Wurzeln des Lebens (eBook)
180 Seiten
Morawa Lesezirkel (Verlag)
978-3-99084-616-2 (ISBN)
Mag. Doris Ahlea Moser ist Medizinanthropologin, Autorin, Geburtsbegleiterin und Ritualleiterin. Sie ist zweifache Mutter und lebt mit ihrer Familie in Wien. Sie widmet sich vor allem der Aufklärung werdender Mütter und tritt aktiv für das Selbstbestimmungsrecht der Frau ein.
Einleitung
Jede Frau, die ein Kind geboren hat, hat auch eine Plazenta zur Welt gebracht. Doch während dem Neugeborenen natürlicherweise viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, geht die Nachgeburt im Trubel des Geschehens leicht unter. Kaum jemand fragt danach. Kaum jemand berichtet über die Plazentageburt – außer es kam möglicherweise zu Komplikationen während der Nachgeburtsphase. Der Plazenta wird allgemein wenig Beachtung geschenkt. Und trotzdem habe ich mir in den Kopf gesetzt, ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Warum mache ich das?
Meine eigene Plazenta verlor ich unmittelbar mit meiner Geburt. Ich kam im Operationssaal zur Welt und wurde sofort von meiner Plazenta getrennt. Während ich versorgt und meine Mutter wieder zugenäht wurde, wurde meine Plazenta wohl im Krankenhausmüll entsorgt. Eventuell wurde sie auch für kosmetische oder wissenschaftliche Zwecke verwendet. Das war zum Zeitpunkt meiner Geburt durchaus üblich. Heute ist nicht mehr nachvollziehbar, was tatsächlich mit meiner Nachgeburt geschah.
Meine erste Tochter wurde in einem Krankenhaus geboren. Obwohl die Geburt äußerst strapaziös war (und sie vom Auspulsieren der Nabelschnur profitiert hätte), wurde meine Tochter sofort abgenabelt. Wenig später wurde die Plazenta wenig liebevoll aus meinem Körper gezogen. Die Hebamme übte dazu Druck auf meinen Bauch aus und zog an der Nabelschnur. Obwohl ich mir vor der Geburt wenig Gedanken um die Nachgeburt gemacht hatte und sie für mich nicht sonderlich bedeutsam war, wurde meine Neugierde durch die Geburt der Plazenta geweckt. Plötzlich fand ich sehr spannend, was da noch zusätzlich von mir geboren worden war. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich die Hebamme bat, mir die Plazenta zu zeigen. Sie stand am Fußende des Bettes und hielt die Plazenta kurz hoch. Einem inneren Impuls folgend wollte ich die Plazenta anfassen. Ich war sehr gespannt, wie dieser rötliche Fleischklumpen, glänzend und blutig, sich wohl anfühlen würde. Ich stellte mir die Berührung sehr weich und warm vor. Doch die Hebamme erfüllte meine Bitte nicht. „Das geht nicht! Das ist hoch infektiös!“, war ihre Antwort. Und damit drehte sie sich um und ging mit der Plazenta weg, um sie im Müll zu entsorgen. Obwohl mir vom Verstand her absolut klar war, dass die Hebamme mich angelogen hatte und die Plazenta meines Kindes selbstverständlich nicht „hoch infektiös“ war, sagte ich in diesem Moment kein Wort mehr. Irgendwie war ich so unmittelbar nach der Geburt - erschöpft und im Hormonrausch - nicht in der Lage die Sache mit der unfreundlichen Hebamme auszudiskutieren. Warum sie mir die Berührung der Plazenta verwehrt hat, weiß ich nicht. War es Bequemlichkeit? Boshaftigkeit? Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass diese fehlende Möglichkeit der Berührung der Plazenta und die dreiste Lüge der Hebamme letztendlich dazu führten, dass mein Interesse an der Nachgeburt geweckt wurde. Die Plazenta meiner Tochter ist – ebenso wie meine eigene Plazenta – verloren gegangen. Ich weiß aber auch, dass es ohne diese unliebsame Begebenheit im Kreißsaal dieses Buch nicht geben würde. Ungerechtigkeiten wecken in mir immer eine Art Kämpfergeist. Ich empfand es als Ungerechtigkeit, dass mir die Berührung der Plazenta meiner Tochter verwehrt wurde. Ich war traurig darüber, dass mir niemand bereits im Vorfeld gesagt hatte, wie bedeutsam und wichtig die Plazenta für meine Tochter sei.
Mein Interesse war also geweckt und ich begann, mich intensiv mit der Nachgeburt zu beschäftigen. Während meiner Ausbildung zur Doula, die ich einige Zeit nach der Geburt meiner ersten Tochter begonnen hatte, waren die Plazenta und der Umgang mit der Nachgeburt ein wichtiges Thema. Ich lernte unterschiedliche Methoden der Plazentaverarbeitung kennen und konnte diese auch bald selbst anwenden. Einige der Frauen, die ich während ihren Schwangerschaften und Geburten begleiten durfte, vertrauten mir ihre Nachgeburten an, um daraus Erinnerungsstücke und kleine Kunstwerke zu schaffen. Diesen Frauen bin ich bis heute dankbar, denn der Kontakt mit den Nachgeburten ihrer Kinder bewirkte bei mir einen gewissen Grad an Heilung. Ich fand es äußerst angenehm, die weichen Gewebe der Plazenten zu berühren, die zarten und doch so strapazierfähigen Eihäute zwischen meinen Fingern zu spüren, die Nabelschnüre, zäh und doch so beweglich, zu kleinen Schmuckstücken zu verarbeiten. Den ganz speziellen Duft in meiner Nase, der den Nachgeburten so eigen ist. Ich genoss die Arbeit mit diesen gewöhnungsbedürftigen Geweben und ich bin meinem Mann sehr dankbar dafür, dass er meine Plazentaprojekte in unserer Wohnung so wohlwollend in Kauf nahm. Heilung durfte geschehen.
Heilung geschah auch, als ich meine zweite Tochter zur Welt brachte. Ihre Geburt war ganz anders: zuhause im Kreis meiner Familie, mit meiner eigenen Hebamme, mit meiner eigenen Doula. Und auch die Plazentageburt war ganz anders. Zwar wollte ich Kind und Plazenta ursprünglich erst trennen, nachdem auch die Nachgeburt geboren war, aber nachdem die Nabelschnur auspulsiert war, empfand ich sie als äußerst unangenehm und störend und so durchtrennten mein Mann und meine ältere Tochter die Nabelschnur mit Hilfe der Hebamme. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange es danach dauerte, bis die Plazenta geboren wurde, aber ich habe die Zeit nach der Geburt meiner Tochter als absolut stressfrei und entspannt in Erinnerung. Irgendwann nahm mein Mann unsere neugeborene Tochter an seinen nackten Oberkörper und die Hebamme half mir noch einmal auf den Gebärhocker. Dort konnte ich dann mit einem leichten Schieben nach unten die Plazenta in eine vorbereitete Schale gebären. Das Gefühl, wenn die Nachgeburt aus dem Körper gleitet, ist beinahe angenehm. Ganz leicht und weich schiebt sich das fleischige Gewebe durch den Geburtskanal und gleitet sanft heraus. Ein Stück der Plazenta nahm ich anschließend gemeinsam mit roten Fruchtsäften als Plazentacocktail zu mir. Doula und Hebamme fertigten einen gemeinsamen Plazentaabdruck an. Der Rest wurde erstmal eingefroren, damit ich später einmal Schmuckstücke daraus anfertigen würde.
Mein Interesse an der Nachgeburt wurde also durch meine eigene Geschichte, durch meine ganz persönlichen Erfahrungen geweckt. Den physischen Umgang mit den Nachgeburten anderer Frauen und mit der Plazenta meiner Tochter empfand ich als natürlich und heilsam. Als Medizinanthropologin war ich aber auch an einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Nachgeburt interessiert und ich begann intensiv zu recherchieren und zu forschen. Bald fand ich spannende Erzählungen und Berichte, wie Menschen anderswo auf der Welt mit der Nachgeburt umgehen und wie der Umgang mit der Plazenta in der Vergangenheit auch in unseren Breitengraden mit Achtsamkeit und Respekt erfolgte. Ich begann Vorträge zum Thema zu halten und freue mich über das zunehmende Interesse an einer rituellen Verabschiedung der Plazenta.
Ich habe den Eindruck, dass ein respektvoller Umgang mit der Nachgeburt, insbesondere mit der Plazenta, etwas sehr Natürliches ist und dem Menschen quasi innewohnt. Nicht das achtlose Wegwerfen, sondern der achtsame Umgang ist das, was von Natur aus als „normal“ und als „richtig“ empfunden wird. Was vielen Menschen heute aber fehlt, um dieses positive Gefühl auch in die Welt tragen zu können, ist ein entsprechendes Vorbild. Was fehlt, ist das Wissen um die Bedeutung der Nachgeburt. Und das ist der Grund, warum ich dieses Buch schreibe. Ich möchte meine Liebe für die menschliche Plazenta, meinen Respekt, den ich diesem wunderbaren Organ entgegenbringe, mit der Welt teilen. Ich möchte Bewusstsein schaffen für die „Normalität“ eines achtsamen Umgangs mit der Nachgeburt. Es ist nicht egal, wie wir geboren werden. Und es ist nicht egal, wie unsere Plazenten geboren und behandelt werden. Unsere Welt braucht Liebe. Viel Liebe. Und diese Liebe drückt sich auch darin aus, wie wir unsere Kinder in dieser Welt willkommen heißen. Sie drückt sich darin aus, wie wir mit den Plazenten unserer Kinder – die einmal ein Teil unserer Kinder waren – umgehen.
Mögen all unsere Kinder gesegnet sein, mögen ihre Plazenten in Demut und Dankbarkeit einen würdevollen Abschied von dieser Welt erfahren.
Dieses Buch trägt den Titel „Wurzeln des Lebens“. Ich habe mich für diesen Titel entschieden, weil die Plazenta immer wieder so oder auch als Baum des Lebens bezeichnet wird. Das Aussehen der Plazenta verweist auch tatsächlich auf einen Baum. Verwurzelt in der Erde, mit einem mehr oder weniger langen Stamm und den verzweigten Ästen, die weit in den Himmel reichen, verbindet der Baum die obere und die untere Welt und hatte von daher schon immer eine besondere Bedeutung für den Menschen. Er war zu allen Zeiten ein Inspirationsquell für Mythen und die Beziehung Mensch-Baum ist eine innige und langwährende Freundschaft. Mit seinem Laubwechsel im Verlauf des Jahreskreises ist der Baum ein Urbild für die Blüte der Jugend, die Fülle der reiferen Jahre, das Verdorren des...
Erscheint lt. Verlag | 27.2.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber |
ISBN-10 | 3-99084-616-7 / 3990846167 |
ISBN-13 | 978-3-99084-616-2 / 9783990846162 |
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