Couchsailing (eBook)

Wie ich per Anhalter über den Atlantik reiste

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32065-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Couchsailing -  Timo Peters
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Per Anhalter über den Atlantik! Eine wahre Abenteuergeschichte, die zwischen Europa, Afrika und Südamerika in den Weiten des Ozeans spielt: Eine Reise nach Brasilien im Segelboot. Per Anhalter. Timo Peters hat kein Boot, so gut wie keine Segelerfahrung und kaum Geld - nur die verrückte Idee, den Atlantik zu überqueren. In Gibraltar hat er schließlich Glück: Eine Mitsegelgelegenheit zu den Kanaren! Dort findet er das nächste Boot, und nach einem Stopp auf den Kapverden und unzähligen dramatischen, wundervollen und unvergesslichen Erlebnissen erreicht er Südamerika. Unterwegs taucht er ein in die skurrile Community der Weltumsegler. Er trinkt Champagner mit Millionären und lauscht den Geschichten stolzer Kapitäne. Doch zwischen den winzigen Inseln inmitten des Nichts treiben sich auch jede Menge Träumer, Hippies und Hasardeure herum. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie wollen ausbrechen aus dem Alltag und sich auf die Suche machen nach der ganz großen Freiheit.

Timo Peters lebt und arbeitet als freiberuflicher Journalist für diverse Zeitungen und Magazine in Norwegen. Nebenbei betreibt er den Abenteuerblog »bruderleichtfuss.com« und das Onlinemagazin »Fjordwelten«. 

Timo Peters lebt und arbeitet als freiberuflicher Journalist für diverse Zeitungen und Magazine in Norwegen. Nebenbei betreibt er den Abenteuerblog »bruderleichtfuss.com« und das Onlinemagazin »Fjordwelten«. 



34° 23' 03.5" N – 008° 09' 10.3" W


Tag 11 der Reise

In meinem Kopf aber herrscht seit ein paar Stunden das Chaos. Irgendwann heute Nachmittag realisierte ich, dass der Moment gekommen war, dem ich seit Monaten entgegengefiebert hatte: kein Land mehr in Sicht! Meine Welt ist von jetzt an in zwei Hälften geteilt: oben der Himmel, unten das Wasser. Zwei Blautöne, getrennt von einer hauchdünnen und kreisrunden Linie. Egal in welche Himmelsrichtung ich mich drehe, ich sehe den Horizont. Ein Gefühl der absoluten Freiheit wollte ich jetzt verspüren. Endlich richtiges Hochseesegeln, auf den Spuren der großen Entdecker und Abenteurer! Die Nase im Seewind, eine Hand am Ruder und die Augen immer Richtung Karibik – so hatte ich mir das vorgestellt.

Stattdessen krallen sich meine beiden Hände so fest an das dünne Drahtseil der Reling, dass ich das Weiße auf meinen Handknöcheln sehen kann.

Eigentlich wäre es gerade meine Aufgabe, das Meer und den Horizont zu beobachten und nach Schiffen Ausschau zu halten, die unseren Kurs kreuzen könnten. Dafür hat Captain Randy mich an Bord genommen, als wir vorgestern abgelegt sind: als Unterstützung für den Ausguck. Randy kommt aus Colorado in den Vereinigten Staaten, ist 52 Jahre alt und eigentlich ein »Einhandsegler« – er segelt sein Schiff in der Regel allein und ohne die Hilfe einer Crew. So hat er im vergangenen Frühjahr den Atlantik überquert, von Florida nach Frankreich. Jetzt ist er auf dem Rückweg, der ihn zunächst entlang der Küste Marokkos in den Süden führt, zu den Kanarischen Inseln. Hier herrscht eine Menge Verkehr: Tanker und Containerschiffe teilen sich diesen wichtigen Seeweg, Kreuzfahrtriesen und vor allem eine Menge kleiner marokkanischer Fischerboote ohne moderne Ausrüstung. Um dieses Gewimmel jederzeit im Auge zu haben, hat Randy beschlossen, für dieses Teilstück ausnahmsweise jemanden bei sich an Bord zu haben.

Im Moment bin ich ihm jedoch keine große Hilfe. Zwar starre ich hinaus auf das Meer, meine Gedanken drehen sich aber nicht um unseren Kurs und den der anderen Schiffe in diesem Seegebiet. Sie drehen sich um alle möglichen Horrorszenarien: Wie weit mag es von hier aus zur Küste sein? Was, wenn mir hier was passiert? Oder Randy? Ich könnte die Mystique auf keinen Fall allein manövrieren. Oder? Mein Blick folgt jetzt dem roten Seil, das vor meinen Füßen entlangläuft bis nach vorne zum Bug. Keine Ahnung, wohin genau, aber es steht unter Spannung, muss also wichtig sein. Scheiße, denke ich und überlege, wie ich aus der Nummer hier herauskomme.

Ungefähr 55 Seemeilen sind es von hier aus zur Küste von Marokko, gute hundert Kilometer. Wie weit können eigentlich Rettungshubschrauber fliegen? Würde so ein Helikopter uns hier überhaupt noch erreichen und wie lange bräuchte er dafür wohl?

55 Seemeilen … die Mystique schafft im Schnitt bislang so fünf Meilen in der Stunde … wir bräuchten also elf Stunden, um Land zu erreichen.

Könnten wir bei diesem Wind überhaupt nach Afrika segeln?

Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Oder sie springen im Zickzack. Ob Kolumbus sich auch so gefühlt hat, als er nach Amerika aufbrach? Sicher nicht, denke ich, vielleicht die Schiffsjungen. Wobei selbst die Schiffsjungen im 15. Jahrhundert wahrscheinlich härtere Typen waren, als ich es bin.

Wie schnell ist wohl ein professionelles Rettungsboot? Bestimmt fünfmal so schnell wie wir. Wäre also in zwei Stunden hier, das geht.

Wobei: Wo ist wohl die nächste Stadt, in der so ein Speedboat auf meinen Funkspruch wartet? Und gibt’s in Marokko überhaupt so moderne Schiffe? Bislang habe ich hauptsächlich klapprige alte Fischerboote gesehen …

TIMO! Beruhig dich!

Ich muss versuchen, meine Gedanken zu ordnen. Also versichere ich mir: Alles läuft hier absolut nach Plan. Mein größter Traum ist gerade dabei, in Erfüllung zu gehen. Wenn mir vor einer Woche jemand gesagt hätte, wo ich mich heute befinden würde, hätte ich das mit Kusshand genommen! Ich bin an Bord einer hochmodernen Segelyacht mit der besten Ausrüstung, die man sich wünschen kann. Anders als Christopher Kolumbus’ Santa Maria hat die Mystique eine Radaranlage, wir haben Funkgeräte an Bord, GPS natürlich und AIS, ein Navigationssystem, das auch von der professionellen Hochseeschifffahrt genutzt wird. Über das Satellitentelefon bekommen wir Wetterinfos und E-Mails, theoretisch könnte ich jederzeit meine Mama anrufen. Apropos Wetter: Es könnte nicht besser sein und aller Voraussicht nach wird es auch in den kommenden Tagen so bleiben.

»Es gibt keinen Grund, Angst zu haben!«, sage ich jetzt laut zu mir selbst.

Es funktioniert, denke ich und merke, wie meine Hände sich ein wenig entkrampfen. Entspann dich, Timo, locker bleiben. Dein Captain hat jede Menge Erfahrung. Was sagte Randy, als wir uns kennenlernten? Die Mystique ist schon sein drittes Segelschiff, er war schon auf dem Pazifik unterwegs und kennt den berüchtigten Golf von Mexiko wie seine Westentasche. Dort hat er irgendwann in den Neunzigern das »Yachtmaster Ocean Certificate« erworben, das ist der größte und schwierigste Segelschein, den man überhaupt machen kann. Ich durfte auch einen Blick in sein persönliches Logbuch werfen: 50.000 Seemeilen sind da vermerkt. Rein rechnerisch hat Randy die Welt also schon mehr als zweimal umrundet. Einen besseren Skipper hätte ich nicht finden können!

Okay, es wird besser, merke ich und lasse meinen Blick über den Horizont schweifen. Rechts von der Mystique, oder steuerbord, wie ein echter Segler sagen würde, funkelt das Meer jetzt geradezu. Orangerot blitzt es an einer Million Stellen gleichzeitig auf. Einige Vögel scheinen diesen spektakulären Sonnenuntergang zu nutzen, um sich zu ihrer nächtlichen Angeltour aufzuraffen. Ganz in der Nähe des riesigen Feuerballs, der gerade im Westen in den Atlantik taucht, schießen sie immer wieder ins Wasser, bis sie schließlich mit ihrer Beute im Schnabel abdrehen und verschwinden.

Auch Randy kümmert sich anscheinend gerade um das Essen. Bis eben hat er in seiner Koje geschlafen, jetzt dringen Klappergeräusche aus der Bordküche zu mir an Deck. Das war keinen Moment zu früh, denke ich. Zum Glück hat Randy meine kleine Krise nicht mitbekommen! Die Blöße möchte ich mir echt nicht geben.

Also stürze ich nicht gleich nach unten zu meinem Captain, sondern wische mir den kalten Schweiß von der Stirn und lasse mir noch ein bisschen Wind um die Nase wehen.

Einige Minuten stehe ich so da und schaffe es jetzt auch, mich auf meine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren: Im Norden hat gerade ein Containerschiff seine Positionslichter eingeschaltet, ich sehe ein schwaches grünes Leuchten – das Schiff ist also in Richtung Osten unterwegs. Vielleicht fährt es ins Mittelmeer, vielleicht läuft es aber auch einen marokkanischen Hafen an, Casablanca, Rabat oder Tanger. Ich werde es nicht erfahren, denn es ist weit weg und wird bald hinter dem Horizont verschwinden.

Gut für uns, denke ich noch, hier besteht ganz sicher keine Kollisionsgefahr. Da steckt Randy seinen Kopf durch die Luke: »Wie läuft’s hier oben, alles gut?«, fragt er. Ich erschrecke mich ein bisschen und höre mich noch »Alles super« sagen, bevor ich einen Satz zur Seite mache und mich in hohem Bogen über die Reling übergebe.

Na klasse, denke ich. Wie sehr wird Randy jetzt bereuen, dass er mir eine Koje angeboten hat. Statt auf der Reise zu den Kanaren jemanden dabeizuhaben, der mitanpacken kann, hat er jetzt einen nutzlosen Mitesser an Bord, um den er sich noch zusätzlich zu kümmern hat. Ich fühle mich elend und bin mir nicht sicher, was gerade am schlimmsten ist: die Übelkeit? Das schlechte Gewissen oder die Scham? Oder die Gewissheit, dass es noch mindestens sieben Tage dauern wird, bis ich wieder festen Boden unter meinen Füßen habe?

Randy lässt sich nichts anmerken, er gibt sich verständnisvoll und erzählt mir von seinen Erfahrungen mit Seekrankheit, die ja fast jeder Segler schon mal gehabt hätte. Ich kann ihm leider nur halb zuhören, so sehr bemitleide ich ihn und mich selber. »Ich bin nicht seekrank«, stammle ich und merke dabei, wie unglaubwürdig sich das anhören muss. Randy scheint mich gerade auch nicht ernst zu nehmen, denn jetzt reicht er mir eine Packung mit Tabletten gegen Seekrankheit. Ich bemerke, dass sie tatsächlich schon geöffnet ist und einige Pillen fehlen – für einen Augenblick kann ich mich darüber freuen.

Eigentlich möchte ich trotzdem keine schlucken, aber ich bin jetzt zu schwach, um mich zu wehren. Ich spüle eine der Tabletten hinunter und frage mich, wie ich mich jetzt weiter verhalten soll. Aber Randy, ganz der Captain, hat schon einen Plan: »Ich habe geschlafen, fühle mich gut«, sagt er, »jetzt übernehme ich.« Ich schaue auf die Uhr und unterdrücke kurz den Impuls, ihm zu widersprechen: Es ist gerade einmal sieben Uhr und ich habe laut Plan noch den größten Teil meiner Schicht vor mir. Aber ich lasse die Dinge jetzt einfach geschehen und wehre mich nicht, als Randy mich in meine Koje schickt. »Du schläfst dich jetzt erst mal aus und morgen sieht die Welt dann ganz anders aus!«

Das bezweifle ich stark, denke ich, als ich die Treppe hinuntersteige und zu meiner Koje im hinteren Teil der Mystique wanke. Dort ziehe ich mich aus und drücke mein Gesicht in das Kopfkissen. Wie soll ich die nächste Woche bloß überstehen? Wie wird Randy morgen mit mir umgehen? Hält dieses bescheuerte Gefühlschaos jetzt wirklich noch tagelang an? Falls...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2021
Zusatzinfo 5 s/w-Karten und 8-seitiger Farbbildteil
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte
Schlagworte Abenteuer • Atlantiküberquerung • Aussteiger • Backpacker • Brasilien • bruderleichtfuss • CouchSurfing • Reisetagebuch • Sabbatical • Segeln • Weltreise
ISBN-10 3-462-32065-3 / 3462320653
ISBN-13 978-3-462-32065-7 / 9783462320657
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