Deutschland und die Migration (eBook)

Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen
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2020 | 1. Auflage
281 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961822-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Deutschland und die Migration -  Maria Alexopoulou
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Deutschland hat sich lange dagegen gesträubt, ein Einwanderungsland zu sein, zum Teil tut es das bis heute. Dabei waren nicht-deutsche und nicht als deutsch wahrgenommene Migrant*innen in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert ständig präsent - von den 'Wanderarbeitern' aus Polen und Italien im Kaiserreich über die 'Gastarbeiter' in der alten Bundesrepublik bis zu den Schutzsuchenden aus aller Welt heute. Deutschland hat sich über viele Jahrzehnte zu einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft gewandelt und muss sich mit dieser Realität auseinandersetzen. Die Historikerin Maria Alexopoulou erzählt diese vernachlässigte und von strukturellem Rassismus durchzogene Facette der deutschen Geschichte, indem sie die Perspektive derjenigen einnimmt, die längst dazugehören und dennoch immer wieder Ausgrenzung erfahren.

Maria Alexopoulou ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Sie ist Mitglied im Rat für Migration e. V. und hat am Drehbuch des Dokumentarfilms  'Man lebt nicht nur vom Brot allein' (2005) über Gastarbeiter*innen in Deutschland mitgewirkt.

Maria Alexopoulou ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Sie ist Mitglied im Rat für Migration e. V. und hat am Drehbuch des Dokumentarfilms  "Man lebt nicht nur vom Brot allein" (2005) über Gastarbeiter*innen in Deutschland mitgewirkt.

Einleitung
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft
Verflochtene Geschichten
Gegengeschichten

Vor der ›Stunde Null‹ – Migrationen, Herkunftshierarchien und die Geburt der "Volksgemeinschaft"
Imperiale Verhältnisse
Die "deutsche Volksgemeinschaft" formiert sich – Die Weimarer Republik
Ausländer im "Dritten Reich"

Die ersten Ausländer der Bundesrepublik
Die ›Stunde Null‹: Displaced Persons in Mannheim
"Heimatlose Ausländer"
Das Machen der ›Stunde Null‹

Die ›Gastarbeiter‹ sind da!
Wer waren die ›Gastarbeiter‹?
Das System ›Gastarbeit‹
Keine neuen Deutschen!

Die Geburt des "ausländischen Mitbürgers" und des "Scheinasylanten"
Die Ausländer
Von ›Gastarbeitern‹ zu "ausländischen Mitbürgern"
Die "Scheinasylanten"

Konjunktur des Rassismus und der Kampf um Rechte
"Ausländerfeindlichkeit"?
Auf der anderen Seite der Mauer
"Wir sind auch das Volk!"

Einwanderungsgesellschaft wider Willen
"Das Fest des deutschen Mitbürgers"
Solidarität
Das Versprechen der Demokratie

Anmerkungen

Die deutsche »Volksgemeinschaft« formiert sich – Die Weimarer Republik


Dem Wegfall großer Gebiete des ehemaligen Kaiserreichs nach dem Ersten Weltkrieg folgten große Migrationsbewegungen, die die Nachkriegszeit und die Anfänge der Weimarer Republik stark mitprägten.1 Unter den Neuankömmlingen waren die sogenannten »Grenzlandvertriebenen«, also Reichsbürger*innen, die aus Elsass-Lothringen ins Rheinland und nach Baden kamen, sowie preußische Staatsbürger*innen, die aus den Ostgebieten ins nun geschrumpfte Preußen einwanderten.

Hinzu kamen weitere ›Deutschstämmige‹ aus dem ehemaligen Habsburgerreich oder deutsche Kolonist*innen aus polnischen und russischen Gebieten. Letztere, die »Russlanddeutschen«, waren schon Jahre zuvor als mögliche Rücksiedler ins Visier der Politik gerückt. Man hatte erwogen, sie an den östlichsten Grenzen des Reichs anzusiedeln, um die auslandspolnischen Arbeitsmigrant*innen in der Landwirtschaft zu ersetzen, wie es auch Max Weber empfohlen hatte.

Für die Russlanddeutschen sowie all jene ›Deutschstämmigen‹, die nach der Neuordnung Europas automatisch oder auf Wunsch Staatsbürger*innen anderer Staaten wurden, kam in jener Zeit der Begriff des »Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit« auf. Mit dem »Volksdeutschen« betrat eine wirkmächtige Figur die migrationshistorische Bühne, die noch bis in die 1990er Jahre bedeutsam bleiben sollte.

Neben etwa einer Million Einwanderer*innen, die als deutsch galten, hielten sich zahllose Migrant*innen oder Transmigrant*innen damals in Deutschland länger oder auch nur kurzzeitig auf. Das waren ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen, Menschen, die nach der Russischen Revolution 1917 ins Exil gegangen waren, und zahlreiche osteuropäische Jüdinnen und Juden, die vor Pogromen in ihren Heimatorten flohen. Zudem kamen weiterhin Arbeitsmigrant*innen aus dem Osten und dem Süden Europas nach Deutschland, auch wenn ihre Zahl die Viertelmillion wegen der Nachkriegswirren und der späteren Weltwirtschaftskrise nie überschritt und sie größtenteils nur in der Landwirtschaft tätig waren.

1927 wurde dennoch das erste Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und dem neuen polnischen Staat geschlossen, das die saisonale Arbeitswanderung aus Polen regelte. Bilaterale Anwerbeabkommen lagen ganz im Trend der Zeit, zumal in Europa unter der Federführung Frankreichs seit 1919 zahlreiche derartige Abkommen geschlossen wurden und Institutionen wie die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, entstanden.

In Deutschland traten parallel dazu die nunmehr erstarkten Gewerkschaften auf den Plan und setzten mit dem »Inländervorrang« ein Arbeitsmarktinstrument durch, das das Arbeitsmigrationsregime bis in die Gegenwart hinein prägt: Zwar sicherte es den ausländischen Arbeitsmigrant*innen eine tarif- und arbeitsrechtliche Gleichstellung, die ihnen selbst zugutekam, doch primär sollte es die deutschen Arbeiter*innen vor billigerer Konkurrenz schützen. Deutsche hatten als Bewerber*innen stets Vorrang, und eine Stelle konnte erst dann mit einem Ausländer besetzt werden, wenn keine Deutschen dafür zur Verfügung standen.

1922 übernahm das Reichsarbeitsministerium die Steuerung der Arbeitsmigration, und seitdem wurde die Ausländerpolitik noch effizienter an der konjunkturellen Lage der Volkswirtschaft ausgerichtet. Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse wurden an den jeweiligen örtlichen Bedürfnissen oder den aktuellen politischen Vorgaben orientiert und grundsätzlich nur für ein Jahr erteilt, vor Ort oblag den Polizeibehörden die Umsetzung und Überwachung der Vorgaben. Die Arbeitsmigrant*innen wurden somit zu einer berechenbaren ökonomischen Größe, die je nach Interessenlage gezielt eingesetzt und deren Anzahl nach Belieben vergrößert oder verkleinert werden konnte, eine Variable in einem Verwertungskalkül, das ganz auf die Bedarfe der deutschen Volkswirtschaft und des deutschen Arbeitsmarktes samt ›seiner‹ Arbeiterschaft – die auch die deutsche Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie am meisten interessierte – ausgerichtet werden konnte. Die Verzahnung von prekärem Aufenthaltsrecht mit nur auf den ersten Blick egalitäreren arbeitsrechtlichen Bestimmungen schrieb die Rolle von Arbeitsmigrant*innen institutionell fest: eine stets verfügbare, zweitklassige Arbeiter*innenschicht.

Während der Weimarer Republik ermöglichten diese Steuerungsinstrumente dem Reichsarbeitsministerium, die Beschäftigung bestimmter Ausländergruppen aus »wirtschaftlichen, kulturellen und bevölkerungspolitischen Gründen« abzubauen. Beispielsweise wurden feste Kontingente für Landwirtschaftsarbeiter*innen aus Polen – ca. 100 000 pro Jahr – auch gegen die Wünsche einiger Bundesländer und des Reichsernährungsministeriums eingeführt. Der Plan, der teilweise verwirklicht wurde, war, sie mit ›deutschstämmigen‹ Landarbeiter*innen (auch solchen, die nur saisonal aus dem Ausland kamen) zu ersetzen und, so der zuständige Abteilungsleiter im Reichsarbeitsministerium im Jahr 1928, »die gesamte Öffentlichkeit dahin« zu erziehen, »die Beschäftigung von Ausländern in solch hoher Zahl als etwas Unerträgliches zu betrachten«.2 Im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren schloss sich der Arbeitsmarkt für ausländische Arbeitsmigrant*innen ohnehin weitgehend. Damals lebten in Deutschland verstreut nur noch einige tausend ausländische Facharbeiter*innen, die schon länger dort ansässig gewesen waren, meist Österreicher*innen oder Niederländer*innen sowie kleinere Kolonien von Italiener*innen.

Es gab freilich auch noch die alte polnisch-deutsche Gemeinde. Nach dem Krieg war allerdings ein beträchtlicher Teil der Ruhrpolen in den neuen Staat Polen migriert, woraufhin auch die nationalpolnischen Aktivitäten zurückgegangen waren. Andere hatten während des Ersten Weltkrieges, in dem sie als »feindliche Ausländer« gegolten hatten, schlechte Erfahrungen gemacht und waren dann nach Frankreich ausgewandert. Diejenigen, die blieben, standen zwar in den nächsten Jahren nicht mehr so stark im Fokus der Behörden. Dass sie als Gruppe aber weiterhin diskriminiert wurden, legen beispielsweise die Berichte ruhrpolnischer Schulkinder aus jener Zeit nahe.

Die Eltern hätten ihre Kinder trotz guter Leistungen nicht aufs Gymnasium geschickt, da sie sie nicht den Schikanen und dem Hass der Mitschüler*innen und der Lehrkräfte aussetzen wollten. Der Grad der Diskriminierung sei mit dem Grad des schulischen Aufstiegs gewachsen, berichteten Zeitzeug*innen in lebensgeschichtlichen Interviews Ende der 1980er Jahre. Aber auch auf der Volksschule erlebten die Kinder, die oft nur noch am Namen als polnischstämmig zu erkennen waren, Ungleichbehandlung und systematische Herabwürdigungen.

So erzählte eine Frau, im Unterricht sei gelehrt worden, dass die Polen minderwertig und die Deutschen überlegen seien, was etwa am Vergleich der deutschen Wohnkultur mit den »Erdhütten« der Polen veranschaulicht wurde. Rosalia Czerwonek erzählte weiter: »Das war der Kulturmensch und das war hier der dumme, dreckige Pole aus dem Osten.« Eine andere Frau erinnerte sich an ihren Lehrer wie folgt:

Der […] hat mich dauernd getriezt. Der hat nur: ›Du kleiner Pollack! Du Zwerg! […] also so ungefähr, daß ich ›degeneriert‹ wär. Den Ausdruck kannte ich damals nicht. Aber ich habe kapiert, was er damals meinte. Ich war eine minderwertige Rasse.3

Zur gleichen Zeit wurden die masurischen Ruhrpolen Ernst Kuzorra und Fritz Szepan deutsche Fußballidole und der in den Anfängen als »Polacken- und Proletenverein« geltende FC Schalke 04 zum Inbegriff des Reviers. Szepan und Kuzorra traten als Masuren, die als ›deutschstämmig‹ galten, später sogar der NSDAP bei, während politisch oder kulturpolitisch aktive »polnische« Ruhrpolen im »Dritten Reich« verhaftet, interniert und vielfach ermordet wurden. Dank ihrer jahrzehntelangen Anwesenheit war diese Einwanderer*innengruppe, die freilich recht heterogen war und sich im Laufe ihrer Existenz auch stetig transformierte, schon längst zu einem integralen Bestandteil des Ruhrgebiets geworden. Gleichwohl schützte sie das, solange sie noch als Pol*innen erkennbar blieben, weder vor Diskriminierungen noch vor Verfolgung.

Die polnischen Jüdinnen und Juden, von denen 1925 etwa 90 000 in Deutschland lebten, bildeten gewissermaßen eine Randgruppe in der polnischen Einwanderer*innen-Gemeinde. Erst während des Ersten Weltkrieges wurden sie unter der Bezeichnung »Ostjude« zum Inbegriff des Ausländers. Dass man besonderes Augenmerk auf diese Gruppe legte, hatte viele Ursachen: die deutsche Besatzung Polens im Krieg, den massenhaften Einsatz von osteuropäischen Jüdinnen und Juden als Zwangsarbeiter*innen während dieser Zeit und die Tatsache, dass viele sozialistische Revolutionär*innen in Deutschland wie Rosa Luxemburg als »Ostjüdinnen« dargestellt wurden.4 Die meisten osteuropäischen Juden und Jüdinnen hielten sich als unerwünschte Flüchtlinge oder Einwanderer*innen auf einer »gestoppten Durchwanderung« in Berlin auf und trugen dort zum modernen, transkulturellen Flair der Stadt bei, das bis heute als Atmosphäre der »Goldenen Zwanziger« bisweilen überhöht wird.5

Unter dem Deckmantel der Feindschaft gegen »Ostjuden« ließ sich auch der gegen deutsche Jüdinnen und Juden gerichtete Antisemitismus gut verbergen. Die Frühphase der Weimarer Republik hatte »eine...

Erscheint lt. Verlag 13.11.2020
Reihe/Serie Originalausgabe
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Deutschland Ausgrenzung • Deutschland Ausländer • Deutschland Diskriminierung • Deutschland Diversität • Deutschland Einwanderer • Deutschland Einwanderungsland • Deutschland Gastarbeiter • Deutschland Hugenotten • Deutschland Immigranten • Deutschland Integration • Deutschland Multikulti • Deutschland Parallelgesellschaft • Deutschland Rassismus • Deutschland Toleranz • Deutschland Vielfalt • Deutschland Zuwanderung • Einwanderungsland Deutschland • Flüchtlingsland Deutschland • Geschichte der Einwanderung Deutschland • Migrationsgeschichte Deutschland • Ruhrpolen • Volksdeutsche • Wolgadeutsche
ISBN-10 3-15-961822-6 / 3159618226
ISBN-13 978-3-15-961822-7 / 9783159618227
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