Nie, nie, nie (eBook)
256 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-7085-1 (ISBN)
LINN STRØMSBORG, geboren 1986, debütierte 2009 mit dem Roman >Roskilde<. Seitdem hat die Autorin vier weitere Romane geschrieben. Bei DuMont erschien 2021 der hochgelobte Roman >Nie, nie, nie<.
MÜTTER
Meine Großmutter hat mit siebzehn geheiratet. Zusammen mit meinem Großvater bekam sie vier Kinder, und irgendwann wanderten die beiden nach Altea aus, eine Küstenstadt in Spanien. Sie leben dort, so lange ich mich erinnern kann. Meine Mutter spricht selten von ihnen, aber ab und zu kommt eine Postkarte, an Weihnachten und Geburtstagen auch mal ein Paket, das wir dann von der Post abholen müssen. Die beiliegenden Karten sind mit der akkuraten Schreibschrift meiner Großmutter versehen, zu mehr als Herzlichen Glückwunsch, Fröhliche Weihnachten oder Frohes Neues Jahr reicht es allerdings selten. Ich weiß, dass meine Großmutter malt und dass mein Großvater gern liest, aber das war’s auch schon. Als Teenager wollte ich sie unbedingt mal in Spanien besuchen, ein halbes Jahr lang lag ich meinen Eltern damit in den Ohren, aber sie ließen sich nicht erweichen, auch nicht, als ich ihnen vorschlug, selbst für den Flug zu bezahlen. Damals verstand ich nicht, dass meine Großeltern keinen Besuch wollten, nicht von mir, von keinem von uns. Sie haben viele Freunde, aber Kinder waren nie ihr Ding. Als ich klein war, habe ich meine Mutter mal gefragt, warum meine Großeltern Enkelkinder hatten, wenn sie ihnen vollkommen egal waren. »Aus dem gleichen Grund hab ich mich gefragt, warum sie überhaupt Kinder bekommen haben«, antwortete meine Mutter leise und dann, etwas lauter, meine Großeltern hätten einander, und das sei ihnen genug.
Meine andere Großmutter hatte sich immer Kinder gewünscht. Nach ihrer Hochzeit mit neunzehn malte sie sich aus, dass sie fünf kriegen würde. Die Fünf würden sich ein Zimmer teilen müssen, denn für ein größeres Haus fehlte das Geld, aber sie würden sich alle gut verstehen und eine glückliche Familie sein. In der oberen Etage schufen Oma und Opa ein zusätzliches Zimmer, indem sie im Wohnzimmer eine Wand einzogen, aber es stand viele Jahre lang leer – es kamen nämlich keine Kinder. Das leere Zimmer wurde zu einer Last, zur ständigen Erinnerung an Kinder, die nicht geboren wurden. Deshalb füllte meine Oma es mit Dingen, sie kaufte feines Geschirr für besondere Anlässe, das sie aber nie benutzte, Dekorationsgegenstände, die zu kostbar und zerbrechlich waren, um sie offen zu präsentieren. Das auf Hochglanz polierte Silber verstaute sie in einer Kommode, den Festtagsschmuck in sorgfältig beschrifteten Schachteln. An Weihnachten und Ostern, im Sommer und im Winter dekorierte sie sorgfältig das Haus, obwohl Opa und sie allein dort lebten. Im Sommer verreisten sie, fuhren mit dem Campingwagen quer durchs Land, tranken Kaffee aus Thermoskannen, posierten bei strahlendem Sonnenschein vor Schneewällen im Fjell, angelten – ohne Erfolg – und sonnten sich auf Campingplätzen, während um sie herum etliche Familien für die klangliche Untermalung des Urlaubs sorgten. Morgens wurden sie von spielenden Kindern geweckt. Oma stand auf und machte Kaffee, brachte Opa eine Tasse ans Bett, setzte sich anschließend vor den Wohnwagen und sah den Kindern aus den Nachbarwohnwagen bei deren Klatschspielen zu.
»Wir hätten es verdient, ein Kind zu bekommen«, sagte sie zu Opa.
»Ich weiß«, sagte er.
Die Jahre vergingen, und es kam kein Kind. Oma fand sich damit ab, dass sie niemals Mutter werden würde, da war nichts zu machen. Die zahlreichen Untersuchungen waren erniedrigend, die Ärzte konnten nichts finden. Bei manchen Frauen funktioniere es eben nicht, hieß es. Von den Nachbarskindern wurde Oma trotzdem heiß und innig geliebt. Die Tür zu dem Reihenhaus, in dem Opa und sie seit vielen Jahren lebten, stand jederzeit offen. In der Küche im Erdgeschoss tummelten sich ständig Kinder, die wussten, dass sie hier willkommen waren. Sie kamen auf einen Plausch, eine mit Sirup bestrichene Brotscheibe, ein Glas Wasser mit Eiswürfeln, manchmal auch auf einen Saft. Mit baumelnden Beinen saßen sie am Küchentisch, an dem schon immer vier Stühle gestanden hatten, auch wenn Oma und Opa nur zu zweit waren und selten Freunde zum Essen einluden, aßen Weißbrot und erzählten Oma von ihrem Tag. Draußen im Garten durften sie Flieder pflücken, und irgendwann schlängelte sich am Küchenfenster ein Trampelpfad vorbei, weil sie lieber einen Schleichweg nahmen, als das gesamte Haus zu umrunden.
Dann kam mein Vater.
Spät, fast zwanzig Jahre nach der Hochzeit, und trotzdem genau richtig. Jetzt waren sie zu dritt, und der Raum neben dem Wohnzimmer wurde leer geräumt und neu eingerichtet – anfangs mit einer Wiege, dann mit einem Bett, einem Schreibtisch, einem Kleiderschrank, einer Kommode. Zu den Campingurlauben kam erst ein Baby mit, dann ein Kleinkind und schließlich ein Junge, der mit seinem Vater angeln ging und mit seiner Mutter Bücher las. Sie fuhren kreuz und quer durch Norwegen, von Süden nach Norden und wieder zurück, durch Wälder und Tunnel, machten Familienbesuche und zeigten allen stolz ihren Jungen, der endlich auf der Welt war.
In dem Garten mit dem Trampelpfad habe ich meine ersten Schritte gemacht. In Papas altem Bett, in dem Zimmer im Zimmer, habe ich lesen gelernt. Auf der Treppe zur Küche, die nie abgeschlossen war, stach mich zum ersten Mal eine Wespe. Meine erste Grippe bekam ich an Weihnachten, ich lag in Omas Bett, während die anderen aßen und Geschenke auspackten.
»Woher hast du gewusst, dass du Kinder willst?«, habe ich Oma mal gefragt. Wir saßen draußen unter den Fliederbüschen.
»Ich wusste es einfach«, sagte sie mit Sonnenhut über der Dauerwelle.
»Aber woher weiß man, dass man’s weiß?«
»Keine Ahnung. Ich wusste es, als ich deinen Opa traf. Ich wusste, dass er der Richtige war. Und ich wusste, dass ich Kinder mit ihm will, viele Kinder.«
»Aber du hast nur Papa gekriegt?«
»Stimmt, aber ich hätte mir keinen besseren Sohn wünschen können«, sagte sie. »Und keine bessere Enkelin.« Sie nahm meine Hand, ihre weiche, runzelige Haut kühlte meinen Sonnenbrand.
»Willst du noch Saft?«
»Ja, bitte.«
Meine Mutter war neunzehn, als sie mich bekam. Sie hatte meinen Vater in der Oberstufe kennengelernt, und kurz nach dem Abi wurde sie schwanger. Sie fuhren zu seinen Eltern und erzählten ihnen, was los war. Opa stand auf und verließ das Zimmer, aber Oma nahm die Hand meiner Mutter und versprach ihr, auf sie aufzupassen. Und auf mich. Während der Schwangerschaft arbeitete meine Mutter als Sekretärin. Jeden Morgen fuhr sie mit dem Bus in die Stadt, unter ihren Kleidern wuchs ihr Bauch, und in ihrem Bauch wuchs ich. Mein Vater war damals Fahrradkurier, und als der Anruf kam, dass die Wehen eingesetzt hätten, war er gerade unterwegs nach Smestad, mit einem Paket, das nie ausgeliefert wurde. Stattdessen brachte er das Paket mit ins Krankenhaus, wo er ins Foyer stolperte und nach meiner Mutter fragte. Im Kreißsaal fiel er ihn Ohnmacht, war aber rechtzeitig wieder bei Bewusstsein, als sie mich rausholten, meiner Mutter in den Arm legten und sagten, jetzt sei er Vater. Ich wurde um zehn vor vier geboren, hatte zehn Finger und zehn Zehen, die Nase meines Vaters und die Augen meiner Mutter. Oma war die Erste, die uns besuchen kam. Seit sie wusste, dass ich auf dem Weg war, hatte sie Babysachen gestrickt, und Opa hatte für uns eine Wohnung gemietet. »Ihr könnt jetzt nicht mehr in dieses winzige Loch zurück«, sagte er, als er mit uns direkt aus dem Krankenhaus in die neue Wohnung fuhr und die Tür aufschloss. Dann bat er meinen Vater hinein.
Unsere Wohnung lag im Stadtteil Tøyen, hatte zwei Zimmer, Dachschrägen, ein kaputtes Fenster, und es gab genug Platz für drei. Meine Mutter hatte es nicht mehr so weit ins Büro – nachdem mein Vater seine Karriere als Fahrradkurier an den Nagel hängte, fand auch er eine Arbeit in der Nähe –, und mit der U-Bahn war man schnell bei Oma und Opa.
Ich habe keine Erinnerungen an die Wohnung. Als wir dort auszogen, war ich gerade mal drei, aber meine Mutter hat mir gezeigt, wo sie liegt. Heute wohne ich knapp zweihundert Meter entfernt, schaue oft zu den Fenstern hoch und denke, da oben haben wir mal gelebt, Mama, Papa und ich. Sie waren erst zwanzig, und während sie schuften mussten, um uns über Wasser zu halten, wuchs ich von einundfünfzig Zentimetern auf einen Meter heran. Als Opa starb, war ich noch klein. Mein Vater hatte ihn jeden Tag im Krankenhaus besucht, bis dort schließlich niemand mehr war, den er besuchen konnte. Ich weiß noch, dass die Beerdigung im Winter stattfand, alle waren sehr traurig. Ich hatte meinem Vater ein Bild gemalt, um ihn aufzuheitern, heute hängt es bei meiner Mutter. Als mein Vater starb, war ich zwanzig, und es gab niemanden, der mich mit einem Bild aufheitern wollte.
Meine Mutter wohnt allein in dem Haus, in dem ich groß geworden bin. Seit meinem neunzehnten Geburtstag strickt sie Babysachen.
Wäre ich im selben Alter schwanger geworden wie sie, hätte ich heute ein fünfzehnjähriges Kind. Vielleicht wäre es auch in Tøyen aufgewachsen und von einer strickenden Großmutter verwöhnt worden, die Anekdoten von mir als Kind erzählt hätte, so, wie Oma mir früher von meinem Vater erzählt hat.
Mutter bleibt man ein Leben lang, sagt meine Mutter. Du hörst nie auf, Mutter zu sein. Vom Tag deiner Geburt bis zu dem Tag, an dem ich sterbe, werde ich immer deine Mutter gewesen sein.
Ich bin fünfunddreißig. Ich will keine Kinder.
Der Erste, der ein Kind mit mir wollte, ging an die Decke, als ich ihm erklärte, dass ich keine Kinder will. »Bist du dir sicher?«, fragte er. »Ganz sicher.« – »Das kannst du noch gar nicht wissen«, sagte er, »du bist total unreif«, schrie er, »du weißt gar nicht, was dir alles entgeht«, heulte er. Ein paar Monate später trennten wir uns. Unser...
Erscheint lt. Verlag | 12.4.2021 |
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Übersetzer | Stefan Pluschkat |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Aldri, aldri, aldri |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abweichen • Anderssein • auf sich konzentrieren • Baby • Beziehungsroman • Biologische Uhr • buch über frauen ohne kinder • Die Uhr tickt • ein leben ohne kinder • Eltern werden • Empowerment • Feministischer Roman • geboren 1982 • Gegen den Strom schwimmen • gesellschaftliche verpflichtungen • Gesellschaftsroman • gewollte kinderlosigkeit • Großstadtroman • Identitti • keine kinder • Keine Kinder bekommen • keine kinder haben • kinderlos bleiben • kinderlos glücklich • Kind kriegen • möchte keine kinder • Mutterschaft • Mutter werden • nicht eingehen • nicht-muttersein • nie ein Kind • nie genug • nie mehr • nie Mutter werden • nie nie nie • Nie wieder • Nie zu spät • oder nie • ohne kinder leben • Rachel Cusk • Regretting Motherhood • sally rooney • Selbstbestimmung • Sheila Heti • Skandinavien • Stellung beziehen • stromsborg • strömsborg • von der norm abweichen • was Frauen wollen • was nie • Weltfrauentag • wie es nie war |
ISBN-10 | 3-8321-7085-5 / 3832170855 |
ISBN-13 | 978-3-8321-7085-1 / 9783832170851 |
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