Zu viel allein ist ungesund (eBook)
128 Seiten
Mosaicstones (Verlag)
978-3-905290-88-2 (ISBN)
Irene Widmer-Huber ist Gemeindediakonin und Traumacoach und leitet mit ihrem Mann seit vielen Jahren eine christliche Gemeinschaft. Sie wohnt mit ihrer Familie im Gemeinschaftshaus Moosrain in Riehen, das sie mitgegründet hat. Mit ihrem Mann zusammen führt sie die Fachstelle Gemeinschaftliches Leben. Sie ist verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.
»Einsamkeit betrifft uns alle – Frauen und Männer, Verheiratete und Singles, Junge und Alte.
Einsamkeit kann uns gefangen nehmen. Sie muss aber kein Gefängnis bleiben, sondern kann ein Weg zu mehr Leben werden. Dieses Buch ist wie ein Wegweiser und kann ein hilfreicher Begleiter sein. Ich empfehle es allen, die auf der Suche sind nach sich selbst und nach Gemeinschaft.«
Astrid Eichler, Mitgründerin vom Netzwerk Solo&Co
»Dieses Buch tut der Seele wohl. Fast jedes Mal, wenn ich mich damit beschäftigt habe, durchströmte mich danach neuer Lebensmut.«
Stefanie Thoms
2. Zu viel allein ist ungesund: Spannendes aus der Forschung
2.1 Das Beispiel Roseto
Es war Ende der Fünfzigerjahre an einem Ärztesymposium in Amerika. Ein Teilnehmer erzählte einem Kollegen eine beinahe unglaubliche Geschichte: Der Doktor war zuständig für ein kleines Dorf namens Roseto in Pennsylvania. Er bezeugte, dass es in seinem Ort kaum einen Bewohner unter 65 Jahren gäbe, der an einer Herzerkrankung leide. Da sich Herzprobleme in jener Zeit aber eben zu einer regelrechten Volkskrankheit entwickelten, war diese Beobachtung umso erstaunlicher. So wollte der Arztkollege dem eigenartigen Phänomen genauer auf die Spur kommen. Im Jahre 1961 machte er sich auf den Weg nach Roseto, analysierte das Dorf und seine Bewohner und kam zu verblüffenden Resultaten. Kaum jemand unter 55 Jahren war an einer Herzkrankheit gestorben. Bei den Älteren lagen die Erkrankungen um 50 % tiefer als in allen anderen Landesteilen. Auch sonst waren diese Menschen außerordentlich gesund, die Todesrate bei allen untersuchten Krankheiten lag in Roseto 35 % tiefer als im übrigen Amerika. Wie konnte man sich so etwas erklären?
Es lag sicher nicht an ihren Essgewohnheiten. Ihre »Scarpetti«, in Schweineschmalz gebratene Paprikaschoten, trieften vor Fett: Die Rosetonier waren für opulente Schlemmermahlzeiten weitherum bekannt. Viele waren übergewichtig, liebten den Wein und rauchten. Auch am Klima konnte es nicht liegen, waren doch die Bewohner der Nachbardörfer nicht weniger krank als der amerikanische Durchschnitt. Was also war das Geheimnis? Hier half ein Blick in die Geschichte: Die Bewohner aus Roseto waren italienischer Abstammung. Um 1882 waren sie aus Apulien ausgewandert, um in den Schieferbrüchen Pennsylvanias ihr Auskommen zu finden. Das gemeinsame Los hatte die Dorfgemeinschaft zusammengeschweißt: In den Straßen Rosetos sprach man noch immer italienisch, am Abend saß man zum Grillieren zusammen. Oft lebten mehrere Generationen unter einem Dach, die Großeltern genossen großen Respekt und man besuchte fleißig die Messen in der Kirche. Ein junger Pfarrer setzte sich dafür ein, dass eine lebendige Gemeinde entstehen durfte. Auch kulturell entstand vieles: es gab Läden und Restaurants und das 1600-Seelendorf zählte über 22 Vereine. Für alle war gesorgt, die sozialen Verbindungen waren tragfähig, jeder fühlte sich zugehörig. Freud und Leid wurde miteinander geteilt.
1974 titelte »Die Zeit« einen Artikel über Roseto mit: »Ende eines Wunders«. Das Dörfchen konnte sich dem gesellschaftlichen Wandel nicht entziehen. Viele Männer hatten im weiteren Umkreis der Siedlung besser bezahlte Arbeit gefunden. Die Einkommen stiegen – damit aber auch die sozialen Unterschiede: nicht alle konnten sich die teuren Hobbies der Wohlhabenderen leisten, denen sie außerhalb der Dorfgemeinschaft nachgingen. Die Zeit der Folkloreveranstaltungen mit allen war vorbei. Es wurde geschäftig in Roseto. Die gemeinsamen Mahlzeiten im Familienclan veränderten sich: Eilig wurde von den ersten etwas vom Mahl verschlungen, bevor die letzten eintrafen, schnell waren alle wieder weg.
Das gesellschaftliche Leben brach immer mehr auseinander, die engen Familienbanden lösten sich. Und der Pfarrer von Roseto hatte unverhofft viel zu tun: An Stelle der sechs bis sieben Beerdigungen pro Jahr waren es nun zwanzig. Zwölf davon starben an einem Herzinfarkt – zwei davon waren unter vierzig.13
Zu viel allein ist ungesund. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2050 ein neues Gesetz verabschiedet, dass künftig auf jedem Mietvertrag folgender Warnhinweis aufgedruckt sein muss:
»Allein zu leben kann ihre Gesundheit beeinträchtigen, schwächt ihr Immunsystem, verursacht Herz-Kreislauf-Krankheiten und trägt dazu bei, dass die Krankenkassen-Prämien nächstes Jahr weitere 5 % steigen.«
Des Weiteren wird sämtliche Werbung für Einzelhaushalte auf Plakaten, an Kiosken oder öffentlichen Plätzen unter Androhung einer Busse von 250 Franken per sofort untersagt.14
2.2 Einsichten aus der Forschungspraxis
Es war ein großer Gewinn, mich in die neusten Erkenntnisse einzulesen, was Einsamkeit letztlich in uns bewirkt. Wir sprechen damit von diesen Formen von Alleinsein, die in der Geschichte von Roseto schon anklingen. Wir sprechen von dem Punkt, wo Alleinsein in Einsamkeit kippt, wo wir einem Gefühl ausgeliefert sind, das Stress bewirkt – einen Stress mit höchst brisanten Folgen: Es gibt Untersuchungen unter Studenten, wo jene mit Einsamkeitsgefühlen darüber Auskunft geben, dass sie sich nicht nur einsam, sondern in vielen anderen Bereichen nicht wohl fühlen; sie sind schüchterner als ihre gut eingebundenen Kollegen, fühlen mehr Wut und Angst, haben ein schlechteres Selbstwertgefühl und mehr Furcht vor negativer Beurteilung, haben weniger positive, dafür mehr negative Grundstimmungen.15 Wer sich so fühlt, ist gestresster.
Einsamkeit ist damit eine Form von Stress. Und somit hat sie wie in Roseto Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, auf unser Immunsystem und eventuell auch auf eine Neigung zu chronischen Entzündungen.16 Wer im Stress der Einsamkeit steht, isst mehr Süßes und macht laut Forschungsergebnissen mit zunehmendem Alter weniger Sport.17
Soll ein Mensch, der allein sein will, allein gelassen werden, auch wenn es für ihn besser wäre, Gemeinschaft zu haben?18
Wenn wir über lange Zeit einsam sind, verändern sich auch unsere sozialen Fähigkeiten. Der Einsamkeitsstress beeinflusst unsere Sensibilität in einer Weise, dass wir mit der Zeit soziale Signale missverstehen, zu viel hineininterpretieren oder zumindest anders auslegen.19 Einmal nicht richtig gegrüßt zu werden, wird zum Beispiel gleich als Aussage »der mag mich nicht« verstanden und erhält plötzlich ein immenses Gewicht, währenddessen jemand anderes dies überhaupt nicht bemerkt oder leichtfertig mit »der war heute wohl im Stress« abtut. Das erklärt, warum sich einsame Menschen in Gemeinschaft manchmal recht schwer tun oder es in Gruppen plötzlich kompliziert werden kann. Einsame Menschen entwickeln ein anderes Selbstschutzverhalten. Sie wittern schneller überall Gefahr, sie neigen dazu, schneller das Negative zu sehen oder bewerten positive Erlebnisse nicht gleich positiv wie gut eingebundene Menschen. Man weiß mittlerweile, dass die Empathiefähigkeit abnimmt und es immer schwerer wird, Gesichtsausdrücke treffend zu deuten.
Ich beschränke mich auf eine Auswahl der beschriebenen Phänomene. Aber etwas ist bei der Schilderung ziemlich klar herausgekommen: Einsame Menschen können in einen Teufelskreis geraten. Wer einsam ist, verliert mit der Zeit seine sozialen Fähigkeiten. Wer über weniger soziale Kompetenzen verfügt, tut sich schwerer, Beziehungen zu pflegen und ist gefährdeter, zu vereinsamen.
John Cacioppo in seinem Buch »Einsamkeit«:
Unser Gehirn und unser Körper sind dazu gemacht, in Gemeinschaften zu funktionieren, nicht in Isolation. Das ist das Wesen einer »obligatorisch geselligen« Spezies. Versuchen wir, unser Bedürfnis nach Gesellschaft (…) zu leugnen, ist das wider unsere Natur. Die Wirkungen, die das auf unsere Gesundheit hat, sind Warnzeichen ähnlich den computergesteuerten Warnleuchten am Armaturenbrett moderner Autos.20
Umso wichtiger ist es also, das Gefühl der Einsamkeit rechtzeitig zu erkennen und es als Anstoß zu nehmen, wieder Begegnung und Gemeinschaft zu wagen. Wir Menschen verkümmern ohne soziale Einbindung. Das ist bei meiner Lektüre über das Thema klarer herausgekommen, als ich es bis zu diesem Zeitpunkt begriffen hatte. Wir werden körperlich krank, emotional ängstlich, schüchtern und unglücklich oder sogar depressiv und im sozialen Miteinander wird es schwierig.
Diesem letzten Phänomen bin ich in meinem langjährigen Unterwegssein in der Beratung von gemeinschaftlichen Initiativen schon oft begegnet: einer stillen, oft verdeckten Angst vieler Menschen, sich in Gemeinschaft zu begeben und Bindung zu wagen. Viele Hindernisse tauchen plötzlich auf, sobald sich Menschen aufeinander einlassen: Botschaften werden falsch interpretiert, aber kaum angesprochen, Missverständnisse bleiben damit bestehen, Erwartungen überhöhen sich oder vor lauter Ausdiskutieren von möglicherweise eintretenden Schwierigkeiten verlieren alle den Mut, sich einfach mal unbekümmert aufeinander einzulassen. Anstelle von Aufbruchfreude und positiver Einstellung macht sich Schwere und Ratlosigkeit breit. Dass solche Erfahrungen auch als eine direkte Folge von Einsamkeit oder zu viel Alleinsein verstanden sein kann – und dies aus der Forschung gut belegt ist – wurde mir in aller Deutlichkeit bewusst. Meine persönliche Bilanz lautet daher so ungefähr: wie gut, gibt es Einsamkeitsgefühle. So besteht die Möglichkeit für uns alle, den »Anfängen zu wehren« und mutig zu einer besseren sozialen Einbindung aufzubrechen.
John Cacioppo in seinem Buch »Einsamkeit«:
Einsamkeit ist ein Problem, gegen das wir ziemlich direkt vorgehen können, besonders wenn wir erkennen, dass Einsamkeit keine lebenslängliche Strafe, sondern einfach eine Aufforderung ist, unsere defekte soziale Einbindung zu kitten. Einsamkeit erteilt uns folgende anspornende Lektion: Während freundliches und großzügiges Verhalten zu sozialer Akzeptanz führt (….), hat egoistisches, antisoziales Verhalten eine Verschlechterung des physischen Zustands und den zermürbenden Schmerz sozialer Isolation zur Folge. Das Aufbauen von Bindungen nach längeren Phasen sozialer Entbehrung ist wahrhaftig nicht einfach,...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2020 |
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Verlagsort | Morschach |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Allein • Beziehung • Christlich • einsam • Einsamkeit • Gemeinschaft • Partner • Ratgeber • Single • Sozial |
ISBN-10 | 3-905290-88-X / 390529088X |
ISBN-13 | 978-3-905290-88-2 / 9783905290882 |
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