Tiere im Nationalsozialismus (eBook)

(Autor)

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2020
288 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26679-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tiere im Nationalsozialismus - Jan Mohnhaupt
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Tiere in Alltag und Ideologie der Diktatur: Jan Mohnhaupt erzählt ein bisher vernachlässigtes Kapitel der NS-Geschichte.
Kartoffelkäfer als Kriegswaffe, Schweine zur 'Volkserziehung' - Tiere wurden von den Nazis vereinnahmt. Die Hundezucht diente ihnen als Vorbild für ihren Rassenwahn. Insekten waren Teil der Kriegsvorbereitung. Und der Hirsch sollte den Mythos vom 'deutschen Wald' stützen. In Tagebüchern, Fachzeitschriften, Schulfibeln und Propagandamaterial stößt Jan Mohnhaupt auf Tiere und ihre besondere Rolle im Nationalsozialismus. Im Stil einer historischen Reportage begibt er sich auf ihre Spuren, von den Pferden an der Ostfront bis zu den Katzen in deutschen Wohnzimmern. Er macht deutlich: Auch in diesem Ausschnitt der NS-Geschichte zeigt sich das nationalsozialistische Weltbild überraschend klar.

Jan Mohnhaupt wurde 1983 im Ruhrgebiet geboren. Er ist als freier Journalist und Autor für verschiedene Magazine und Zeitungen wie Spiegel Online, Zeit Online und P.M. History tätig. 2017 erschien im Hanser Verlag sein Buch Der Zoo der Anderen, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Er lebt und arbeitet in Magdeburg.

Prolog

Die Welt hinter dem Draht


Welche erstaunliche Hierarchie unter den Tieren!

Der Mensch sieht sie so, wie er sich ihre Eigenschaften gestohlen hat.

Elias Canetti, Die Provinz des Menschen

Mitten in Deutschland, am Nordhang eines Berges im Schatten von Buchen und Eichen, liegt ein Zoo. Nur ein sehr kleiner zwar, aber neben einem Goldfischteich, Affen und Volieren für Vögel beherbergt er sogar einen Bärenzwinger. Dieser misst etwa zehn mal fünfzehn Meter. Ringsherum stehen Bänke für die Männer, die hier ihre Mittagspause verbringen. Einige von ihnen necken die Affen, andere schauen zwei jungen Braunbären zu, die sich auf ihre Hinterbeine gestellt haben und sich mit erhobenen Vorderpranken durchs Gehege zu schieben versuchen. Karl Koch hat den kleinen Zoo errichten lassen, wie er in einem offiziellen Schreiben mitteilt, um seinen Mitarbeitern »Zerstreuung und Unterhaltung« zu bieten und »Tiere in ihrer Schönheit und Eigenart vorzuführen, die sie sonst in freier Wildbahn zu beobachten und kennen zu lernen kaum Gelegenheit haben«.1

Die Männer, die den Zoo errichtet haben, sind gleich nebenan, »hinter dem Draht«, wie Koch den drei Meter hohen und drei Kilometer langen Elektrozaun nennt. Dahinter erstreckt sich eine weite abschüssige Fläche. Im Sommer ist sie trocken und staubig, im Winter fegen eisige Winde über sie hinweg. Endlose Reihen von hölzernen Baracken stehen hier dicht an dicht.

Der »Zoologische Garten Buchenwald«, wie der kleine Tierpark offiziell heißt, und das gleichnamige Konzentrationslager liegen weniger als einen Steinwurf voneinander entfernt. Vom Krematorium bis zum Bärenzwinger sind es vielleicht zehn, höchstens fünfzehn Schritte. Der »Draht« dazwischen war einst die Grenze zwischen dem Buchenwald der Häftlinge und dem der Wachmänner, Aufseher und Zivilarbeiter. Er bildete die Grenze zwischen Mensch und Tier auf der einen und »Untermensch« auf der anderen Seite. Der »Draht« trennte Welten.

Nur wenig erinnert heute noch an den Zoo, den die SS 1938 als »Freizeitbereich« direkt neben dem Lager errichten ließ. 1993 begann die Gedenkstätte Buchenwald damit, die Überreste freizulegen. Einige Grundmauern waren erhalten geblieben, darunter der Bärenzwinger, der die Zeiten unter Gestrüpp und Laub überdauert hatte. »Wir wollten den Zoo wieder sichtbar machen«, sagt Rikola-Gunnar Lüttgenau, der Sprecher der Gedenkstätte. Dies habe vor allem didaktische Gründe gehabt: »Es ist irritierend, sich vorzustellen, wie die Nazis mit ihren Kindern den Zoo besuchten und Tiere beobachteten, während nebenan Menschen starben. Weil man erkennt, dass ein Teil der eigenen Normalität, wie eben ein Zoo, auch zu einer Welt gehören kann, der man sich überhaupt nicht zugehörig fühlt.«

Wer heute die Gehegeruine besichtigt, um die niedrige Ziegelmauer und die Überreste des Kletterfelsens herumgeht, bekommt noch einen Eindruck von der unmittelbaren Nähe dieses einstigen Idylls zum KZ Buchenwald. Der Zoo diente offenbar als eine Art »spanische Wand«, die zwar nichts verbarg, aber den Bereich der Aufseher doch vom Lager der Häftlinge abschirmte. »Die SS hat es sich schön gemacht«, sagt Lüttgenau.

Die Forschungen zum Lagerzoo sind bislang recht dürftig, dennoch taucht er als Ort immer wieder auf, sowohl in historischen Darstellungen als auch in Zeitungsartikeln und in Aufzeichnungen früherer Häftlinge.2 Den Autor Jens Raschke inspirierte er 2014 außerdem zu einem Theaterstück für Kinder: »Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute«, lautet der Titel. Er bezieht sich auf eine Anekdote, die sich in einem Zeitzeugenbericht findet.3 Demnach soll, zumindest für kurze Zeit, ein Nashorn im Zoo von Buchenwald gelebt haben. Sabine Stein leitet das Archiv der Gedenkstätte und kennt diese Geschichte. Beweisen lässt sie sich jedoch nicht: »Ich habe immer wieder Überlebende, die zu Gedenkveranstaltungen hier zu Besuch waren, danach gefragt«, sagt Stein. »Aber an ein Nashorn konnte sich keiner erinnern.«

Während das Nashorn wohl eine Legende ist, war der Zoo von Buchenwald real und außerdem nicht der einzige seiner Art. Selbst im Vernichtungslager Treblinka gab es zur Zerstreuung für die Wachmannschaften einen Taubenschlag sowie Käfige mit Füchsen und anderen Wildtieren.4

Den Zoo von Buchenwald haben die Häftlinge bauen müssen. Die Tiere, die vor allem aus dem Leipziger Zoo stammten, hatte man von dem geringen Lohn angeschafft, den die Gefangenen für ihre Zwangsarbeit in den umliegenden Fabriken, Werkstätten und Steinbrüchen erhielten.5 Verletzten sich Tiere, wurde dies nicht selten den Häftlingen angehängt. Starb eines, mussten diese auch den Ersatz bezahlen, in Form einer »freiwilligen Umlage«.6

Die Posten als Tierpfleger waren begehrt, vor allem die beim Bärenzwinger, denn wer dort eingesetzt wurde, hatte stets Zugang zu Fleisch und Honig. Wer einmal dort gearbeitet hatte, wollte die Stelle nicht mehr hergeben. Auch Hans Bergmann war bereit, einiges dafür zu riskieren. Der jüdische Häftling schrieb im Oktober 1939 einen Brief an den Ersten Lagerleiter und bat diesen »gehorsamst« darum, wieder bei den Bären arbeiten zu dürfen, da der jetzige Pfleger mit den vier Tieren — darunter das trächtige Weibchen »Betty« — nicht allein fertigwerde, aber alles getan werden müsse, um ihre Jungen durchzubringen. Außerdem, notierte er, »hänge ich sehr an den Tieren und bin sicher überzeugt, in einigen Wochen zusammen mit dem Zigeuner die 4 Bären restlos in Apell (sic!) zu bringen und die Jungen gross zu ziehen«.7

Tatsächlich setzten die Wachmannschaften für die Arbeit mit den Bären bevorzugt Sinti und Roma ein, wie Sprecher Lüttgenau bestätigt. Die »Zigeuner« — so besagte es das damals gängige rassistische Klischee — verdingten sich als Artisten und Gaukler, die nicht selten auch Tanzbären zur Schau stellten. »Deshalb ging die SS offenbar davon aus, dass sie ›von Natur aus‹ besonders gut mit diesen Tieren umgehen konnten«, sagt Lüttgenau.

Der Lagerführer leitete Bergmanns Brief an seinen Vorgesetzten, Karl Koch, weiter. Koch war der Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald. Er wohnte am Südhang des Berges, auf der Sonnenseite, wo er außerdem den »SS-Falkenhof« hatte errichten lassen, mit Käfigen für Eulen, Adler und Raben sowie Gattern für Wölfe, Hirsche und Wildschweine. Während der Zoo neben dem Lagerzaun nur den Wachmannschaften und Zivilarbeitern von Buchenwald vorbehalten war, durfte die Bevölkerung Weimars den Falkenhof an den Wochenenden besuchen. Der Zoo war ihnen jedoch auch bekannt, denn die SS vertrieb in der Stadt Postkarten, auf denen die Braunbären von Buchenwald beim Spielen abgebildet waren.8 »Zoo Buchenwald« stand daneben.

Die Bären von Buchenwald. Ansichtskarten wie diese vertrieb die SS auch im nahen Weimar.

Auch Ilse Koch, die Frau des Lagerkommandanten, spazierte oft mit ihren Kindern durch den kleinen Tierpark. Und stets führte sie ihr Weg am »Draht« entlang. Obwohl es ansonsten streng verboten war, dort zu fotografieren, finden sich Bilder im Familienalbum, die Karl Koch mit seinem Sohn Artwin beim Füttern und Streicheln der Tiere zeigen.9 Einige Jahre später sollte Ilse Koch vor einem amerikanischen Militärgericht stehen und behaupten, weder den Zaun noch das Lager dahinter bemerkt zu haben.10

Karl Koch war darauf bedacht, dass die Tiere nicht geärgert wurden, und verbat per Kommandanturbefehl »jegliches Füttern und Necken«.11 Wer den Tieren dennoch etwas antat, wer etwa über die Mauer zum Bärenfelsen kletterte oder sich auch nur an einen der Käfige lehnte, musste damit rechnen, bestraft zu werden. Das galt auch für die...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Adolf Hitler • Alltagsgeschichte • Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus • Animal Studies • Antisemitismus • Bernhard Bleeker • blondi • Bronzehirsch • Bronzestatue • Buchenwald • Carinhall • Dackel • Deutscher Schäferhund • deutscher Wald • deutsche Waidgerechtigkeit • Dreißiger Jahre • „Drittes Reich“ • Eugenik • Eva Braun • Feldpost • Ferdinand Sauerbruch • Foxl • Frontbericht • Haustier • Haustierverbot • Herman Göring • Hirsch • Historische Reportage • Human-Animal-Studies • Hunde im Nationalsozialismus • Hundezucht • Insekten • Internationale Jagdausstellung • Jagd • Jagdliches Brauchtum • Jagdwesen • Jägermeister • Joseph Goebbels • Judenhass • Kamerad Pferd • Kartoffelfibel • Kartoffelkäfer • Katzen • Konrad Lorenz • Konzentrationslager • Nationalsozialismus • Nazis • NSDAP • NS-Geschichte • Obersalzberg • #ohnefolie • ohnefolie • Ostfront • Panzer • Panzer Panther • Parasit • Pferde im Nationalsozialismus • Primo Levi • Propaganda • Rassengesetze • Rassenlehre • Rassenwahn • Raubkatze • Raufbold • Reichsjagdgesetz • Reichsjägermeister • röhrender Hirsch • Rominter Heide • Rote Armee • Schorfheide • Schweine • Seidenraupen • Stalingrad • Tagebücher • Terrier • Tiergeschichte • Tierrechte • Tierschutz • Tierschutzgesetze • Traudel Junge • Trophäenjagd • Unternehmen Barbarossa • Vegetarismus • Vernichtungslager • Victor Klemperer • Vierziger Jahre • Wehrmacht • Wild • Wolf • Wolfszeit • Zoo der Anderen • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-446-26679-8 / 3446266798
ISBN-13 978-3-446-26679-7 / 9783446266797
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