DA MASSIMO Geschichten und Rezepte

Daneben will ich selbstverständlich auch an die ursprüngliche, einfache Kochkunst unserer Familie erinnern. Damit wurde ich schon früh in meinem Leben konfrontiert, zuerst natürlich in der Küche meiner Mutter, dann aber auch bei der Grossmutter im Toggenburg und vor allem bei den Verwandten im Veltlin, jener italienischen Provinz mit schweizerischem Grenzanstoss. Hinzu kommt, dass jede Familie ihre eigene Interpretation der Kochkunst kennt. Sogar Speisen, die nach dem gleichen Rezept gekocht werden, schmecken nicht in allen Familien gleich; sie behalten eine gewisse Individualität. Das gehört zum Grossartigen beim Kochen und ist wohl auch einer der Gründe, warum in Italien die Nonna fast überall als die beste Köchin gilt. Kulinarische Erlebnisse bewirken etwas Besonderes in uns Menschen. Die Düfte in einer Küche oder der Geschmack der Speisen und Getränke bleiben in unserer Erinnerung haften. Diese Erinnerung wird durch den erneuten Genuss oder Geruch geweckt, und dann steigen in unserem Gedächtnis Szenen aus unserem Leben auf wie Familienabende, anregende Gespräche, politische Diskussionen, besinnliche Feiern, lustige Begegnungen oder traurige Erfahrungen. Überlieferte Kochrezepte erzählen auch etwas von der Lebensweise der Vorfahren. In meinem Fall war die italienische Familie meiner Mutter nicht nur gezwungen, auf einfache Art zu essen, sondern auch auf einfache Art zu leben, weil es die wirtschaftliche Lage erforderte. Trotzdem reichte es gelegentlich für ein Festessen. Die Ravioli alla Pedrotti zum Beispiel wurden an besonderen Festtagen hergestellt, und das Originalrezept verlangt Mortadella di fegato, eine spezielle, salamiartige Wurst, die man fast ausschliesslich im Veltlin und im Tessin bekommt. Viele Gerichte habe ich nur kennen und später auch kochen gelernt, weil sich andere um ein Vermächtnis bemühten. Meine Grossmutter schrieb ihre Guetzlirezepte in sauberer Handschrift auf einfaches Notizpapier. Meine Mutter gab das Rezept des panün de natal, einer Art Früchtebrot, das nur vor Weihnachten gebacken wird, erst nach unserer Heirat meiner Frau Anna weiter, denn es wird bis heute als Geheimrezept der Familie betrachtet. Sie brachte uns auch bei, wie man pizzoccheri macht. Bruna, eine meiner Cousinen, erklärte uns, wie eine gute polenta taragna entsteht. Von Cousin Cicci lernten wir, wie man gnocchi verdi herstellt. Mit der Grossmutter väterlicherseits backten mein Bruder und ich einen legendären Kuchen, von dem später noch die Rede sein wird. Trotzdem trauere ich noch heute einigen Rezepten nach, die ich nie werde so kochen können, wie es einige Personen taten, an deren spezielle Gerichte ich mich besonders erinnere. Dazu gehört die unübertroffene Minestrone der Zia Pina, Grossmutters Birnenwähe aus gedörrten Birnen oder Mammas Kutteln an Tomatensauce mit Kümmel. Diese Rezepte wurden leider nicht weitervermittelt und bleiben für mich blosse Erinnerungen. Natürlich kann man ähnliche Rezepte irgendwo finden, aber sie sind einfach nicht dasselbe, mindestens empfindet man dies subjektiv so. Dafür kamen eine ganze Reihe neuer Rezepte dazu, die im Verlauf der Jahre für uns zu Familienrezepten wurden und hier auch weitergegeben werden. Die allermeisten haben wir irgendwo in einem Kochbuch oder in einer Zeitschrift gefunden, manche auch einfach bei einem Gespräch aufgefangen. Sie sind keine Innovationen, aber unsere persönliche Interpretation eines klassischen Gerichts, das zum festen Bestandteil unserer Küche wurde. Die Gründe für deren Auslese sind unterschiedlich: manchmal, weil sie geschmacklich überzeugend sind; manchmal, weil sie im Zusammenhang mit einem emotionalen Erlebnis stehen; manchmal, weil sie an eine bestimmte Begegnung erinnern. Eigentlich sollte jede Familie ein kulinarisches Vermächtnis schreiben. Es muss nicht umfangreich sein, aber die wesentlichen Dinge enthalten. Es soll, wie schon erwähnt, nicht nur aus guten Rezepten bestehen, sondern auch dazu beitragen, die Liebe zum Kochen und zur Gastfreundschaft zu erhalten oder neu zu wecken. Kochen ist Handwerk, eine häusliche Aktivität, die nicht nur jenen Freuden bereitet, die das Endprodukt schliesslich geniessen, sondern auch dem Kochenden selbst. Sogar alltägliche und einfachste Mahlzeiten, etwa ein Teller pasta mit einer reinen Tomatensauce (schmeckt übrigens hervorragend!), können mit Freude genossen werden. Aber natürlich gehören auch Festmahle und gepflegte Essen mit Gästen zum kulinarischen Erbe.. Selbst wenn man sich in der heutigen schnelllebigen Zeit für gepflegte Mahlzeiten im Alltag kaum mehr Zeit nimmt und man sich leider manchmal mit Fastfood begnügen muss, sollte wenigstens einmal in der Woche Zeit für ein gepflegtes Essen sein. Dabei kommt es überhaupt nicht auf die Menge oder die Komplexität der Zubereitung an, sondern auf die Qualität, die Freude und die Zufriedenheit, die gepflegtes Essen auslösen.