Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik (eBook)

Die Biografie
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2018 | 1. Auflage
1376 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-409-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik - Rolf-Dieter Müller
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Reinhard Gehlen war eine der umstrittensten politischen Gestalten der Bonner Republik. Einst als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost mitverantwortlich für Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion, baute er nach 1945 unter Anleitung der US Army mit ehemaligen Generalstabsoffizieren der Wehrmacht einen westdeutschen Geheimdienst auf. Die Organisation Gehlen wurde 1956 zum Bundesnachrichtendienst (BND), der bis 1968 unter Gehlens Leitung stand. Auf der Grundlage erstmals zugänglicher BND-Akten und vieler weiterer Quellen hat Rolf-Dieter Müller die Biografie Reinhard Gehlens rekonstruiert und zeigt die Bandbreite seines Handelns und seiner persönlichen Verantwortung. Gehlens Biografie bietet einzigartige Einblicke in die Welt der Geheimdienste.
(Band 7 der Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968)
Im ersten und zweiten Kapitel wird die Zeit von 1902 bis 1950 behandelt, werden Gehlens Aufstieg zum Generalmajor der deutschen Wehrmacht und seine Rolle als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres geschildert. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er seinen Kampf gegen die Sowjetunion aufseiten der US Army mit dem Aufbau der Organisation Gehlen fort.
Im dritten und vierten Kapitel (1950-1979) werden Gehlens Rolle bei der bundesdeutschen Wiederbewaffnung sowie als Akteur in der westdeutschen Innenpolitik und die Übernahme der Organisation Gehlen in den Dienst der Bundesrepublik beleuchtet. Von 1956 bis 1968 leitete Gehlen den BND und war auch danach um die Pflege des Mythos um seine Person bemüht.

Rolf-Dieter Müller, Jahrgang 1948, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Pädagogik in Braunschweig und Mainz, 1981 Promotion, 1999 Habilitation, 1979 – 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg i. Br., später des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, zuletzt Leitender wissenschaftlicher Direktor; Honorarprofessor für Militärgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; zahlreiche Publikationen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die in viele Sprachen übersetzt wurden.

Einleitung


Nach dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 zogen es manche Deutsche vor, mit falschem Namen unterzutauchen. Zu ihnen gehörte Generalmajor Reinhard Gehlen, bisheriger Chef der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) im Generalstab des Heeres. Der suchte nicht die Anonymität, sondern ein sicheres Versteck und einen neuen Dienstherrn, der ihm eine Abdeckung gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den Häschern des sowjetischen Geheimdienstes bieten konnte. Gehlen war davon überzeugt, der beste Kenner der Sowjetarmee und ihrer Kriegführung zu sein. Schließlich hatte er am Plan für den Krieg gegen die Sowjetunion an entscheidender Stelle mitgearbeitet und war noch immer überzeugt davon, dass die Rote Armee militärisch hätte besiegt werden können, wenn man nur auf seinen Rat gehört hätte. Weil Hitler ihn verschmäht hatte, sei der Krieg verloren gegangen. Nun bot Reinhard Gehlen den amerikanischen Siegern an, seine Kompetenz und die von ihm versteckten Akten zu nutzen, um in dem sich abzeichnenden Kalten Krieg zwischen den Siegermächten den Kampf gegen den bolschewistischen Weltfeind fortzusetzen.

Die skeptischen US-Militärs nahmen den feindlichen General erst einmal gefangen und ließen sich dann von der Nützlichkeit des deutschen Kollaborateurs überzeugen. In den folgenden zehn Jahren dirigierten und finanzierten sie die von Gehlen aufgebaute Hilfstruppe, die hauptsächlich in der militärischen Aufklärung gegen den Osten eingesetzt wurde. Sie ließen »Dr. Schneider« unter allerlei Decknamen im Dunkeln des west-östlichen Spionagekrieges und hinter den Kulissen der Bonner Bühne wirken. Als Chef einer Schattenarmee von Spionen jenseits des Eisernen Vorhangs und einer von ehemaligen Generalstabsoffizieren der Wehrmacht geführten Geheimorganisation spielte er zugleich eine wesentliche Rolle bei der bundesdeutschen Wiederbewaffnung sowie als Akteur in der westdeutschen Innenpolitik. Er wirkte im Verborgenen als ein Mann, der scheinbar kein Gesicht hatte und das Licht der Öffentlichkeit scheute. Wie sein Gegenspieler aufseiten der DDR, Markus Wolf, verhinderte er über Jahre, dass sein Foto bekannt wurde.

Die Amerikaner unterstützten Gehlens Bestrebungen, mit der nach ihm benannten »Organisation Gehlen« (kurz: Org) in den Dienst der jungen Bundesrepublik übernommen zu werden und einen mächtigen Nachrichtendienst als Instrument in der Hand des Kanzlers aufzubauen. Denn damit schien gewährleistet, dass dieser neue deutsche Geheimdienst unter US-Kontrolle bleiben würde. Der 1956 gegründete Bundesnachrichtendienst erlebte bis 1968 unter der Leitung seines ersten Präsidenten Reinhard Gehlen Höhen und Tiefen. Über den Mann mit dem Decknamen (DN) »Doktor« erfuhr man bis zu seiner Pensionierung wenig. Eine Vielzahl von Legenden, die teilweise bis in die Gegenwart hineinwirken, schützte seinen Ruf. Seine Persönlichkeit blieb dabei zu großen Teilen im Dunkeln. Einige wenige Informationen zu Lebensweg und Werk platzierte Gehlen selbst, sodass sein Bild in der westdeutschen Öffentlichkeit und in den Medien bis in die 1960er-Jahre weitgehend intakt blieb, trotz der Enthüllungen und Verleumdungen durch die DDR-Propaganda.

Drei Jahre nach seiner Pensionierung publizierte Gehlen 1971 überstürzt seine Memoiren Der Dienst,1 parallel zu einer Spiegel-Serie über den BND, die von den Journalisten Hermann Zolling und Heinz Höhne recherchiert worden war und anschließend als Buch erschien und noch heute als bahnbrechendes Werk zur Geschichte des BND gilt.2 Unter tätiger Mithilfe aus der Pullacher Geheimdienstzentrale und nach Kommentaren von Gehlen zum Textentwurf gewährte die Publikation einige Einblicke in Gehlens Karriere, allerdings oft auf nicht überprüfbare Aussagen von Zeitzeugen gestützt. Der »Doktor«, der schon früh an einer Autobiografie gebastelt hatte,3 ließ seinen Ghostwriter, Wilfried Hertz-Eichenrode, die Schilderung des Werdegangs als Berufssoldat verkürzen und begann nach einem kurzen Vorspann mit seiner legendären Tätigkeit als Chef FHO im Zweiten Weltkrieg. Bis dahin habe er den »Lebensgang jedes beliebigen Generalstabsoffiziers« durchschritten. Da Anfang der 1970er-Jahre noch Millionen ehemaliger Wehrmachtsoldaten lebten, konnte er unterstellen, dass eine solche Laufbahn den meisten Lesern bekannt war. Diese erste prägende Hälfte seines Lebens konnte er also kurzfassen, wirkliche Einblicke vermeiden und recht tiefstapeln – im Gegensatz zum Hauptteil, in dem er einen legendengespickten Überblick über die Geschichte der Org und des BND präsentierte. So wurde Gehlens Autobiografie hauptsächlich zu einer politischen Kampfschrift gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung, was er anschließend in zwei weiteren Büchern4 vertiefte.

Von den Vermutungen über das abenteuerliche Leben des vermeintlichen Superspions angetrieben, erschien 1971 ebenfalls die Gehlen-Biografie des britischen Geheimdienstlers Edward Spiro (DN »E. H. Cookridge«).5 Sie war eine Melange aus Erzählungen, die er in Pullach sowie durch einen Besuch im Hause Gehlen aufgeschnappt hatte, und enthielt mancherlei Spekulationen sowie Fehlinformationen, die Gehlen schließlich veranlassten, das Buch für ein Produkt sowjetischer Desinformation zu halten.6 Ein gewisses Aufsehen erregte dann 1972 die englische Übersetzung der Erinnerungen von Gehlen, in die er zusätzliche Informationen eingefügt hatte, die hauptsächlich seinen Kampf gegen die neue Ostpolitik und die Veränderungen im BND betrafen.7 In einer ihm wohlgesinnten US-Schrift wurde er sogar als deutscher Meisterspion bezeichnet.8 Reinhard Gehlen wurde endgültig zu einer umstrittenen Figur der Zeitgeschichte, als durch Enthüllungen im Zusammenhang mit seinem Auftritt vor dem Guillaume-Untersuchungsausschuss 1975 die Kritik an seiner Person noch stärker wurde. Zudem äußerte bereits damals ein jüngerer Historiker begründete Zweifel an Gehlens angeblicher Erfolgsgeschichte in seiner Zeit als Chef FHO, was diesen umso mehr ins Zwielicht setzte.9 Zwei Jahrzehnte später trug die junge Amerikanerin Mary Ellen Reese die inzwischen hauptsächlich aus amerikanischen Quellen verfügbaren Informationen über die Frühphase der Org zusammen. Die deutsche Übersetzung der kleinen Schrift erschien 1992, steuerte zur Bewertung der Rolle Gehlens allerdings nicht viel Neues bei.10

Der glanzlose und skandalumwitterte Abgang Reinhard Gehlens hatte seine reale Persönlichkeit und seine historische Bedeutung im Zweiten Weltkrieg sowie in der Frühgeschichte der Bundesrepublik weitgehend verdeckt. Lange nach seinem Tod 1979 fiel zum Beginn des neuen Jahrtausends mehr Licht zumindest in die Phase seiner Übernahme durch die Amerikaner, als eine Reihe von Akten durch den Nazi War Crimes Disclosure Act (1998) in den USA zugänglich gemacht wurde.11 Hinzu kamen die Erinnerungen von James H. Critchfield, dem ehemaligen CIA-Führungsoffizier in Pullach, der das spannungsreiche Verhältnis zu dem ehemaligen deutschen General zumindest andeutete, auch wenn er ihm im Rückblick einigen Respekt erwies und die nach seinem Tod erschienene Schrift offenbar einige Glättungen von berufener Hand erfuhr.12 Die Erinnerungen seines unmittelbaren Vorgesetzten und langjährigen Deutschlandchefs der CIA, Gordon Stewart, sind bis heute unter Verschluss.

Als dann 2006 eine geheime Dokumentensammlung der CIA über die Zusammenarbeit mit der Org teilweise zugänglich gemacht wurde,13 schien die Erforschung dieser Phase der Ära Gehlen und seines wichtigsten beruflichen Erfolgs zumindest von amerikanischer Seite endlich auf eine breitere Quellengrundlage gestellt zu werden. Für die Amerikaner war die Bewertung Gehlens inzwischen ein Gegenstand bei der Neuauflage des historisch-politischen Streits um den Umgang der USA mit früheren Nazis in der Nachkriegszeit.14 Vereinzelte Enthüllungen über Aktionen, für die Gehlen Verantwortung getragen hat, etwa im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem oder im Zuge der Spiegel-Affäre, fügten sich bislang nicht zu einem Gesamtbild. Wenn Gehlen in seinen Memoiren eine angeblich missverstandene Pressefreiheit mit Verfälschungen und Indiskretionen gegenüber dem Nachrichtendienst beklagte, die es in keinem anderen Land gäbe,15 so betraf das nur wenige kritische Enthüllungen. Was hinter den streng bewachten Mauern von Pullach tatsächlich passierte – oder versäumt wurde –, blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.

Die 2011 eingesetzte Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK), zu der auch der Autor gehört, erkannte die Notwendigkeit, erstmals auch eine wissenschaftlich fundierte Biografie des ersten Präsidenten des BND vorzulegen, dessen Persönlichkeit ab 1945 die Vorläuferorganisation und dann seit 1956 die Geschichte des BND entscheidend geprägt hat und der noch heute vielfach als Schöpfer und Traditionsfigur des deutschen Auslandsnachrichtendienstes gilt. Die Forschung konnte unter einmalig günstigen Bedingungen erfolgen, weil ein uneingeschränkter Aktenzugang zugesichert wurde. Es ist ein weltweit einzigartiger Vorgang, dass ein Geheimdienst, der von seinen Geheimnissen lebt und diese möglichst zu verbergen sucht, seine kompletten Unterlagen aus zwei Jahrzehnten für einen Forschungsauftrag an externe Historiker zur Verfügung stellte. Die Möglichkeit der Einsichtnahme wurde selbstverständlich im...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2018
Reihe/Serie Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission
Zusatzinfo 160 s/w-Abbildungen und 4 Karten/Tabellen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte Adolf Hitler • BND • Bundesnachrichtendienst • Fremde Heere Ost • Geheimdienst • Heinz Felfe • Kalter Krieg • Konrad Adenauer • Organisation Gehlen • Reinhard Gehlen • Spiegel-Affäre • Wehrmacht • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-86284-409-9 / 3862844099
ISBN-13 978-3-86284-409-8 / 9783862844098
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