Die Wiedererfindung der Nation (eBook)

Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
334 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76635-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wiedererfindung der Nation - Aleida Assmann
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Bei Intellektuellen steht der Begriff der Nation unter Generalverdacht. Doch wer sagt denn, dass Nation automatisch ethnische Homogenität und eine 'Volksgemeinschaft' bedeutet, die andere ausschließt? Das ist die Sicht von Rechtsextremen, die den aufgegebenen Nationsbegriff inzwischen für sich erobert haben. Die Friedenspreisträgerin Aleida Assmann ruft dazu auf, die Nation neu zu denken und sie gegen ihre Verächter zu verteidigen.

Die Tabuisierung der Nation hat in Deutschland zu einem Mangel an Aufklärung und Diskussion über Sinn und Rolle der Nation geführt. Aleida Assmanns neues Buch möchte zu einer solchen Debatte anregen: Es plädiert für die Wiedererfindung einer Form von Nation, die sich als demokratisch, zivil und divers versteht und sich solidarisch auf die gewaltigen Zukunftsaufgaben einstellen kann. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist nicht nur in Deutschland ein Problem. Um die aktuelle Krise der Nation auch in anderen Ländern besser zu verstehen, ist es unabdingbar, die Narrative zu untersuchen, mit denen gesellschaftliche Gruppen ihre Vergangenheit, Zukunft und Identität bestimmen. Sie erweisen sich als ein Schlüssel für die Frage, was Nationen spaltet - und was sie wieder zusammenbringen kann.

Aleida Assmann ist Professorin em. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (mit Jan Assmann, 2018).

Einleitung

Die Forschung zum Thema Nation füllt ganze Bibliotheken. Die meisten Bücher handeln von der Geschichte der Nationen oder von ihrer Theorie. Die Fragen und Thesen des vorliegenden Buches gehen in eine etwas andere Richtung. Sie machen auf eine Lücke aufmerksam, die den meisten vielleicht noch nicht einmal aufgefallen ist. Es scheint bisher auch niemand ein solches Buch vermisst zu haben. Ich schon, deshalb habe ich es geschrieben. Als ich einer Freundin in Leipzig von meinem Projekt berichtete, reagierte sie überrascht. Hier ein Auszug aus ihrer Mail vom 8. Mai 2020:

Seit ich weiß, was Du da treibst, entdecke ich Nationalismen auf Schritt und Tritt. Sogar unser sachlicher Bundespräsident hat in seiner heutigen Rede von Patriotismus gesprochen, freilich (zum Glück) einem, dem man nur mit zerrissenem Herzen anhängen kann, sagt er. Ich habe mir noch kein eigenes Modell meines Verhältnisses zu Deutschland, einig Vaterland gezimmert, merke aber am deutlichsten an einem Gefühl der Betroffenheit und (gewöhnlich nicht unmittelbar begründbarer) Mitverantwortung, dass ich dazugehöre. Kürzlich las ich, dass Grillparzer 1849 «Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität» gesprochen hat – wie klug vorausschauend – oder zeitdiagnostisch? Napoleon lag da bereits hinter ihm. Im Leipziger Stadtrat hat sich jüngst die Grüne Partei mit dem Antrag durchgesetzt, die Ernst-Moritz-Arndt-Straße innerhalb eines Ensembles von zeitgenössischen Poeten und politischen Denkern seiner Zeit umzubenennen (in Hannah-Arendt-Straße!) wegen Nationalismus und Antisemitismus.

Das Beispiel zeigt, dass kluge, geschichts- und DDR-erfahrene Menschen in diesem Land höchst sensibel auf das Wort ‹Nation› reagieren und sofort ein Abgleiten in Nationalismus und Nationalsozialismus befürchten. Wer A (Nation) sagt, so die Logik dieses Reflexes, wird sicher bald B (Nationalismus) und schließlich vielleicht auch C (Nationalsozialismus) sagen. Ich schätze diese Empfindlichkeit sehr; zeigt die Reaktion doch so etwas wie einen Impfschutz gegen die Krankheit des Nationalismus. Während die einen hypersensibel sind und sich deshalb jeden Gedanken an die Nation verbieten, gibt es aber leider viele andere, die hier keinerlei Hemmungen haben, sondern vollauf damit beschäftigt sind, die Nation wieder nationalistisch umzudeuten und sie für ihre Zwecke anzueignen. Vor diesem Hintergrund scheint mir die Abstinenz gegenüber dem Nationsbegriff eher ein Problem zu befördern als die Lösung dieses Problems zu sein. Das Buch, das keinem fest etablierten Diskurs verpflichtet ist, möchte diesen verlassenen Raum zurückgewinnen und zum Nachdenken anregen. Die Kapitel können dabei auch als einzelne Essays gelesen werden. Sie stellen Argumente und Analysen aus unterschiedlichen Disziplinen bereit, die das unübersichtliche Feld neu vermessen und für eine Selbstaufklärung hilfreich sein könnten.

Durch die unterschiedlichen Themen der folgenden Kapitel zieht sich ein klarer roter Faden. Das ist die These, dass es enge Verbindungen gibt zwischen Staatsform, Nation und Narrativ. Die Beschaffenheit und der Wandel einer Nation und ihrer Staatsform lassen sich deshalb besonders klar am Wandel ihrer Narrative und an der Auseinandersetzung mit ihnen ablesen. Damit stellt sich zugleich die Frage nach der Auswahl und Deutung identitätsbildender historischer Ereignisse und nach der Dynamik von Erinnern und Vergessen im Wandel der Geschichte.

Deutschland steht gerade an einem historischen Wendepunkt, wo sich durch die Aufnahme von Einwanderern der Fundus dieses Gedächtnisses deutlich verschieben wird. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereiten wir uns auf eine Situation vor, in der die Zeitzeugen des Holocaust nicht mehr in Schulen, an Gedenkstätten und zu Jahrestagen auftreten werden. Gleichzeitig haben nachwachsende Generationen nur noch sehr verschwommene Vorstellungen von der deutschen Geschichte. Darin unterscheiden sich die neu Zugewanderten nicht mehr wesentlich von jungen Menschen, die in einheimischen und in Migrantenfamilien aufgewachsen sind. Der Fundus des nationalen Gedächtnisses löst sich an diesem Punkt aber nicht einfach auf, sondern wird einerseits an Jahrestagen für die Inszenierung der Nation und ihrer Demokratie wiederaufbereitet und andererseits zur Beute derer, die historische Mythen hemmungslos für ihre nationalistischen Zwecke ausschlachten. Was die eine Seite würdigt und reaktiviert, wird von der anderen Seite entwertet und vergessen. Und umgekehrt. Auf diese Weise erlebt die Gesellschaft gerade ein Verwirrspiel und den Verlust klarer Orientierung.

Hier nur einige Beispiele. Im Prospekt ‹Deutscher Buchdienst› vom Frühjahr 2020 kann man die zweibändige Deutsche Volksgeschichte von Adolf Helbok (1883–​1968) bestellen. Seit 1924 war der Autor Herausgeber der Zeitschrift Volk und Rasse. 1933 trat er in die NSDAP ein, im gleichen Jahr erklärte er die «völkische Blutsgemeinschaft» zum Subjekt der Geschichte. Ab 1950 hatte er Berufsverbot. Jetzt werden «die umfangreichen Forschungsergebnisse» des «Ordinarius für Geschichte, Volksforschung und Siedlungsgeschichte» wieder aufgelegt. Von Werner Symanek kann man ein Buch bestellen, in dem er erklärt, warum Hitler die Wehrmacht aus purer Notwehr am 1. September 1939 in Polen einmarschieren ließ, und es gibt weitere Titel zum Vorgang der «Umvolkung». Daneben kursieren heute massenhaft Fake News in den sozialen Medien, die sich mit viraler Geschwindigkeit ausbreiten. Es gibt Webseiten, auf denen nicht nur Hans und Sophie Scholl, sondern auch Anne Frank zum Kampf gegen Islamisierung aufrufen. Auf anderen werden Aufkleber angeboten, die die Buchstaben «AfD» in einem Judenstern vor dem Hintergrund einer KZ-Streifen-Uniform zeigen. Die Unterschrift lautet: «Heute sind die Andersdenkenden die Juden (…) Wir können nur mahnen: Wehret den Anfängen!» All das konnte man sich in Deutschland bis vor kurzem noch nicht vorstellen. Das war jedenfalls nicht die Welt, in die ich aufwuchs, und es war auch nicht die Welt, in die meine Kinder aufwuchsen. Aber es ist jetzt die Welt, in die meine Enkel aufwachsen.

Das, woran man sich während des Nationalsozialismus erinnert hatte und was längst aussortiert worden war oder von selbst ins Vergessen zurücksank, wird gerade wieder hochgeholt, neu drapiert und als Gegengedächtnis aufbereitet. Das ist eine neue Stufe in der andauernden Auseinandersetzung in der deutschen Gesellschaft um die nationale Erinnerung. Sie vollzieht sich als ein Deutungskampf, der mit dem Brechen von Tabus und Formen der Desinformation einhergeht, um die Legitimität der liberalen Demokratie und der Europäischen Union gezielt zu untergraben. Verständlicherweise werden heute an den Schulen ein kritischer Umgang mit sozialen Medien und eine feste Etablierung des Faktenwissens gefordert. Doch das pure Wissen über Ereignisse und Jahreszahlen bleibt abstrakt, wenn nicht auch die damit verbundenen nationalen Narrative in die Selbstaufklärung einbezogen werden. Damit meine ich den emotionalen Bodensatz dieser Geschichte in der diffusen Gestalt eingefleischter Haltungen, eingeprägter Bilder, Texte und halbbewusster Vorstellungen, die die nationale Imagination gesteuert haben und sich über unterschiedliche Metamorphosen nationaler Identitäten hinweg gehalten haben – auch über den Wandel von Staatsformen hinweg. Dieses Buch versteht sich als eine Anleitung zur Selbstaufklärung über den verwickelten Fundus des deutschen nationalen Gedächtnisses mit dem Ziel, klarer unterscheiden zu können, welche Bestände sich wie und warum als toxisch erwiesen haben, welche weiterhin zu beerben sind und welche erneuert werden müssen. In einem Betrieb nimmt man sich dafür einmal im Jahr einen Tag Zeit und nennt das ‹Inventur›. Dieses Buch unternimmt eine solche Inventur des deutschen nationalen Gedächtnisses.

Das erste Kapitel enthält die These. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Thema ‹Nation› im akademischen Diskurs seit geraumer Zeit kein aktuelles Forschungsthema mehr ist, frage ich nach den Gründen für die Abstinenz gegenüber dem Thema. Ein wichtiger Grund ist der, dass in der Forschung die Trennlinie zwischen demokratischer Nation und nicht-demokratischer Nation nicht klar gezogen wird. Also lieber die Nation gleich ganz fallenlassen, um zu vermeiden, dass man auf der falschen Seite landet. Im zweiten Kapitel werden Begriffe und Konzepte vorgestellt, die es ermöglichen, neu über den Zusammenhang von Kultur, Nation und Identität nachzudenken. Dafür wird die Geschichte der Neubestimmung des Identitätsbegriffs in den letzten 40 Jahren rekapituliert. Daran schließt sich das dritte Kapitel über Konstruktionsformen nationaler Narrative an, in dem der Horizont...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Reihe/Serie Beck Paperback
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aleida Assmann • Begriffsfindung • Debatte • Demokratie • Gesellschaft • Nation • Politik • Solidarität • Zivilgesellschaft
ISBN-10 3-406-76635-8 / 3406766358
ISBN-13 978-3-406-76635-0 / 9783406766350
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