Sinnliche Intimität (eBook)

Kapitel 2:

Die Kunst achtsamer sinnlicher Berührung

Einen Menschen achtsam zu berühren ist dem Fluss des Lebens
in erwartungsfreier Absicht zu folgen, ist Meditation in Aktion.

Susanna-Sitari Rescio

Achtsame sinnliche Berührung

Der Begriff Tantramassage, nämlich die Kunst achtsamer sinnlicher Berührung, ruft unterschiedliche Assoziationen hervor. Für einige Menschen hat dieser Ausdruck mit esoterischem Hokuspokus und Räucherstäbchen zu tun und deshalb möchten sie nichts damit zu tun haben; für andere wird die Tantramassage mit den erotischen Massageangeboten aus dem Rotlicht-Milieu in Verbindung gebracht und deshalb ebenfalls gänzlich abgelehnt. Wieder andere jedoch verbinden mit diesem Wort eine Welt voller Sinnlichkeit und wohlwollender Berührungen, eine wohlige Insel der Ruhe, auf der alle Sinne angesprochen werden, vor allem jedoch einen Raum, in dem man als ganzer Mensch wahrgenommen und respektiert wird, einen Raum, in dem man liebevoll angenommen und gehalten wird. Hier kann man einfach nur sein, es gibt nichts zu machen, nichts darzustellen. Dabei wird man am ganzen Körper von Kopf bis Fuß mit warmem Õl achtsam, verspielt und sinnlich, entspannend und erregend berührt.

Dieses Erlebnis ist selbst für Menschen, die mit Massagen vertraut sind und bereits ein gutes Sexualleben haben, einzigartig. Es ist nicht leicht in Worte zu fassen, was das Besondere an dieser Erfahrung ist. Vor allem deshalb nicht, weil alle Bilder und Worte, die man nutzen würde, um sie zu beschreiben, mit Assoziationen und Bedeutungen aufgeladen sind, die dieses Erlebnis nur begrenzt wiederzugeben vermögen. Ich habe über die Jahre viele Menschen gesprochen, die diese Erfahrung gemacht haben, und kein einziger hat versäumt zu erwähnen, wie besonders dieses Erlebnis war. Für viele war die erste Erfahrung damit der Auslöser für einen tiefgreifenden Veränderungsprozess, der nicht nur ihre Sexualität, sondern ihr ganzes Leben betraf. Eine Tantramassage berührt auf intensivste Art und Weise den ganzen Menschen, schließt dabei kein Körperteil aus und heißt jede Empfindung und Gefühlsäußerung willkommen. Diese Vielschichtigkeit und Ganzheitlichkeit sind Haupteigenschaften einer Tantramassage, die vielleicht zunächst überwältigen kann und doch gerade deshalb eine so große Anziehungskraft hat. Achtsame sinnliche Berührung ist „Liebe-Machen“ mit den Händen. Es ist „Liebe-Machen“ mit dem Leben. Das Lebendige in jedem Menschen aufzuspüren, ihm Raum zu geben, sich zu entfalten, es anzunehmen und zu würdigen, mit ihm in einem klaren Setting zu tanzen und zu spielen, das ist die innere Haltung in einer Tantramassage. Dank solcher Berührungen wird man sanft und einladend zur eigenen Insel der Sinnlichkeit zurückgeführt, gerade dann, wenn man den Weg dahin verloren hat. Es ist eine berührende Geschichte, die mit den Händen erzählt wird, die uns daran erinnert, wo wir herkommen, und zwar aus einer Welt voller Berührungen, die dem ganzen Körper schmeicheln und ihn liebkosen.

Meine Vision

Mit diesem Buch möchte ich Sie als Lesende mit dieser besonderen Form der achtsamen sinnlichen Massage bekannt machen. Es handelt sich um eine Berührungsform, die einzeln selbst erfahren, aber auch in Gruppenseminaren erlernt und praktiziert werden kann. Durch das Selbsterfahren, Erlernen und Praktizieren werden eine positive Erweiterung des eigenen sexuellen Repertoires sowie die Lösung verschiedener Probleme des Sexuallebens des Menschen möglich. Und genau diese positiven Veränderungen werde ich in diesem Buch beschreiben. Durch die persönlichen Geschichten von Sarah, Marion und Anton werden wir erfahren, welches ihre Beweggründe waren, sich auf diese Erfahrung einzulassen. Diese drei Menschen werden uns erzählen, was sich durch diese Erfahrung in ihrem Sexualleben positiv verändert hat. Ihre Erzählungen sind mit Kommentaren und Erklärungen ergänzt worden, die den jeweiligen Aspekt anschaulicher machen. Übungen und Anleitungen sollen Sie darüber hinaus dazu motivieren, bestimmte Aspekte zu vertiefen und selbst erste Schritte in die Welt der achtsamen sinnlichen Berührungspraxis zu gehen.

Herkunft der Tantramassage

Als Tantramassage bzw. achtsame sinnliche Berührung wird in diesem Buch eine Form von Berührung bezeichnet, die in den letzten vierzig Jahren in Deutschland entstanden ist und die hauptsächlich Andro Andreas Rothe und sein Team im Diamond-Lotus Institut in Berlin entwickelt, praktiziert und vermittelt haben. Andro ist einer der ersten und bekanntesten Tantra-Lehrenden Deutschlands. Während seiner langjährigen Aufenthalte im arabischen Nordafrika, dem mittleren Osten und Indien lernte Andro byzantinische und asiatische Massageformen kennen und entwickelte daraus diese besondere Form von Massage, die er als Heilmassage definiert. Seine weitere Ausbildung absolvierte er am Medical Center des Dalai Lama. Er studierte Yoga in Poona und ist ordinierter Zen-Mönch und Meister des Bogen-Zen.4

Die Tantramassage ist eine radikale, gesellschaftlich zurzeit noch kaum akzeptierte innovative Behandlungsmethode. Sie fasst in der aktuellen Version Grundlagen und Methoden aus verschiedenen fundierten Massagetechniken sowie Elemente aus Bioenergetik, Yoga, Meditation und Sexualtherapie auf integrative Weise zusammen. Der Körper wird nicht als Hülle, als reine Materie betrachtet, sondern als lebendiges Zuhause der Seele, als Verkörperung des Geistes. Dementsprechend wird ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Körper, Geist und Seele werden als Einheit wahrgenommen. Die Berührungen bleiben nicht lediglich an der Oberfläche des Körpers, sondern gehen oft „unter die Haut“ und erreichen damit tiefere seelische Schichten. Dabei werden Selbstheilungsprozesse in Gang gesetzt. Schmerzvolle Stellen oder negative Erinnerungen können dank dieser Berührungen allmählich dahinschmelzen und integriert werden. Man erlebt zunehmend eine tiefe Verbundenheit mit sich selbst.

Sind Sie neugierig geworden? Möchten Sie auch auf Ihre Insel begleitet werden? Vielleicht haben Sie Lust bekommen, Ihre*n Partner*in zu begleiten? Fangen Sie mit einer kleinen Reise an, zunächst einfach so, intuitiv, wenn Sie bereits beisammen liegen. Nehmen Sie sich fünf bis zehn Minuten Zeit, Ihre*n Partner*in zu berühren. Achten Sie darauf, dass Sie bequem und so nah wie möglich am Körper sitzen, sodass Sie ihn mit beiden Händen berühren können. Nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge und entspannen Sie Schultern und Arme. Legen Sie dann Ihre Hände auf den Körper des*der anderen und verweilen Sie dort. Gehen Sie in Kontakt mit dem Lebendigen, mit den Bewegungen des Atems in Ihrem Körper und im Körper Ihres Gegenübers. Von dort aus lassen Sie Ihre Hände gleiten, als würden Sie die Landschaft dieses Körpers zum allerersten Mal sehen und fühlen. Folgen Sie der Lust Ihrer Hände, genießen Sie selbst die Streicheleinheiten, die Sie schenken, liebkosen Sie die ganze Haut und schmeicheln Sie ihr mit ruhigen und sanften Berührungen.

Tantra und Neo-Tantra

Tantra ist historisch gesehen eine in Indien entstandene esoterische Form des orthodoxen Hinduismus und später des Buddhismus. Die Ursprünge des Tantra liegen in den frühgeschichtlichen, möglicherweise matriarchalischen Kulturen des zweiten Jahrhunderts n. Chr., in voller Ausprägung existiert die Lehre jedoch frühestens seit dem 7./8. Jahrhundert. Als charakteristisch für matriarchalische Kulturen wird häufig die „natürliche“ Verbindung von Spiritualität und Sexualität angesehen, die als göttliche Lebenskraft rituell zelebriert und im Alltag gefeiert wird. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden zahlreiche Strömungen und Traditionen des Tantra, die keine eindeutige Übertragungslinie erkennen lassen. Die Kolonialisierung Indiens und das Interesse zahlreicher Gelehrter brachte die alte Tradition des Tantra in den Westen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema blieb allerdings als Studium östlicher Religionsformen meistens eher theoretisch.5 Sir Richard Francis Burton war einer der ersten Gelehrten, der sich intensiver mit Tantra befasste und verschiedene Texte ins Englische übersetzte.6 Die Auslegung der tantrischen Lehren und ihre Wirkung im Westen (und in Indien selbst) sind auch heute noch sehr unterschiedlich und vielfältig. Die Verbreitung des Tantra im Westen bzw. dessen, was heute im Westen unter Tantra verstanden und als solches praktiziert wird, geht hauptsächlich auf den indischen Philosophen und Lehrer Osho zurück.7

Das Innovative an seiner Lehre ist die Verknüpfung moderner (körper-)therapeutischer Ansätze, die auf Wilhelm Reich zurückzuführen sind, mit den Lehren des traditionellen Tantra, woraus er das sogenannte Neo-Tantra schuf, eine Form der Körperarbeit, deren verschiedene Interventionen in den vielfältigen körpertherapeutischen Methoden wiederzufinden sind.8 Das Neo-Tantra nach Osho hat auch in Deutschland Fuß gefasst und wird in allen...