Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solch üblen Tricks schützt -  Monika Niehaus,  Michael Wink

Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solch üblen Tricks schützt (eBook)

Rauschpflanzen und Gifte in antiken Mythen und Sagen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2905-6 (ISBN)
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Erst mit dem rasanten Aufschwung der phytochemischen und pharmakologischen Forschung in den letzten Jahrzehnten begann man sich zu fragen, ob hinter dem einen oder anderen Abenteuer fabulierender Abenteuer wie die des Odysseus nicht mehr stecken könnte, als es auf den ersten Blick scheint. Und man wurde fündig: Eine ganze Reihe wunderbarer Geschehnisse lassen sich inzwischen mit unserem zunehmendem Wissen über Pflanzeninhaltsstoffe und ihre Wirkung auf Körper und Geist - aber auch durch Fossilfunde und zoologische Erkenntnisse - naturwissenschaftlich erklären. Es werden einige dieser naturwissenschaftlichen Erklärungen für die Einäugigkeit der Zyklopen und Kirkes Zaubereien vorgestellt, dabei aber nicht auf die Antike beschränkt, sondern auch gelegentlich Abstecher in jüngere Zeiten unternommen: zu den seit dem Spätmittelalter gängigen Drogenexzessen, für die Hexen auf den Scheiterhaufen geschickt wurden, oder in die Neuzeit, zu den Hippies und in die Welt des Comics, und uns mit der Zusammensetzung von Miraculix' Zaubertrank beschäftigen.

Dr. Monika Niehaus, Biologin, arbeitet freiberuflich als Autorin, Journalistin und naturwissenschaftliche Übersetzerin. Neben mehreren Sachbüchern in Zusammenarbeit mit Kollegen veröffentlichte sie belletristische Bücher und Kurzgeschichten.

Wie Pflanzen zu unentbehrlichen Helfern für Ärzte, Hexen, Giftmischer und Drogenhändler wurden


»Nichts weiter hast du zu tun«, sagte der Giftbereiter, »als wenn du getrunken hast, herumzugehen, bis dir die Beine schwach werden, und dann dich hinzulegen.« Als Sokrates merkte, dass ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken. Darauf berührte jener ihn von Zeit zu Zeit, ... drückte ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle, was er verneinte. Und darauf die Knie und so ging er immer höher hinauf und zeigte den Umstehenden, wie er erkaltete und erstarrte. Zuletzt zuckte er. Als er aufgedeckt wurde, war er tot.

So beschreibt der griechische Philosoph Platon (428–348 v. Chr.) in seinem Dialog »Phaidon« den Tod seines Lehrers Sokrates im Jahr 399 v. Chr., nachdem dieser wegen angeblicher Lästerung der Götter und Verführung der Jugend dazu verurteilt worden war, den Schierlingsbecher zu leeren. »Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht und dies auch andere lehrt«, so die Urteilsbegründung.

Sokrates nimmt den Schierlingsbecher
(»Der Tod des Sokrates«, Gemälde von Jacques-Louis David, 1748–1825).

Dies ist eine der berühmtesten und wohl auch eine der ersten Beschreibungen einer Vergiftung mit Coniin, dem Hauptalkaloid des Gefleckten Schierlings (Steckbrief 3). Bei dieser Vergiftung kommt es bei vollem Bewusstsein zuerst zu einer Lähmung der Beine und Arme, bevor dann später der Tod durch Atemlähmung eintritt. Der griechische Arzt und Pharmakologe Dioskurides, der im 1. Jahrhundert n. Chr. lebte, nannte den Schierling treffend Apolegusa (Verzweiflung bringend) oder Abioton (das Leben nehmend). Die Pflanze war passenderweise der Göttin Hekate geweiht, einer der berühmtesten Giftmischerinnen der Mythologie. Der griechische Arzt Nikander, der etwa 300 Jahre früher lebte, beschrieb die schreckliche Wirkung des Schierlings so (zitiert in Lewin, 1920):

Merke dir ferner die Kennzeichen des schädlichen Schierlingstrankes. Dieses verderbenbringende Getränk sendet finstere Nacht auf das Haupt herab. Die Kranken blicken verwirrt, irren mit wankenden Füßen in den Straßen umher und kriechen auf den Händen. Ein quälendes Gefühl von Erstickung schnürt ihnen den schmalen Weg durch die Kehle zusammen. Die Atmung wird schwach, wie bei einer Ohnmacht, und die Seele des Kranken erblickt den Hades.

Der Schierlingsbecher war eine gängige Hinrichtungsmethode in Athen und später in Rom. Thrasias aus Mantinea (4.  Jh. v. Chr.) soll zwar eine Giftmischung aus Schierling und Schlafmohn zusammengestellt haben, die ein schmerzloses und schnelles Ende garantierte, doch wenn der Tod qualvoll sein sollte, wurde nur Schierling eingesetzt. Von der Verwendung in der Justiz abgesehen, war die Pflanze aber auch bei gewöhnlichem Mord von Nutzen: Dem römischen Historiker Tacitus zufolge soll Nero seinen Stiefbruder Britannicus mithilfe von Schierling ausgeschaltet haben – nicht ohne die richtige Dosierung zuvor an einem Ziegenbock getestet zu haben.

Steckbrief 3

Gefleckter Schierling

(Conium maculatum),
Familie Doldenblütler (Apiaceae)

Aussehen: zweijährige Pflanze mit bis 2 m hohem, rotbraun geflecktem Stängel; schirmförmige Blütenstände mit kleinen weißen Blüten;
blüht von Juni bis September

Verbreitung: Europa, Nordafrika, Asien; im Ufergebüsch und an Wegrändern

Verwendete Teile: die krautigen Teile und die Samen der Pflanze

Inhaltsstoffe: Die ganze Pflanze ist giftig. Hauptalkaloid ist das nach Mäuseurin riechende Coniin.

Wirkung: Coniin tritt mit dem nikotinergen Acetylcholin-Rezeptor (nAChR) in Wechselwirkung; es lähmt die motorischen Nervenendigungen, d. h. die Nervensignale werden nicht mehr auf die Muskeln übertragen. Erste Symptome sind Brennen im Mund und Erbrechen; dann aufsteigende Lähmung, Kälte und Gefühllosigkeit; Tod durch Atemlähmung. Als tödlich gelten 0,5–1 g Coniin.

Giftigkeit: sehr stark giftig (+++)

Besonderes: Schierling diente in der Antike zur Vollstreckung von Todesurteilen, z. B. an dem griechischen Philosophen Sokrates. Später wurde Schierling offenbar auch als abtörnendes Mittel (Antaphrodisiakum) verwendet. Der Theologe Origenes (2./3. Jh. n. Chr.) schrieb: »Bei den Christen kann man immer Männer finden, welche die Anwesenheit des Schierlingssaftes nicht nötig haben, um Gott in Reinheit dienen zu können.« Auch die Priester der eleusinischen Geheimnisse sollen mit Schierling kastriert worden sein.

Die Giftigkeit vieler Pflanzen ist seit vielen Tausend Jahren bekannt und gefürchtet. Zu den besonders giftigen Pflanzen zählen solche, die Alkaloide und Herzglycoside produzieren. Alkaloide sind eine im Pflanzenreich weit verbreitete chemische Stoffgruppe: Fast ein Viertel aller Blütenpflanzen enthält derartige Verbindungen, und keine andere Naturstoffgruppe ist für Säuger, den Menschen eingeschlossen, so giftig wie die Alkaloide. Diese sehr vielfältigen Substanzen machen etwa ein Viertel aller mehr als 100.000 bekannten pflanzlichen Naturstoffe aus und kommen in den meisten Blütenpflanzen vor.

Die Herstellung derart komplexer Stoffe ist für Pflanzen mit hohen »Energiekosten« verbunden. Und die Natur ist eine sparsame Haushälterin – Pflanzen bilden diese Stoffe sicherlich nicht, damit Menschen mit ihrer Hilfe Urteile vollstrecken, sich gegenseitig umbringen oder sich in eine andere Welt hineinträumen. Warum also enthalten so viele Gewächse Substanzen, die beim Verzehr bitter schmecken oder abführend, lähmend bis tödlich, euphorisierend oder berauschend wirken?

Die Antwort ist einfach: Weil Pflanzen eben nicht verzehrt werden wollen, weder von Menschen noch von Tieren. Da sie nicht weglaufen können, wenn sich ein Pflanzenfresser nähert, versuchen sie, ihm möglichst den Appetit zu verderben, sei es direkt durch Bitterstoffe oder indirekt durch Gifte aller Art. Diese Substanzen bezeichnen wir als »pflanzliche Naturstoffe«, »sekundäre Pflanzenstoffe« oder auch »Sekundärstoffe«. Sie finden sich meistens in für die Pflanze überlebenswichtigen Teilen: Samen, Speicherorganen wie Knollen und Wurzeln, Knospen oder Jungtrieben.

Manche Pflanzen vergrämen ihre Fressfeinde durch bitteren oder brennenden Geschmack, andere stören mit ihren Inhaltsstoffen deren Verdauung, schädigen das Herz-Kreislauf- oder das Atmungssystem oder greifen in den Hormonstoffwechsel ein. Zudem wirken einige Alkaloide teratogen, das heißt, sie schädigen die Leibesfrucht, sodass die gerade heranreifenden Jungen des Fressfeindes missgebildet oder tot geboren werden. Manche Alkaloide können gar das Erbgut verändern (Mutagenität), sodass alle künftigen Nachkommen geschädigt sind. Die in unserem Zusammenhang interessantesten Pflanzen jedoch sind diejenigen, die mit ihren Alkaloiden auf das Nervensystem von Säugern, also auf periphere Nerven, Rückenmark und Gehirn, abzielen. Dort führen viele Alkaloide zur Lähmung von Muskeln (Herz, Atmung) oder zu psychischen Veränderungen (Stimulation, Rausch, Halluzinationen).

Alkaloide – eine hoch wirksame Naturstoffklasse …


Alkaloide sind organische Verbindungen, das heißt, ihr Gerüst besteht aus Kohlenstoffatomen. Dieses Gerüst weist eine Ringstruktur auf und enthält mindestens ein Stickstoffatom als Bestandteil des Rings oder einer Seitenkette. Es gibt mehrere Klassen stickstoffhaltiger Naturstoffe, unter denen die Alkaloide am weitesten verbreitet sind. Ihren Namen erhielten die Alkaloide, weil sie in Wasser wie eine Lauge, also alkalisch (basisch) reagieren; kennzeichnend ist ferner ihr bitterer Geschmack.

Mehr als 20 Prozent aller höheren Pflanzen enthalten Alkaloide, und ihre strukturelle Vielfalt ist groß; es gibt über 27.000 beschriebene Verbindungen. Ihre Toxizität für Warmblüter, einschließlich des Menschen, ist extrem hoch: Von manchen Alkaloiden (zum Beispiel Aconitin, Coniin, Hyoscyamin und Strychnin) führen bereits wenige Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht zum Tod.

Wissenschaftlich werden Alkaloide in verschiedene Gruppen eingeteilt, wobei wir hier beispielhaft nur Verbindungen aufführen, die für dieses Buch interessant sind:

  • Tropan-Alkaloide: Scopolamin, Hyoscyamin, Atropin (ein Gemisch von L- und D-Hyoscyamin); Vorkommen zum Beispiel in Tollkirsche (Atropa), Bilsenkraut (Hyoscyamus), Alraune (Mandragora), Tollkraut (Scopolia), Stechapfel (Datura), Engelstrompete (Brugmansia)
  • Chinolizidin-Alkaloide: Nupharin in See- und Teichrosen (Nymphaea und Nuphar); Nuciferin in der Lotosblume (Nelumbo nucifera); Cytisin, Lupanin und Spartein in Lupinen und Ginster
  • Steroid-Alkaloide: Protoveratrin A und B, Germerin sowie Cyclopamin im Germer (Veratrum)
  • Terpen-Alkaloide: Aconitin im Eisenhut (Aconitum napellus u. a.)
  • Piperidin-Alkaloide: Coniin im Geflecktem Schierling (Conium maculatum)
  • Morphinan-Alkaloide: Morphin im Schlafmohn (Papaver somniferum)
  • Ergot-Alkaloide: Ergotamin, Ergometrin im Mutterkorn (Claviceps purpurea)
  • einfache Alkaloide: Ibotensäure, Muscimol, Muscarin im Fliegenpilz (Amanita...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Mythologie • Naturwissenschaft • Sachbuch • Sagen
ISBN-10 3-7776-2905-7 / 3777629057
ISBN-13 978-3-7776-2905-6 / 9783777629056
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