Die nächste Welle ist für dich (eBook)
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26960-9 (ISBN)
Das Meer ist ein Ort der Prüfungen: Kriege ich die Welle? Oder kriegt sie mich? Auf einem Surftrip wird Dörthe Eickelberg von einer Killerwelle in die Tiefe gerissen. Mit knapper Not rettet sie sich, aber die Angst bleibt. Auf dem Meer. Und im Leben. Doch die TV-Moderatorin zieht aus, das Fürchten zu verlernen. Rund um den Globus - in Indien, Südafrika, Palästina, Mexiko und auf Hawaii - begegnet sie Surferinnen, die in ihrer Heimat nicht selten einen hohen Preis zahlen, um ihre Leidenschaft ausüben zu können. Seite an Seite stellen sie sich dem Meer und ihren Ängsten und finden die große Freiheit. Dörthe Eickelberg erzählt von beeindruckenden Surf-Pionierinnen und ihrer persönlichen Erfolgsgeschichte: Wie sie von starken Frauen lernte, ihre Grenzen zu überwinden, auf ihrer eigenen Welle zu reiten und mutig zu sein.
Das Buch enthält zahlreiche beeindruckende Farbfotos.
Dörthe Eickelberg ist als arte-Moderatorin, Impro-Schauspielerin und Regisseurin in der ganzen Welt unterwegs. Ihre preisgekrönte Dokuserie »Chicks on Boards« lief auf internationalen Filmfestivals und wurde in über zwanzig Länder verkauft. In ihren Drehpausen hat sie am liebsten ein Surfbrett unter den Füßen. Dörthe Eickelberg lebt in Berlin.
Zweiklassengesellschaft
Nach Abschluss des Surfkurses besuche ich Freunde in Biarritz. Sie sind offenbar die einzigen Bewohner des Geburtsortes der europäischen Surfkultur, die nicht surfen. Während meine Freunde gemächlich über die Promenade flanieren, breche ich auf zu den grünen Wellen. Allein. Denn obwohl ich gerade mal in der Lage bin, ohne größere Zwischenfälle auf dem Brett stehen zu bleiben und leicht in die Rechtskurve zu gehen, bin ich schon längst süchtig nach dem nächsten Wellenrausch.
Ein paar grüne Wellen habe ich bereits im Surfcamp erwischt, meistens pure Zufallstreffer. Nun will ich so richtig über das Wasser fliegen und in Schlangenlinien auf der Schulter der Welle reiten, genau wie die großen Surfer da draußen. Dazu muss ich aber erst einmal da oben ankommen – meine erste Aufnahmeprüfung. Eigentlich ist die Brandung gar nicht so weit weg. Aber da sind noch ein paar Wellen im Weg. Und die scheinen mich von meinem Vorhaben abhalten zu wollen. Es ist, als würde ich in verkehrter Richtung eine Rolltreppe hochlaufen: Das Ziel vor Augen, die grünen Wellen zum Greifen nah, komme ich kaum vom Fleck.
In der Surftheorie habe ich gelernt, dass es eine Strömung gibt, die von Schwimmern gefürchtet und von Surfern genutzt wird: der Brandungsrückstrom. Im Englischen nennt man ihn Rip Current. Man möchte meinen, das Wort RIP steht für »Rest in Peace«, so viele Menschenleben hat diese Strömung schon auf dem Gewissen. Ein klassischer Brandungsrückstrom sieht von außen harmlos aus, fast einladend für jemanden, der baden will und dabei Wellen meidet. So fühlen sich unerfahrene Schwimmer von diesem Zustand des Meeres oft angezogen, und das leider wörtlich. Der Rippstrom zieht sie, ohne Widerworte gelten zu lassen, ins Meer hinaus. Einige versuchen dann panisch, gegen den Strom zurück zum Strand zu schwimmen, und ertrinken vor Erschöpfung. Mit ein paar Schwimmzügen quer zur Strömung könnten sie wieder ruhigeres Wasser erreichen, und selbst wenn sie sich aufs Meer hinaustreiben lassen würden, würde der Sog bald von ihnen ablassen. Doch das wissen sie nicht. Surfer machen sich genau diese Sogwirkung zunutze. Sie können die Strömung von außen erkennen und lassen sich von ihr durch den Channel, den Strömungskanal, hinaus zur Brandung ziehen.
Wo ist der Rippstrom, wenn man ihn mal braucht?, frage ich mich also, während ich gefühlte Stunden in Richtung Brandung paddele und dabei von jeder Welle wieder zurückgeworfen werde. Mit meinem großen Brett kann ich nicht unter den Wellen durchtauchen, also muss ich Eskimorollen machen – mich liegend um meine eigene Achse drehen, sodass das Brett über mir ist, während die Welle über mich hinwegrollt. Doch das ist spätestens nach dem elften Mal langsam ermüdend. Die nötigen Muskelgruppen sind bei mir noch nicht aufgebaut, meine Technik ist noch nicht ausgereift, und so langsam geht mir die Kraft aus.
Aber irgendwann, nach einem riesigen Umweg, komme ich doch an, mit verspanntem Rücken und Armen aus Beton. Am Ziel werde ich belohnt mit Stille. Hinter der Brandung sind der Lärm und das Chaos des Strandes weit weg. Es ist, als hätte man zu Fuß eine achtspurige Autobahn überquert, um auf der anderen Seite eine Bibliothek zu betreten. Eine Stimmung aus heiligem Ernst. Hier ist das Line-up, hier sind die Surfer. Viele von ihnen sind einheimisch. Und die meisten von ihnen sind Männer.
Die Wellen an der französischen Atlantikküste haben Weltklasse, und das hat sich herumgesprochen. In den Sommermonaten trifft sich die Jeunesse dorée aus Paris in Biarritz und logiert in den Ferienhäusern ihrer Eltern, um bei Sonnenuntergang auf den Klippen am Meer einen Aperitif zu trinken und dabei von oben den Surfern zuzuschauen. Sportstudenten aus aller Welt verbringen weiter nördlich, in der Gironde, ihre Semesterferien, nehmen sich eine Auszeit, suchen sich Jobs in Surfcamps, klappen in den Surfpausen ihr faltbares Büro in irgendeinem Café auf oder eröffnen gleich selbst eins. Einige von ihnen stranden und bleiben da. Wer wiederum am Meer aufwächst, der hat diese Naturgewalt seit jeher vor der Haustür. Küstenbewohner wachen mit dem Wellenrauschen auf und legen sich damit schlafen. Sie kennen das Zusammenspiel von Windrichtung, Bodenbeschaffenheit, Tide und Strömung, das hinter der Entstehung von Wellen steckt und ihr Verhalten prägt. Für sie sind die Wellen Spielgefährten und Sparringspartner. Sie gehen schon als Kind in den Surfkurs wie andere in den Fußballverein. Der Strand ist ihr Spielplatz. Wenn sie älter werden, wird er zu ihrer Bühne.
Die Küste um Biarritz nennt man auch gern »das Kalifornien Europas«, in Anlehnung an die Hippie-Kultur, die von den ersten Surfern in Kalifornien ausging. Sie wussten: Man kann an Land Gesetze schreiben, doch da draußen sind sie nicht wasserfest.
Auch heute ist die Welt der Surfer erfrischend anarchisch. Theoretisch kann sich jeder ohne Schein oder Genehmigung überall für wenig Geld einfach ein Brett mieten und es versuchen. Der Eintritt ist frei. Es gibt keinen Dresscode. Die besten Surfer tragen oft die löchrigsten T-Shirts. Selbst das nötige Sportgerät ist relativ erschwinglich und kann, pfleglich behandelt, über Jahrzehnte genutzt werden. Es kommt nicht, wie in vielen anderen Sportarten, jedes Jahr eine neue Edition raus, die die alte wertlos macht. Ein Surfbrett taugt nicht als Statussymbol. Es zählt nicht, was du surfst, sondern wie du surfst. Man kann sich also seinen Platz in der Surferwelt nicht erkaufen. Doch es kostet viel Zeit und Kraft, über den Status des Anfängers hinauszukommen. So durchlässig der Zugang ist: Ein Surfbreak ist eine Zweiklassengesellschaft. Wellen holen einen nicht ab, sie kommen nicht auf Bestellung, man muss sie sich erarbeiten. Es gibt keinen Lift, der einen bis zur Brandung bringt, keinen Notausgang, durch den man im Zweifelsfall diskret verschwinden kann, es gibt keine Welle, die ein zweites Mal für dich bricht, weil der erste Versuch nicht gelungen ist. Im Ozean herrschen keine Laborbedingungen, denn jede Welle ist anders. Die Freiheit, die einem die Wellen versprechen, muss man sich hart verdienen, und eine entscheidende Währung dafür ist Mut.
Wenn an einem Spot wie diesem also nach ein paar Tagen Flaute ein guter Swell reinkommt, dann lauern auf einmal etliche hungrige Surfer im Line-up. Sie haben die Wellenvorhersage studiert und sich rechtzeitig den Wecker gestellt. Wellen haben ihren eigenen Terminkalender, sie folgen dem Wind und ändern ihr Verhalten mit den Gezeiten. Als ich nach meiner Strampel-Odyssee doch noch am Ziel ankomme, sind Zeit und Tide günstig. Das haben alle anderen längst antizipiert, doch für mich ist es ein glücklicher Zufall.
Im Line-up ist die Stimmung anders als bei den Anfängern im Stehbereich, sehr konzentriert. Noch im Weißwasser habe ich wahllos jede ankommende Wasserwalze angepaddelt, als wäre ich am Wühltisch beim Sommerschlussverkauf. Hier lauern nun alle wie Raubtiere auf eine einzige Welle. Was für eine Welle, ist mir schleierhaft, doch die anderen scheinen das sehr genau zu wissen. Eine Dünung wie an diesem Tag entsteht durch eine sehr üble Laune des Windes weit draußen im Ozean. Nach einer langen Ereigniskette gruppieren sich die Wellen in Sets, oft fünf oder sieben hintereinander, die in kurzen Abständen brechen und dann auslaufen, ehe nach einer Pause das nächste Set anrollt. Diese Pause ist ein guter Moment, um anzukommen und achtsam das Hier und Jetzt zu genießen. Doch heute bündeln alle ihre Kräfte für den Angriff.
Dann kommt endlich die erste Welle, und die Raubtierfütterung beginnt. Alle wollen sie haben, doch nur einer kann sie kriegen. Lautlos springt der Schnellste auf und verschwindet schwungvoll hinter dem Wellenkamm, während das Wasser weiter hinten zischend niederregnet und ein Vorhang an glitzernden Partikeln in die Höhe schießt. Dann ist es wieder kurz still, ehe die nächste Welle Anlauf nimmt. Ich weiß mittlerweile, dass es bei hohem Seegang im Wasser Verkehrsregeln gibt, die alle kennen und die zugunsten des bestpositionierten Surfers ausgerichtet sind: Bäumt sich eine Welle hinter einem auf, dann hat derjenige Vorfahrt, der dem Peak, dem höchsten Punkt, am nächsten ist. Denn von da aus kann man die Welle am besten erwischen. Wer schon auf der Welle steht, darf bleiben. Zusätzlich oder später mit aufspringen gilt nicht und wird als »Drop-in« geächtet, denn das ist Wellenklau. Es herrscht das Darwin-Prinzip: Der Stärkste überlebt. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, und das kann man mit Wissen und Erfahrung erzielen. Oder, wie ich heute, mit Glück.
Direkt hinter mir richtet sich einladend eine schöne Welle auf. Ich bin im passenden Abstand zum höchsten Punkt. Auf dieser Welle steht mein Name. Entschlossen lege ich mich auf mein Brett und paddele sie an. Da sehe ich, dass links und rechts von mir zwei junge Männer das Gleiche tun. Unbeirrt von dem geringen Abstand, den wir zueinander haben, pirschen sie sich weiter vor. Sie sehen mich und paddeln dennoch weiter. Haben sie keine Angst, dass wir zusammenstoßen? Ich schaue sie fragend an, doch sie haben nur Augen für die Welle. Im letzten Moment gebe ich auf und ziehe mein Brett zur Seite. Die beiden Jungs springen auf, der eine surft links, der andere rechts. Was war das? Hatte ich vielleicht doch nicht Vorfahrt?
Zweiter Anlauf. Ich bringe mich in Position für die nächste Welle. Wieder nehme ich entschieden und demonstrativ Anlauf, doch nun kommt ein junger Mann von der Seite angeschlängelt und steuert schräg auf meine Welle zu. Kurz vor mir schlägt er einen Haken und schnappt sie sich, bevor ich es tun kann. Er nimmt also eine Abkürzung und drängt mich ab. Dieses Prozedere...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2021 |
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Zusatzinfo | mit buntem Bildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Abenteuer • arte • Chicks on Boards • eBooks • female empowerment • Lea Rieck • Lebensfreude • Meer • Mut • Persönlichkeitsentwicklung • Ratgeber • Spaß • Sport • Starke Frauen • Surfen • Trau dich • Wellenreiten • Xenius |
ISBN-10 | 3-641-26960-1 / 3641269601 |
ISBN-13 | 978-3-641-26960-9 / 9783641269609 |
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Größe: 11,2 MB
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