Schläge im Namen des Herrn (eBook)
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28176-2 (ISBN)
Manchmal genügte den Ämtern der denunziatorische Hinweis der Nachbarn auf angeblich unsittlichen Lebenswandel, um junge Menschen für Jahre in Heimen verschwinden zu lassen. In diesen Institutionen regierten Erzieherinnen und Erzieher, die oft einem Orden angehörten und als Verfechter christlicher Werte auftraten, mit aller Härte. Die »Heimkampagne«, ausgelöst von Andreas Baader und Ulrike Meinhof, und die Proteste der 68er brachten einen Wandel. Die Erlebnisberichte in diesem Buch enthüllen das vielleicht größte Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde.
- Erste umfassende Darstellung der bis in die siebziger Jahre herrschenden skandalösen Zustände in kirchlichen und staatlichen Kinderheimen
- Erschütternde Erlebnisberichte von Betroffenen, die als Kinder traumatisiert wurden
Peter Wensierski, geboren 1954, begann seine Arbeit als Journalist 1979 mit Berichten und Reportagen aus der DDR. Er war damals der jüngste westliche Reisekorrespondent. Als Dokumentarfilmer, Reporter und Buchautor berichtete er über die aufkommende Oppositionsbewegung. Von 1993 an arbeitete er beim SPIEGEL im Deutschlandressort. Mit dem Buch »Schläge im Namen des Herrn« eröffnete er 2005 die Debatte über Missbräuche in der Heimerziehung. Sein 2014 erschienenes Buch »Die verbotene Reise« über eine ungewöhnliche Flucht aus der DDR wurde ein Bestseller, seine 2017 erschienene Geschichte der Oppositionsbewegung in Leipzig 1988/89, »Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution«, wurde verfilmt. Für sein Engagement bei der Aufklärung des Schicksals der Heimkinder wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Vorwort
Es ist unverkennbar: Je schlechter die Nachrichten über die Gegenwart und die Prognosen für die Zukunft werden, desto häufiger wird wieder geschwärmt von den „goldenen Zeiten“ der Gründerjahre, vom rasanten Wirtschaftswunder, den erfolgreichsten Jahren der jungen Bundesrepublik, in denen es immer nur aufwärts ging. Der Krieg war vorbei, und eine Nation ging an den Wiederaufbau.
Eine Welle der Erinnerung schwappt durch die Medien. In Fernsehserien lassen sich Menschen freiwillig in eine Schule der Adenauer-Ära zurückversetzen, und in „angesagten“ Klamotten- und Designerläden zwischen München und Berlin finden die modischen Accessoires jener Zeit reißenden Absatz. Nierentisch-Nostalgie und pastellfarbene Tütenlampen-Romantik machen sich breit.
Dagegen werden die „68er“ verdammt. Ihre antiautoritäre Erziehung, so heißt es, sei schuld an der problematischen Jugend von heute. Doch was hat die Protestbewegung anno 1968 ausgelöst? War es allein der Protest gegen den Vietnamkrieg, gegen den unverdauten Faschismus, der die jungen Rebellen politisierte und auf die Straße trieb?
Oder waren es nicht auch die überlebten autoritären Strukturen, die Erziehung zu „Zucht und Ordnung“ im eigenen Land, die eine massenhafte Ausgrenzung von Jugendlichen hervorgebracht hatten, von denen dieses Buch erzählt?
Manche Kapitel sind eine Zeitreise zurück in die fünfziger und sechziger Jahre. Eine Innenansicht der öffentlichen Erziehung von Staat und Kirche aus der Sicht der Kinder. Wer in die Heime kam, war selten ein Waisenkind oder Krimineller. Es waren meist nichtige Gründe, die zur Einweisung in die Erziehungsanstalten führten – Gründe, die ein gesellschaftliches Kartell bestimmte, zu dem Jugendbehörden, Gerichte, Lehrer, Nachbarn, Eltern und vor allem die damals noch einflussreichen Kirchen gehörten.
Sie legten fest, was gut und böse, wer brav und wer ungezogen war und ab wann ein Mädchen als „sexuell verwahrlost“ zu gelten hatte. Sie verkündeten als eine Art Naturgesetz, dass die uneheliche Geburt eine Schande sei.
„Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim!“ Diese Drohbotschaft bekamen damals Millionen junge Menschen zu hören. Am Ende wurden einige Hunderttausend Kinder und Jugendliche tatsächlich hinter den Mauern der staatlichen und kirchlichen Erziehungsanstalten zu dramatischen Verlierern des deutschen Wirtschaftswunders. Für sie fiel eine schwere Tür ins Schloss, hinter der sie die ganz anderen, die dunklen fünfziger Jahre erlebten.
Mit der medialen Verklärung dieser Zeit droht dem nationalen Gedächtnis eine Art kollektiver Amnesie, eine schiefe Optik in der Wahrnehmung der unmittelbaren Vorgeschichte unserer Gegenwart. Diese Jahre eignen sich einfach nicht für den sentimentalen Feuerzangenbowlen-Blick.
Die Verwirklichung von Kindesrechten, die zu den universellen Menschenrechten zählen, ist ein Maßstab für den Grad der Freiheit in einer Gesellschaft.
Deshalb schlägt sich dieses Buch auf die Seite der Opfer jener Zeit, der Kinder und Jugendlichen in den Heimen. Es berichtet von der dunklen Seite der Gründerjahre und des Wirtschaftswunders, von schwerwiegenden Demokratiedefiziten und von dem gesellschaftlichen Tabu, das verbot, offen über die Folgen eines systematischen Machtmissbrauchs in unserem Land zu reden.
Es ist ein Buch über Menschrechtsverletzungen in Westdeutschland. Wer bisher geglaubt hat, nur im Osten, in der DDR, seien Menschen gequält, misshandelt, gedemütigt, erniedrigt und ihrer Chancen beraubt worden, der kann aus den Opferberichten dieses Buches lernen, dass der Westen so viel besser auch nicht mit jenen umgesprungen ist, die sich der verordneten gesellschaftlichen Norm nicht fügen mochten.
Dieses Buch ist ein Befreiungsschlag von und für die Betroffenen, die sich erstmals öffentlich dazu bekennen, ein Heimkind gewesen zu sein. Sie wollen, dass damit endlich für viele Menschen ein lebenslang andauerndes Tabu fällt. Das Buch richtet sich gegen die Kultur des Verschweigens.
„Warum hat eine Enquête-Kommission unser Leid nicht längst zusammengetragen“, fragte mich ein ehemaliges Heimkind. Die Berichte in diesem Buch sind exemplarisch, es ließen sich Tausende zusammentragen. Sie alle würden belegen, wie grundlegende christliche und bürgerliche Werte von den Verantwortlichen der Gesellschaft mit Füßen getreten worden sind.
Wenn man sich bei den Geschichten in diesem Buch fragt, wie dies möglich war, sollte sich die Frage anschließen, wie eine Wiederholung dieser brutalen Vorkommnisse in den Heimen heute auszuschließen ist. Was damals als billige Entsorgung von Störenfrieden funktionierte, kommt die Gesellschaft bis heute teuer zu stehen. Hunderttausende von sozialen Problemfällen wurden nicht gelöst, sondern in den Heimen erst produziert.
Heute werden die Forderungen nach geschlossenen, „harten“ Heimen wieder lauter. Polizei und Politiker fordern erneut das „Wegschließen“ von Jugendlichen. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) erfreut die Stammtische, wenn er stolz darauf hinweist, dass in Bayern die geschlossenen Heime niemals abgeschafft wurden.
Die Anzahl der auffällig gewordenen Kinder und Jugendlichen nimmt zu, nicht ab. Viele glauben immer noch, dass hier die Angst vor Strafe hilft. Besonders die sogenannte „Erlebnispädagogik“ ist ein beliebtes Kritikobjekt der Befürworter von Abschreckung und Strafe.
Doch am Kern des Problems, warum Kinder und Jugendliche außerhalb ihrer Familien überhaupt betreut werden müssen, hat sich nichts geändert. Die soziale Situation der Familien und jungen Menschen, die heute Erziehungshilfe in Anspruch nehmen, ist die gleiche wie die vor dreißig Jahren.
In einem Bericht über „Leistungen und Grenzen von Heimerziehung“, herausgegeben vom Bundesfamilienministerium, heißt es: „Die Eltern/Elternteile verfügen zu einem großen Anteil über eine niedrige formale Bildung, sind in Berufen mit niedrigem sozialen Status beschäftigt oder verfügen über keine bezahlte Arbeit.“
Weiter stellt die Studie den gravierend hohen Anteil an allein erziehenden Müttern, Scheidungsfamilien und kinderreichen Familien fest, „die aus armen, bildungsbenachteiligten und mehrfach belasteten Bevölkerungsteilen stammen“.
Mit anderen Worten: Die Klientel der öffentlichen Erziehung ist noch dieselbe wie zur Zeit Ulrike Meinhofs, die Ende der sechziger Jahre mit ihren Reportagen auf die elende Situation in den Heimen aufmerksam machen wollte. Nach wie vor gibt es die Probleme der unteren Schichten, und im Zeitalter der „Globalisierung“ werden weder die Probleme kleiner noch die Zahl jener, die mit ihnen zu kämpfen haben.
Es gibt auch eine Gegenwart, in der wieder heimlich geschlagen und misshandelt wird, an Orten, wo Ausgegrenzte aus dem Blickfeld zu verschwinden drohen – in Altersheimen beispielsweise.
Eine Erkenntnis der modernen Trauma-Forschung ist, dass Opfer in der Regel erst drei oder vier Jahrzehnte nach der Traumatisierung in der Lage sind, darüber zu reden. Viele haben diese Zeit tief in ihrem Inneren weggeschlossen, um überhaupt weiterleben zu können.
„Jetzt wird uns erst bewusst, was mit uns geschehen ist. Wir haben ängstlich unsere schrecklichen Erlebnisse in all den Jahren als schwere Last mit uns herumgetragen“, sagte eines der ehemaligen Heimkinder, die ich beim ersten Wiedersehen mit einem alten Gemäuer, in das man es vor dreißig Jahren eingesperrt hatte, begleitete. Offensichtlich ist es vielen der Opfer ein großes Bedürfnis, sich endlich freizureden oder -zuschreiben von jenem Gefüge der Unterdrückung aus Staat, Kirche und Familie, das ihr Leben bestimmt hat. Doch viele ehemalige Heimkinder schämen sich noch immer dafür, dass sie so aufgewachsen sind. Die Schande der Heimerziehung aber haben andere zu verantworten – allen voran die Kirchen, „denn sie haben die Anweisungen gegeben und dieses ganze Elend zugelassen“, wie es ein Opfer in dem irischen Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ formuliert, der die Zustände in irischen Mädchenheimen schildert.
Die Schwestern und Brüder haben auch in Deutschland Kinder für sich arbeiten lassen, auf Feldern, in Wäschereien oder im Moor – „wie Zwangsarbeiter“ beklagen sich die hiesigen Opfer.
Die Kirchen, insbesondere die Orden, haben ihre Haltung und ihr Verhalten teuer bezahlen müssen. Der Traum, dass unter ihrem strengen Regiment eine neue, saubere, kirchentreue Jugend heranwächst, erfüllte sich nicht – weder in Irland noch in Deutschland. Im Gegenteil: Die Kirchen haben an Einfluss und Bedeutung verloren.
Bücher wie dieses wären eine Möglichkeit für die Kirchen, sich mit Fehlern zu konfrontieren und aus der eigenen Geschichte zu lernen. Doch wir wissen: Institutionen fällt es immer schwer, sich mit den eigenen Verfehlungen zu beschäftigen. Den Verantwortlichen für die damaligen Erziehungsmethoden ist gleichwohl zu wünschen, dass sie nicht in einen Abwehrreflex verfallen, sondern die schwierigen Fragen tatsächlich angehen und einen Prozess der gemeinsamen Verarbeitung...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | 1950er • 1960er • Ausbeutung Heimkinder • eBooks • Erziehung fünfziger Jahre • Freistatt • Geschichte • Kindesmissbrauch • Kirchliche Heime • Nachkriegszeit • Ulrike Meinhof |
ISBN-10 | 3-641-28176-8 / 3641281768 |
ISBN-13 | 978-3-641-28176-2 / 9783641281762 |
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