzen würde.

Jahre später versucht sie, diesen Nachmittag zurückzurufen, doch was sie niedergeschrieben hat, überschattet ihre Erinnerung. In Wirklichkeit saßen sie auf einer anderen Caféterrasse, ein paar Straßen weiter, wo sie gelandet waren, weil das Café, in dem sie sich verabredet hatten – wieder ein anderes – voll war. Doch diese Wirklichkeit wirkt weniger wahr als ihr Eingriff, und das beunruhigt sie irgendwie. Was versucht sie eigentlich zu tun? Was tun Menschen, die sich an etwas zu erinnern versuchen?

Die Frau unterrichtete Studierende an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, einen Kurs pro Semester, zwei Stunden die Woche plus Vorbereitungszeit und Korrekturen. Es war ein fakultativer Kurs, der offiziell Lesen wie ein Kritiker hieß, den sie jedoch bei sich Lesen für Einsteiger nannte. Der Job war ganz anständig bezahlt, wenngleich sie vermied, aus dem Gesamtbetrag, der in jedem Frühjahr und Herbst auf ihrem Konto einging, einen Stundensatz zu errechnen.

Eingestellt worden war sie vom Professor für Moderne europäische Literatur, gleichzeitig Leiter eines Fachbereichs mit einem generischen Sammelnamen, den sie sich nie merken konnte. Sprache und Kommunikation. Literatur und Kultur. Kultur und Kommunikation – irgend so was. Was der Fachbereich genau abdeckte, bekam sie nie genau heraus, jedenfalls herrschte ständig Panik über seine mögliche Auflösung.

Sie hatte, als sie begann, nicht nur keinerlei Lehrerfahrung, sondern hatte ihr Studium sogar irgendwann vorzeitig abgebrochen. Ihr ganzes Leben lang war sie das bravste Mädchen der Klasse gewesen, bis sie es plötzlich zu jedermanns und auch ihrer eigenen Überraschung nicht länger war. So ungefähr von einem Tag auf den anderen sagte die Universität ihr nichts mehr. Entfremdet ging sie durch die Gebäude, die ihr im Laufe der Jahre vertraut geworden waren, und ihre Sehnsucht nach Wertschätzung seitens der Dozenten wich einem Widerwillen gegen ebendiese Wertschätzung, die sie in Form ausgezeichneter Noten und der eindeutigen, von ihren Gesichtern abzulesenden Erleichterung erhielt, sobald sie in einer Arbeitsgruppe das Wort ergriff. Plötzlich kam die Universität ihr wie ein geschlossenes System vor, das nichts mit der Welt zu tun hatte. Das Leben, auf das sie mit ihren guten Noten und ihrem guten Benehmen zusteuerte, würde sich in einem kleinen Zimmer mit ihrem Namen an der Tür abspielen, in muffigen oder aber extrem sterilen Unterrichtsräumen, auf fensterlosen Fluren fensterloser Hotels mit bordeauxroten Teppichböden und blutleeren Konferenzräumen. Wände und Türen, darauf lief es hinaus. Doch sie war dreiundzwanzig und wollte...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Übersetzer Helga van Beuningen
Sprache deutsch
Original-Titel Kamers Antikamers
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Schlagworte Alternatives Leben • Autorin • Dreiecksbeziehung • Erinnerung • Frausein • Gender • Identität • Kamers Antikamers deutsch • Konsequenzen • Liebe • Literatur • Ménage à trois • Ménage-à-trois • Niederlande • Niederländische Literatur • Scham • Schreiben • Schriftstellerin • Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2021 • Westeuropa
ISBN-10 3-518-76788-7 / 3518767887
ISBN-13 978-3-518-76788-7 / 9783518767887
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