Kinder wollen (eBook)
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26672-8 (ISBN)
Warum wollen wir überhaupt eigene Kinder? Dürfen wir entscheiden, welche Kinder wir bekommen und welche nicht? Ist es für Kinder irgendwann zu spät? Und welche Technologien dürfen wir nutzen auf dem Weg zum Wunschkind? Früher entschied das Schicksal, ob wir Kinder bekommen und welche Kinder wir bekommen. Heute ist es zunehmend steuerbar. Vielseitig, diskussionsfreudig und zugänglich ergründen die Philosophin Barbara Bleisch und die Rechtswissenschaftlerin Andrea Büchler, wie weit unsere Autonomie bei der Reproduktion reicht und welche Verantwortung die neu gewonnene Freiheit mit sich bringt - für zukünftige Mütter und Väter, für unsere Kinder, aber auch für uns als Gesellschaft.
Barbara Bleisch, geboren 1973, lebt mit ihrer Familie in Zürich und ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich. Seit 2010 moderiert sie die Sendung 'Sternstunde Philosophie' beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Von 2017 bis 2019 war sie akademischer Gast am Collegium Helveticum. Bei Hanser erschienen: Warum wir unseren Eltern nichts schulden (2018) und Kinder wollen. über Autonomie und Verantwortung (2020).
Auftakt zum Gespräch
Andrea Büchler
In dieses Buch sind verschiedene Reisen eingewoben. Während es entstand, lebte und arbeitete ich vorübergehend in Palo Alto, einem kleinen Ort im Silicon Valley, einer Gegend, die für Technik, Risiko und Innovation steht. Technischer Fortschritt beflügelt dort die Phantasien der Menschen. Man begegnet ihm offen, unbefangen, neugierig. Das gilt auch für die Entwicklungen der Fortpflanzungsmedizin. Bei schulischen Anlässen meiner jüngeren Tochter erzählten mir andere Eltern ungezwungen von »ihren« Embryonen, die nach der In-vitro-Fertilisation eingefroren worden waren und nun in einer nahe gelegenen Klinik lagen, von den Untersuchungen, die an diesen vorgenommen wurden, und von den Vereinbarungen über ihre Nutzung, die sie als Paar für den Fall der Trennung getroffen hatten. Die Leihmutterschaft war ein ebenso unspektakuläres Gesprächsthema und gilt in Kalifornien als eine Möglichkeit der Familiengründung, wenn keine andere zur Verfügung steht. Ich wohnte nur wenige Fahrminuten von der »California Cryobank« entfernt, einer der größten Samenbanken weltweit, die mit den Kindheitsfotos der »Spender der Woche« und mit einem umfassenden genetischen Screeningprogramm wirbt. Die »California Cryobank« sucht ihre Standorte nicht zufällig aus: In unmittelbarer Umgebung von Palo Alto liegen einige der besten Universitäten des Landes. An der renommierten Stanford University werden Frauen gesucht, die für einen Nebenverdienst ihre Eizellen »spenden«, und die IT-Firmen übernehmen die Kosten der Aufbewahrung der Eizellen ihrer Mitarbeiterinnen, damit diese für einen späteren Kinderwunsch vorsorgen und ihre Familienplanung etwas hinausschieben können.
In ganz andere Kontexte führten mich Reisen nach Indien, die mir Einblicke in die Praktiken dortiger reproduktionsmedizinischer Kliniken ermöglichten. Ihnen verdanke ich Gespräche mit Frauen über das eigene Kind oder über das Kind, das sie für andere austrugen, über persönliche Nöte, vertraute Sehnsüchte und universelle Sorgen, über große Ungerechtigkeiten und noch größere Hoffnungen. Die persönliche Begegnung mit anderen, zunächst fremden Herangehensweisen an die großen und drängenden Fragen rund um das Kinderwollen ist Herausforderung und Bereicherung zugleich. Sie macht immer wieder die kulturelle, soziale und biographische Bedingtheit eigener »Wahrheiten« deutlich und fordert dazu auf, Komplexität und Ambivalenz anzuerkennen und neue Perspektiven zu wagen.
Das Kinderwollen hat eine menschenrechtliche Dimension, und Kinderwünsche sind eine höchst private Angelegenheit. Wie will ich mein Leben leben, welchen Sinn will ich ihm geben? Das sind weitreichende Fragen und persönliche Entscheidungen, die freilich in bestimmten sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontexten gestellt und gefällt werden, in die staatliche Interventionen aber zu unterbleiben haben. Stellt sich allerdings die Schwangerschaft nicht spontan ein und verlässt der Zeugungsvorgang die Sphäre des Privaten, oder wird auf die Zeugung Einfluss genommen und dafür auf Genetik zurückgegriffen, oder ist die Schwangerschaft ungewollt und will die Frau sie beenden, dann ergeben sich Fragen, die auch andere betreffen und die in die Gesellschaft hineinreichen. Zwischen dem Kinderwollen und dem Elternwerden liegt eine Zeit, die heute medizinisch intensiv begleitet wird. Schon alleine die Tatsache, dass Fortpflanzungsmediziner, Gynäkologinnen, Genetiker und Hebammen beim Kinderbekommen assistieren, wirft die Frage auf, ob und, wenn ja, welche Regelungen notwendig und dem Verfahren angemessen sind. Was darf man von den Fachpersonen wollen, was dürfen sie tun? Und wer entscheidet dies aufgrund welcher Erwägungen?
Grundsätzlich dürfen wir natürlich auf unsere Sehnsüchte hören und unsere Lebenspläne verfolgen. Die persönliche Freiheit ist philosophisch wie rechtlich ein Wert von höchstem Rang. Wenn es um den technischen Fortschritt geht und darum, dass wir diesen für unsere Pläne einsetzen könnten, werden aber regelmäßig die gesetzgebenden Instanzen aufgerufen, das, was möglich ist, auf das, was möglich sein soll, einzugrenzen. Dabei sind ethische Erwägungen zentral: Gibt es moralisch gute, verallgemeinerbare Gründe, die persönliche Freiheit zu beschränken? Wie werden die Menschenwürde, die körperliche Integrität, Gleichheit und die Interessen von Kindern gewährleistet? Das Recht als normative Ordnung ist das Ergebnis von Wertentscheidungen. Rechtliche Regelungen sind allerdings nicht einfach Verschriftlichungen ethischer Erwägungen, sondern ethische Erwägungen werden zunächst auf der Bühne der Gesetzgebung in verbindliche Anweisungen transformiert. Ob und wie dies geschieht, ist in einer demokratischen und liberalen Gesellschaft nicht nur eine Frage der gesellschaftlichen Konsensfindung, sondern auch eine der spezifischen Anforderungen an eine rechtliche Norm: Ist das Interesse, das die Norm zu wahren vorgibt, legitim und gewichtig genug, um eine Freiheitsbeschränkung zu rechtfertigen? Ist diese dafür zwingend notwendig und vermag sie das legitime Interesse tatsächlich zu schützen? Und lässt sie sich in das Gesamtsystem von Normen kohärent einbinden? Geht es darum, die persönliche Freiheit in einem höchst persönlichen Bereich zu beschränken, sind die Anforderungen an die Legitimität und Plausibilität des Interesses, das dadurch geschützt werden soll, hoch. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft und sind einer vielschichtigen Vielfalt von moralischen Vorstellungen und Lebensentwürfen verpflichtet — eine Verpflichtung, der wir mit einer Ordnung nachkommen, welche die Freiheit der einzelnen Person in existenziellen und intimen Angelegenheiten schützt.
Im Jahr 2016 durfte ich mich für den Schweizerischen Juristentag in einem Gutachten mit dem Kinderwollen aus rechtlicher Sicht auseinandersetzen. Daraus entstand die Schrift Reproduktive Autonomie und Selbstbestimmung3, die für mich zugleich Anlass zu diesem Buch war. Die rechtliche Untersuchung findet an einigen Stellen auch in dieses Buch Eingang, aber sie ist nicht sein Anspruch. Das Buch will vielmehr ein breit gefächertes, vielstimmiges Gespräch begleiten, ordnen, analysieren — und diesem eine weitere Stimme hinzufügen. Diese weitere Stimme ist aus einem Oszillieren zwischen philosophischen Erwägungen und rechtlicher Einordnung hervorgegangen, das viele unserer Diskussionen um Konzepte und Formulierungen rund um eine Ethik der Reproduktion, zu den Versprechen und Gefahren der Optionen der Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik und zu den dem Kinderwollen »einverleibten« Werten prägte. Wir haben nicht nur versucht, die Korsette und Gepflogenheiten unserer jeweiligen Disziplin zu verlassen, sondern vor allem auch eine Sprache für das gemeinsame Nachdenken und das gemeinsame Schreiben zu finden. Wir haben uns angesichts großer Komplexität um angemessene Worte bemüht und um Konsens gerungen. Das Ringen findet in diesem Buch freilich keinen Abschluss in endgültigen Antworten, sondern mündet in Auslegeordnungen und vorläufigen Interventionen, die einem Prozess des ständig erneuten Abwägens unterworfen bleiben — und in einem Aufruf zur Fortführung des Gesprächs.
Solche Erfahrungen verschafft mir auch die Arbeit in der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin der Schweiz. Seit 2016 habe ich die Freude, diese zu leiten. Die Nationale Ethikkommission ist eine interdisziplinär zusammengesetzte, unabhängige außerparlamentarische Kommission, die mit dem Erlass des schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetzes im Jahr 2001 ins Leben gerufen wurde und die viele Aspekte des Kinderwollens debattiert — ähnliche Beratungsgremien gibt es in den meisten Demokratien der Gegenwart. Die Nationale Ethikkommission äußert sich regelmäßig zu ethischen Aspekten der Fortpflanzungsmedizin und der Humangenetik in Form von Stellungnahmen. Werden in diesem Buch Meinungen zum Ausdruck gebracht, so sind dies aber einzig die meinen respektive die unseren — die freilich von den vielen bereichernden Diskussionen mit meinen Kolleginnen und Kollegen der Nationalen Ethikkommission profitiert haben.
Barbara Bleisch
Viele in meinem Bekanntenkreis sind in den letzten Jahren Eltern geworden. Einige haben sich sehnlichst Kinder gewünscht und gehen in ihrer Elternschaft auf, andere hadern mit der großen Verantwortung, die sie für ihre Kinder tragen. Ich habe aber auch Freundinnen und Freunde, die nie Kinder wollten oder bei denen sich die Gründung einer eigenen Familie einfach nicht ergeben hat. Andere hätten gern Kinder gewollt, haben aber keine bekommen. Ein befreundetes Paar hat sich...
Erscheint lt. Verlag | 25.5.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Abtreibung • Autonomie • Baby • Beauvoir • Befruchtung • Biographie • Bleisch • Büchler • Cusk • Eltern • Embryo • Ethik • Ethikkomission • Ethikrat • Feminismus • Flaßpöhler • Frühchen • Geburt • Großeltern • Hebamme • Heti • Homo-Ehe • Identität • Jugend • Karriere • Kind • Lebenssinn • Leihmutterschaft • Moral • Motherhood • Mutter • Mutterschaft • #ohnefolie • ohnefolie • Patriarchat • Philosophie • Pränataldiagnostik • Recht • Rechtsphilosophie • Rechtswissenschaft • Regretting • Rosa • Samenspende • Schwangerschaft • Schwangerschaftsabbruch • Schwiegermutter • Schwiegervater • Single • Stillzeit • Stokowski • Vater • Vaterschaft • Verantwortung • Wendepunkt |
ISBN-10 | 3-446-26672-0 / 3446266720 |
ISBN-13 | 978-3-446-26672-8 / 9783446266728 |
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