Familien leben (eBook)

Einführung

GEDACHT IST DIESES BUCH vor allem für werdende Eltern und Eltern in jungen Familien, für Elternpaare und für alleinerziehende Eltern. In allen denkbaren Konstellationen. Aber auch für erfahrene Eltern von größeren Kindern gibt es manches zu entdecken. Wir haben als Vater und Tochter gemeinsam den Versuch unternommen, in diesem Buch über die Werte, Haltungen und Konzepte zu schreiben, die nach unserer Erfahrung für Familien ein Leben lang Bedeutung haben und geeignet sind, ein starkes, tragfähiges, gemeinsames Familienfundament »Seelische Gesundheit« zu schaffen. Geeignet ist dieses Buch aber auch für Großeltern, die – zusammen mit ihren erwachsenen Kindern und Enkeln – Neues über das Thema Familie erfahren und die Gelegenheit wahrnehmen wollen, Großfamilie und Großfamilienbeziehungen neu zu denken und vielleicht auch anders als bisher zu gestalten.

DIE WICHTIGEN FAMILIENTHEMEN IN EINEM BUCH. Viele werdende Eltern haben uns gesagt, dass sie sich ein Buch wünschen, das die wesentlichen Familienthemen in komprimierter und übersichtlicher Form darstellt, praxisnah und wissenschaftlich fundiert. Eine Übersicht, in der nicht nur das Kind und die Eltern-Kind-Beziehung dargestellt werden, sondern in der auch die Themen vorkommen, die für die Erwachsenenbeziehungen relevant sind. Gerade weil es Eltern in der anstrengenden Zeit nach der Geburt oft nicht möglich ist, die Zeit und Energie aufzubringen, um sich mit der großen Fülle an Büchern und Zeitschriften zu beschäftigen, in denen die vielen Einzelaspekte von Familie ausführlich erörtert werden. Auch auf die Gefahr hin, dass manche Fachleute die Stirn runzeln: Manche Zusammenhänge haben wir bewusst vereinfacht dargestellt, um sie für jedermann verständlich und lesbar zu halten.

BEWÄHRTES UND NEUES. Vieles von dem, was wir beschreiben, ist im Prinzip nicht neu – jedenfalls nicht aus Sicht der jeweiligen Experten, den Paartherapeuten, Kommunikationswissenschaftlern, Bindungsforschern, Neurobiologen, Entwicklungspsychologen oder Familientherapeuten. Vom Wert gleichwürdiger Beziehungen wissen wir beispielsweise schon seit mehr als 2000 Jahren. Neu und tiefer verstanden haben wir aber erst in den vergangenen Jahrzehnten, warum die ersten Familienjahre so wichtig sind, und warum die Entwicklung der kindlichen Schlüsselkompetenzen auf ein feinfühliges Gegenüber angewiesen ist. Die Summe dieser Erkenntnisse – die lang bewährten und die neu entdeckten – ist die Grundlage dafür, dass wir heute viel mehr darüber wissen, was Familien brauchen, damit es ihnen auch auf Dauer möglichst gut geht und die seelischen Bedürfnisse der Erwachsenen und Kinder gleichermaßen berücksichtigt werden.

EXPERTENWISSEN ALS ELTERNWISSEN. Wir haben die Themenfelder ausgewählt, die aus unserer (subjektiven) Sicht hierfür die größte Relevanz haben. Es geht um Beziehungskompetenz (als Basis für alle Beziehungen in und außerhalb der Familie), um lebendige Paarbeziehungen und um die Entwicklung und Vermittlung der Schlüsselkompetenzen, die das Kind für sein Leben benötigt. Außerdem haben wir versucht zu erläutern, wie Eltern diese Kernkompetenzen ganz praktisch in ihrer Familie umsetzen können – das Handwerkszeug wird mitgeliefert. Die dargestellten Prozesse sind »kein Buch mit sieben Siegeln«, die Kernbotschaften nicht kompliziert. Wir hoffen, dass jede Mutter und jeder Vater etwas entdeckt, das sie/er für sich mit in den Alltag übernehmen kann. Und wir wünschen uns, dass diese fundamentalen Prozesse nicht nur Expertenwissen bleiben, sondern möglichst vielen Eltern zugänglich sind – so früh wie möglich, optimalerweise schon ab der Schwangerschaft.

ÜBERDAUERND, VON AKTUELLEN GESELLSCHAFTLICHEN TRENDS WEITESTGEHEND UNABHÄNGIG. Obwohl die derzeit vorliegenden Forschungsdaten, Erkenntnisse und Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen sowie aus Theorie und Praxis stammen, ergänzen und bestätigen sie sich gegenseitig. Diese große Übereinstimmung ist der wichtigste Garant dafür, dass voraussichtlich die meisten dieser Ergebnisse auch in Zukunft Bestand haben werden. Es ist ein empirisch gesicherter Blick auf Kind und Familie, eine unideologische Darstellung wichtiger Grundlagen.

DIE FAMILIENWERKSTATT. Viele der hier vorgestellten Ideen, Konzepte und Themen (Familienwerkstatt, Familienhaus, Familienfundamente, Bausteine und Werkzeuge) werden schon in dem Präventionsprojekt Familienwerkstatt im Landkreis Verden e.V. umgesetzt.1 Über Abendveranstaltungen und Wochenendseminare werden Paare im Zeitraum rund um die Geburt beim Übergang »vom Paar zur Familie« und auch in den Jahren nach der Geburt begleitet.

DIE EIGENEN STÄRKEN SEHEN UND WEITERENTWICKELN. Jede Mutter, jeder Vater trägt eine Vielzahl von Kompetenzen in sich – auch wenn dies für sie selbst und für andere nicht immer sofort sichtbar ist. Sie sind Teil der Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben. Mit Blick auf das Elternwerden ist es hilfreich, sowohl um eigene Stärken und Schätze (Ressourcen) zu wissen als auch persönliche Defizite bewusst wahrzunehmen und mit beiden gut umzugehen: schon vorhandene Stärken in die Familienbeziehungen einzubringen und (da wo Defizite sind) neue Kompetenzen zu erlernen und zu entwickeln. Ausgangspunkt für nachhaltige Veränderungen sind die Prozesse, die in der eigenen Person stattfinden. Kleine Veränderungen haben schon große Auswirkungen auf die Familienatmosphäre. Kinder und Erwachsene brauchen aber keine Perfektion. Fehler gehören einfach dazu. Und oft lernen wir aus holprigen Strecken mehr als aus den Phasen, in denen alles glatt läuft.

»NACHJUSTIEREN« IST OFT MÖGLICH. Jeder von uns fragt sich irgendwann in seinem Leben: Warum habe ich das nicht schon viel früher gewusst? Warum habe ich mich so und nicht ganz anders verhalten und entschieden? Wir haben dann das Gefühl, neben vielen richtigen Entscheidungen, andere wesentliche Weichenstellungen verpasst oder die falschen Prioritäten gesetzt zu haben. Mit den Kenntnissen und Erfahrungen von heute würden wir andere Entscheidungen treffen, das Leben gern anders gestalten. Wir alle wissen, dass wir mit manchen dieser Entscheidungen leben müssen. Gleichzeitig gilt aber auch: Es ist nie zu spät, sich auf Neues einzulassen und den nächsten Tag, die nächste Situation, das Miteinander anders zu gestalten als zuvor.

LEBEN IN LEBENDIGER BEZIEHUNG – BEZIEHUNGS- UND BINDUNGSORIENTIERT. Es ist ein großer Schatz für Kinder und Eltern, wenn es gelingt, miteinander in lebendiger Beziehung zu sein und zu bleiben. Wenn wir gemeinsam unterwegs sind und so immer besser verstehen, wie gelingende, tragfähige und echte Beziehungen gelebt und gestaltet werden können. Aus der großen Unterschiedlichkeit von Familien ergibt sich zwangsläufig, dass es immer nur individuelle und keine richtigen oder falschen Lösungen geben kann. Jede Familie, jede Mutter, jeder Vater, jedes Kind ist einfach einmalig. Wir würden uns freuen, wenn Sie in diesem Buch einiges von dem finden, was Sie in diesen Prozessen und Entwicklungen unterstützt, ermutigt und Ihnen dabei hilft, Ihren eigenen Weg mit Zuversicht und Vergnügen zu gehen – als Paar, als Familie, als Eltern und Großeltern.

KINDERMUND, BEISPIELE, FRAGEN, CARTOONS UND LITERATUR. In fast jedem Kapitel gibt es neben einem kurzen theoretischen Teil Beispiele aus der Praxis und »Fragen und Anregungen zum Weiterdenken«. Diese Fragen und Anregungen können auch separat als Arbeitsmaterialien verwendet werden. Die meisten Kapitel sind für sich verständlich, »Quereinstiege« gut möglich. Eingebunden in die Texte sind Aussprüche von Kindern im Kindergartenalter. Viele sind einfach zum Freuen und Schmunzeln, unterstreichen gleichzeitig aber auch die emotionale, soziale und verbale Kompetenz, die bereits sehr junge Kinder in sich tragen. Es lohnt sich, Kinder in allem ernst zu nehmen und gleichwürdig mit ihnen umzugehen – von Anfang an. Renate Alf danken wir dafür, dass Sie uns die Cartoons für dieses Buch zur Verfügung gestellt hat. Im Literaturverzeichnis finden sich zu den Kernthemen jeweils einige Buchempfehlungen zum vertiefenden Weiterlesen.

Aus Platzgründen und um den Lesefluss nicht zu stören, wurde oftmals nur die maskuline oder die feminine Form verwendet. Ansprechen möchten wir damit aber natürlich alle.

Persönliche Vorbemerkungen

Hannsjörg Bachmann

Als ich mit 29 Jahren erstmals Vater wurde, war ich begeistert und fest davon überzeugt, alles im Gepäck zu haben, um – zusammen mit meiner Frau – mit unserer Familie in eine gute Zukunft zu starten. Schließlich brachten wir beide viel eigene Familienerfahrung mit – meine Frau war mit zwei, ich mit vier Geschwistern aufgewachsen. Wir kamen beide aus stabilen Familien. Außerdem hatten wir beide in unserer Ausbildung und in unseren Berufen schon immer viel mit Kindern und Familien zu tun gehabt, meine Frau als Pädagogin, ich als Kinderarzt. Wir waren doch pädagogische und medizinische Experten.

Ziemlich überrascht und irritiert stellte ich später fest, dass diese »Qualifikationen« uns nicht davor bewahrt haben, mit der eigenen Familie in Turbulenzen zu geraten. Erst Jahre später wurde mir klar, dass diese Entwicklungen offensichtlich auch mit den defizitären emotionalen Erfahrungen zu tun hatten, mit denen ich in den ersten Lebensjahren (Geburtsjahrgang 1943) aufgewachsen bin.

Als Erziehungserfolg wurde von den meisten Eltern der Kriegs- und Nachkriegsgeneration gewertet, wenn die Kinder »brav und lieb« waren und den Anordnungen der Eltern Folge leisteten. Schon Neugeborene und Säuglinge wurden deshalb einem...