Die Darm-Hirn-Connection (Wissen & Leben) (eBook)
364 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12077-6 (ISBN)
Prof. Dr. med. Gregor Hasler ist ordentlicher Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg in der Schweiz, Chefarzt und Leiter der psychiatrischen Forschungsabteilung des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit. Seine Forschungsschwerpunkte sind neurowissenschaftliche Psychiatrie, bio-psycho-soziale Interaktionen, Stress, Depression und Essstörungen. Haslers vielfältige wissenschaftliche Publikationen wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.
Prof. Dr. med. Gregor Hasler ist ordentlicher Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg in der Schweiz, Chefarzt und Leiter der psychiatrischen Forschungsabteilung des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit. Seine Forschungsschwerpunkte sind neurowissenschaftliche Psychiatrie, bio-psycho-soziale Interaktionen, Stress, Depression und Essstörungen. Haslers vielfältige wissenschaftliche Publikationen wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.
Der Vagus-Nerv: Beruhigende Darm-Kommunikation
mit Sigrid Breit und Aleksandra Kupferberg
Der Vagus-Nerv ist ein wichtiger Teil der Darm-Hirn-Connection. Er arbeitet mit vielen anderen Nerven zusammen, die man die »nervliche Darm-Hirn-Achse« nennt. Darm- und Stresshormone sowie das Immunsystem sind andere wichtige Teile. Doch diese sind deutlich langsamer. Beim Sezieren der Leiche im Anatomie-Unterricht beeindruckte mich der Vagus-Nerv besonders, weil er in zahlreichen Windungen durch den gesamten Körper wandert. Das Halten dieses Nervs gab mir ein beruhigendes Gefühl: Darm und Hirn waren miteinander verbunden, und diese Verbindung war nicht nur theoretisch oder spirituell, sondern ganz handfest. Das Berühren und Umfassen dieser Verbindung gab mir die Zuversicht, dass eine Ganzheit aus Körper und Geist möglich ist. Zu meinem glücklichen Erstaunen stellte ich viele Jahre später fest, dass dieser Nerv tatsächlich für Vertrauen, Wohlgefühl und Beruhigung zuständig ist.[1]
Der Vagus-Nerv-Stimulator
Eine interessante Fallgeschichte, die im Herbst 2017 in einer renommierten Fachzeitschrift publiziert wurde, zeigt eindrücklich die große Bedeutung des Vagus-Nervs für unsere Verbindung mit uns selbst und unserer Umwelt.[2]
Pierre hatte im Alter von zwanzig Jahren einen katastrophalen Autounfall. Sein Hirn wurde dabei schwer verletzt. Er verlor vollständig die Fähigkeit, mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Selbst wenn seine Mutter seinen Namen rief und ihm liebevoll über die Stirn strich, zeigte er keine Reaktion, nicht einmal das Zucken eines Lides oder die minimale Veränderung der Mimik. Fünfzehn Jahre lang lebte er in diesem Zustand, den man »Wachkoma« nennt. Bereits nach einem Jahr Wachkoma gehen Neurologen von einer sehr schlechten Prognose aus. Das heißt, die Chance wieder zu erwachen, ist verschwindend klein. Besonders gering ist sie, wenn der Kontakt zwischen Thalamus und Hirnrinde vollständig unterbrochen ist. Dies war bei Pierre der Fall. Der Thalamus ist ein Kern im Zentrum des Gehirns, der Empfindungen aus dem Körper und Informationen aus den Sinnesorganen sammelt und an die höheren Zentren des Gehirns in der äußeren Hirnrinde weiterleitet.
Pierre hatte das Glück, dass seine Ärzte ihn nicht aufgaben. Sie hegten die Hoffnung, dass man die Verbindung zwischen Thalamus und Hirnrinde auch nach Jahren des Wachkomas noch verbessern kann. Sie betrachteten den Vagus-Nerv, und damit die Darm-Hirn-Connection, als zentralen Kontakt zur Umwelt und gingen davon aus, dass diese Connection die Voraussetzung dafür ist, dass sich das Hirn nach einer schweren Verletzung neu organisieren kann. Wie bei einem Kind, bei dem die Liebe, und damit die Hirnentwicklung, vorwiegend durch den Darm geht, dachten sie, dass der Vagus-Nerv der Schlüssel zum Erwachen aus dem Koma ist. Deshalb setzten sie Pierre einen Vagus-Nerv-Stimulator ein. Dies ist ein Gerät, das im Brustbereich unter die Haut implantiert wird. Es verfügt über eine Elektrode, die spiralförmig um den Vagus-Nerv gewickelt wird, und einen Stromgenerator, der regelmäßig elektrische Impulse sendet, die den Nerv stimulieren. Ursprünglich wurde diese therapeutische Methode entwickelt, um über den Vagus-Nerv das Hirn von Menschen mit Krampfanfällen zu beruhigen.
Bei Pierre waren die Ärzte besonders vorsichtig, weil es bis dahin keinerlei Erfahrungen gab, wie man ein Koma mit Vagus-Nerv-Stimulation behandelt. Zuerst gaben sie nur sehr geringe elektrische Impulse und sahen keine Wirkung. Dann steigerten sie die elektrische Intensität. Bereits nach einem Monat beobachteten sie mit Begeisterung erste Veränderungen von Pierres klinischem Zustand. Wenn seine Mutter ins Zimmer kam, zeigte er Anzeichen von Wachheit und Erregung. Wenn sie ihm zuwinkte, folgten seine Augen ihren Bewegungen. Er versuchte sich aufzurichten, wenn sie zu ihm sprach. Vor Freude hatte seine Mutter Tränen in den Augen, als sie diesen neuen Zugang zu ihrem Sohn erleben durfte.
Eine Hirnuntersuchung mittels Elektroenzephalogramm (EEG), das elektrische Signale des Gehirns auf der Kopfhaut misst, bestätigte die Veränderungen. Pierres Hirn war allgemein aktiver. Thalamus und Hirnrinde kommunizierten vermehrt. Die größte Zunahme der Hirn-Aktivität fanden die Ärzte in der Inselrinde, dank der wir überhaupt etwas fühlen und erleben können. Die spannende Verbindung zwischen Darm, Inselrinde und bewusstem Erleben erkläre ich ausführlich im dritten Kapitel. Trotz des unerwarteten Erfolgs in Pierres Behandlung bleibt sein Weg zur Gesundung langwierig und unsicher. Sein Beispiel gibt aber Hoffnung, dass wir durch die Beeinflussung der Darm-Hirn-Connection Krankheiten heilen können, die bisher als unheilbar gegolten haben.
Somatisches und vegetatives Nervensystem
Wir unterscheiden ein somatisches und ein vegetatives Nervensystem. Das somatische ist zuständig für die bewusste Wahrnehmung der Umwelt durch Sehen, Hören und Fühlen. Zudem steuert es die absichtlichen Bewegungen der Muskeln. Der Vagus-Nerv hingegen ist ein Teil des vegetativen Nervensystems. Man nennt es auch »viszerales« oder »autonomes Nervensystem«. Viszeral kommt von »viscus«, dem lateinischen Wort für Eingeweide. »Vegetativ« und »viszeral« weisen darauf hin, dass dieses Nervensystem für die inneren Organe zuständig ist, wobei die Verbindungen zum Darm besonders groß sind. »Autonom« wiederum bezieht sich darauf, dass dieses System nicht direkt unserem Willen unterworfen ist. Unsere bewussten Kontrollmöglichkeiten sind schon deshalb eingeschränkt, weil viele vegetative Prozesse unbewusst ablaufen. Wir wissen also gar nichts davon.
Neue revolutionäre Befunde zeigen, dass das vegetative und das somatische Nervensystem viel enger zusammenarbeiten, als man früher gedacht hat. Wenn wir in der Gartenmauer eines Hauses im Tessin eine Schlange sehen, nehmen wir diese vielleicht bewusst wahr. Das braucht Zeit. Ist es eine echte Schlange oder ein Plastikspielzeug oder nur ein Schlauch? Was sind die Merkmale von Giftschlangen? Weil das für eine Notreaktion viel zu langsam geht, aktiviert das Sehsystem auf unbewusstem und sehr schnellem Weg den Mandelkern im Schläfenlappen. Dieser gibt daraufhin reflexartig Impulse an das vegetative Nervensystem weiter. Deshalb weiß der Darm manchmal schneller Bescheid als unser Bewusstsein, dass eine mögliche Lebensgefahr besteht. Übelkeit kommt auf. Unruhe breitet sich in der Magengegend aus. Das bewusste Hirn nimmt erst diese über den Vagus-Nerv vermittelten Darmsignale wahr und beendet unter dem Druck dieses Notrufs die Überlegungen zu den Giftschlangenmerkmalen. Wir treten angsterfüllt ein paar Meter zurück. Doch dann kommt ein Mädchen aus dem Haus gelaufen und lacht: »Die Schlange heißt Linda. Sie ist ganz harmlos. Wir schlafen im gleichen Bett.« Das bewusste Gehirn gibt Entwarnung. Die Kontrollzentren im Vorderhirn befehlen dem Mandelkern runterzufahren. Nun entspannt sich auch der Bauch, und wir kriegen Lust auf die warmen Maroni, die das Mädchen uns hingestellt hat.
Stimulation aus dem Darm
Das vegetative Nervensystem enthält zwei Teile, den Sympathikus und den Parasympathikus. Der Parasympathikus befindet sich vorwiegend im Vagus-Nerv, der die inneren Organe mit dem Hirn verbindet. Der Vagus wird auch als »Hirnnerv« bezeichnet, weil er dem Hirn entspringt und nicht, wie die meisten Nerven, dem Rückenmark. Das belegt seinen direkten Draht zu den obersten Instanzen. Der untere Teil des Dickdarms wird nicht vom Vagus-Nerv bedient, sondern von Nerven aus dem untersten Teil des Rückenmarks, die aus dem Kreuzbein kommen. Weil der Parasympathikus seinen Ursprung ganz oben im Gehirn und ganz unten im Kreuzbein hat, wird er auch als »kraniosakrales System« bezeichnet, von lateinisch »cranium«, dem Schädel, und »os sacrum«, dem Kreuzbein. Man nennt ihn auch »Erholungsnerv«.
Der Sympathikus, der Stressnerv, entspringt nicht dem Hirn, sondern dem Rückenmark. Allein dieser Ursprung zeigt schon, dass er primitiver und weniger tiefgründig ist als der Vagus-Nerv. Im Rückenmark geht es vor allem um Reflexe, nicht um Reflexion. Vom im Rückenmark gelegenen Nervenzellen gehen Ausläufer...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2020 |
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Reihe/Serie | Wissen & Leben |
Zusatzinfo | mit zahlreichen Abbildungen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Ernährung / Diät / Fasten |
Schlagworte | Abnehmen • Antioxidantien • Bakterien Darm • Bauchgefühl • Bauchschmerzen • bestes Darm-Buch • Blähungen • Darm • Darmbakterien • Darmgesundheit • Darmhirn • Darm-Hirn-Connection • Darm-Hirn-Link • Darm-Hirn-Verbindung • Darmmikrobiom • Darm mit Charme • Darm Psychiatrie • Diät • Ernährung • Ernährungsumstellung • Gesundheit • Giulia Enders • Gregor Hasler • Hirndam • Hirn Darm • Hirn-Darm-Verbindung • Medizin • Mikrobiom • Paleo • Paleo-Diät • Probiotika • Psyche Darm • Psychische Gesundheit • psychische Gesundheit Darm • psychische Probleme Darm • Psychosomatik • Reizdarm • Resilienz • Seele und Darm • seelische Widerstandskraft • Übergewicht • Vagus • vagus nerv • Vagusnerv • Vagus-Nerv • Weight Watchers • Weizenwampe • Zucker • zuckerfrei leben • zweites Gehirn |
ISBN-10 | 3-608-12077-7 / 3608120777 |
ISBN-13 | 978-3-608-12077-6 / 9783608120776 |
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Größe: 4,2 MB
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