Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt (eBook)

Töchter und der Tod der Mutter
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490130-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt -  Ingrid Strobl
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Das Sterben der eigenen Mutter zu erleben ist einer der größten Einschnitte im Leben. Töchter erleben deren Tod nicht nur als großen Verlust, sondern sind darüber hinaus mit ambivalenten und verwirrenden Gefühlen konfrontiert, mit denen sie vorher oftmals nicht gerechnet hatten. Ingrid Strobl begleitet die Leserin einfühlsam und ehrlich und bietet Trost in dieser schweren Zeit.

Ingrid Strobl (1952-2024) studierte Germanistik und Kunstgeschichte und promovierte über »Rhetorik im Dritten Reich«. Sie lebte als freie Autorin in Köln und arbeitete vor allem für Fernsehen und Hörfunk und als Sachbuchautorin.

Ingrid Strobl, 1952 in Innsbruck geboren, studierte Germanistik und Kunstgeschichte und promovierte über »Rhetorik im Dritten Reich«. Sie lebt als freie Autorin in Köln und arbeitet vor allem für Fernsehen und Hörfunk und als Sachbuchautorin.

Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß ich vollkommen sein müsse, um mir die Liebe und Achtung meiner Mutter zu erhalten. (…) Wir schaffen uns unsere eigenen Gespenster.

Nancy Friday

2 Mütter und Töchter: »Die Stärke dieser Beziehung«


In den frauenbewegten Siebzigerjahren wussten wir eines ganz genau: Wir wollten nicht wie unsere Mütter werden. Wir wollten starke, autonome, selbstbewusste und selbstbestimmte Frauen werden. Aber wie sah so eine Frau aus? Unsere Mütter waren uns keine Vorbilder, aber wir hatten auch kaum andere. Wir fragten uns: Gab es starke Frauen in der Geschichte (jenseits von Jeanne d’Arc und irgendwelchen Königinnen)? Und wir entdeckten, dass wir nach allem, was wir wissen wollten, selbst suchen mussten. Eine Geschichte interessanter Frauen existierte ebenso wenig wie eine weibliche Sozialgeschichte. Frauen haben selbst sehr viel weniger über sich geschrieben als Männer, und es wurde auch von anderen sehr viel weniger über sie geschrieben. Wir wissen daher auch nicht allzu viel darüber, wie die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern in früheren Jahrhunderten aussahen. Sie scheinen jedoch, wenn man den vorhandenen Quellen trauen kann, eher harmonisch als konfliktreich gewesen zu sein.

Die autobiographischen Texte von Frauen früherer Epochen vermitteln ein Bild weiblicher Zusammengehörigkeit und gegenseitiger Unterstützung. Die Mutter lehrte die Tochter, was diese als Frau wissen musste, und stand ihr in den entscheidenden Momenten eines Frauenlebens bei: bei ihrer Heirat und bei den Geburten der Kinder. Die Tochter wiederum kümmerte sich um die Mutter, wenn diese krank war oder im Sterben lag. Dieses Bündnis scheint im Alltag der Frauen über hunderte von Jahren funktioniert zu haben. Die Zärtlichkeit, mit der Töchter in Briefen und Tagebüchern vergangener Jahrhunderte über ihre Mütter schreiben, kann nicht nur geheuchelt und der Konvention geschuldet sein.[19] Adrienne Rich verweist auf eine Forschungsarbeit von Carol Smith-Rosenberg, die Briefe amerikanischer Frauen aus der Zeit von 1760 bis 1880 untersuchte. Sie fand darin eine »weibliche Welt«, die »klar getrennt von der größeren Welt männlicher Interessen« war, und »in der (…) Frauen eine vorherrschende Wichtigkeit im Leben einer jeden einnehmen.«[20]

Im »Herzen dieser weiblichen Welt« entdeckte Smith-Rosenberg eine »innige Mutter-Tochter-Beziehung«.[21] Die Autorin, die selbst zu einer Generation gehört, für die diese Innigkeit nicht mehr selbstverständlich ist, zieht durchaus in Betracht, dass der Mangel an Konflikten auch daher rühren könnte, dass eventuelle Aggressionen zwischen Mutter und Tochter unterdrückt werden mussten. Doch sie gelangt zu dem Schluss: »Diese Briefe scheinen so lebendig und das Interesse der Töchter an den Geschichten ihrer Mütter so vital und ursprünglich, dass sich ihre enge Beziehung schwerlich nur in Begriffen wie Verdrängung und Ablehnung interpretieren lässt.«[22]

Smith-Rosenberg äußert sich nicht dazu, ob die Solidarität der »weiblichen Welt« in der Epoche, die sie untersuchte, auch für die Rebellinnen unter den Töchtern galt. Nicht alle Töchter setzten das Leben ihrer Mütter bruchlos fort. Es gab zu jeder Zeit Frauen, die andere Träume hegten, als zu heiraten und Kinder großzuziehen. Wurden sie von ihren Müttern unterstützt, oder mussten sie sich ihre »unweiblichen« Ziele alleine erkämpfen, auch gegen die eigene Mutter? Frauen, die einen Beruf erlernen, die studieren, Romane schreiben, Streichquartette komponieren oder Bilder malen wollten, haben das getan, und oft mit Erfolg, obwohl sie sich gegen ihre gesamte Umwelt durchsetzen mussten. Wir wissen nicht von allen, wie ihre Mütter sich verhielten. Aus den vorhandenen Memoiren oder Biographien geht hervor, dass diejenigen, deren Mütter ihre Ideen ablehnten, eher darunter litten, als dass sie offen gegen die Mutter rebellierten. Viele jedoch, von der russischen Revolutionärin Vera Figner über die jüdisch-deutsche Philosophin Hannah Arendt bis zur amerikanischen Malerin Georgia O’Keeffe, berichten, dass ihre Mutter ihnen beistand.

Als ich dieses Buch gerade zu Ende schrieb, erschien eine Studie aus den USA, die besagt: Die Beziehungen zwischen Müttern und ihren erwachsenen Töchtern sind, bei allen Komplikationen und Ambivalenzen, erstaunlich gut. Die Autorin, Karen Fingerman, befragte 48 Mutter-Tochter-Paare und stellte fest, dass Mütter noch immer das Selbstbild der Töchter beeinflussen. Frauen fänden es auch heute noch »schwierig, die Balance zwischen dem Wunsch, ihrer Mutter zu gefallen, und dem Aushalten mütterlicher Kritik zu finden«. Dennoch gelangt Fingerman zu dem Schluss: »Frauen sollten die Stärke dieser Beziehung zu ihrer Mutter erkennen und schätzen.«[23] Damit steht Karen Fingerman in der Tradition amerikanischer Autorinnen, die sich seit den Siebzigerjahren mit der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern beschäftigen. Bereits Adrienne Rich[24] und Nancy Friday[25] betonten, wie bedeutsam und befreiend es für die Tochter sei, sich aus ihrer Verstrickung mit der Mutter zu lösen, die Mutter als eigenständige Person zu erkennen und ihr auf einer erwachsenen Ebene von Frau zu Frau zu begegnen. Amerikanische Töchter äußern sehr viel häufiger als deutsche Töchter Bewunderung für ihre Mutter und das Bedürfnis, sich mit ihr zu versöhnen. Es waren auch amerikanische Feministinnen, die sich in den Siebzigerjahren ausgiebig und differenziert mit ihren Müttern auseinander setzten und ihre Erkenntnisse publizierten.

Nancy Friday zum Beispiel analysiert in ihrem Buch »Wie meine Mutter« zuerst ausführlich die Schwierigkeiten, die Töchter mit ihren Müttern haben. Sie schreibt über die Wut auf die Mutter, die Töchter zu Recht empfinden, über die fatale Symbiose mit der Mutter, die Töchter auflösen müssen, und über die Unehrlichkeit zwischen Müttern und Töchtern, die beiden Schaden zufügt. Nancy Friday untersucht nicht nur das Verhalten der Mütter kritisch, sondern ebenso das der Töchter. Und sie zeigt gleichzeitig Wege zu einem gegenseitigen Verständnis und damit auch zu einer möglichen Versöhnung auf. An dem Beispiel, das sie von sich selbst gibt, wird ihre generelle Haltung deutlich, die sie mit anderen amerikanischen Feministinnen teilt: Sie hatte viele Jahre lang das Gefühl gehabt, sie müsse der Mutter gegenüber Theater spielen, ihr die perfekte Tochter vorgaukeln, um ihre Liebe und Achtung zu erhalten. Sie war davon überzeugt, ihre Mutter würde zusammenbrechen, wenn sie erführe, wie die Tochter in Wirklichkeit lebte, dachte und empfand.[26] Es gelang ihr erst, sich aus dieser anstrengenden Doppelrolle zu lösen, als sie ihrer Mutter einen Wunsch abschlug und damit vermeintlich riskierte, sie krank zu machen oder unwiderruflich zu verlieren. Doch es geschah nichts dergleichen. Die Tochter machte die Erfahrung, dass sie ihrer Mutter gegenüber sie selbst sein konnte und dass die Mutter das nach einer Weile auch akzeptierte. Erst jetzt konnte eine ehrliche Beziehung zwischen den beiden Frauen beginnen, in der keine mehr von der anderen das Unmögliche erwarten musste.

Der Schluss, den Nancy Friday aus dieser Erfahrung zieht, ist der, dass Töchter die Phantasie aufgeben müssen, sie könnten von ihrer Mutter doch noch die vollkommene Liebe erhalten, die sie sich immer gewünscht hatten: »Wir müssen (…) uns nach etwas anderem umsehen. Die Vorstellung ist ernüchternd. Sie macht uns gleichzeitig reifer. Und was das wichtigste von allem ist: Sie entspricht der Wahrheit.«[27] Als sie an diesem Punkt angelangt war, konnte Nancy Friday wahrnehmen, dass sie von ihrer Mutter auch positive Fähigkeiten und Stärken geerbt hatte. Sie nahm dieses Erbe an und das ihrer Großmutter dazu, die sich in den Zwanzigerjahren »unweiblich« und emanzipiert verhalten hatte. Und sie kommt schließlich zu der Erkenntnis: »Ich befinde mich in einer Linie von drei Generationen sexueller, abenteuerlustiger und selbständiger Frauen. Ist diese Vorstellung nicht viel aufregender und tiefer als die Vorstellung, daß ich mich selbst aufgebaut habe?«[28]

Die Einsicht, Teil einer Kette zu sein, die von den Frauen der Familie gebildet wird, teilt Nancy Friday unter anderem mit Virginia Woolf und deren Nichte Angelica Garnett (siehe Kapitel 3). Es scheint, dass Töchter, wenn sie sich einer eigenen Identität gewiss sind, die radikale Abgrenzung von der Mutter aufgeben und sich dafür in einen innerfamiliären weiblichen Zusammenhang einfügen können. Sind diese weiblichen Vorfahrinnen und Verwandten nicht in Verbrechen verstrickt oder anderweitig moralisch abzulehnen, gewinnt die Tochter dadurch einen unerwarteten Reichtum: Sie kann sich mit ihrer ganz persönlichen Identität in eine familiäre weibliche Traditionslinie stellen und sich – auch – aus ihr heraus verstehen.

Ich habe jedoch von kaum einer meiner Interviewpartnerinnen gehört, sie könne oder wolle sich als Glied einer solchen Kette sehen. Einige wissen nichts oder nur wenig über ihre Großmütter, andere beschreiben sie als hart und grausam ihren Müttern gegenüber. Auch in Bezug auf ihre Mütter äußern sich meine deutschen Gesprächspartnerinnen in vielem ganz anders als amerikanische (und zum Beispiel auch britische) Autorinnen. Amerikanische Mütter der Vierziger- und Fünfzigerjahre scheinen mit ihren Töchtern zärtlicher umgegangen zu sein als deutsche Mütter in dieser Zeit. Sie schenkten ihnen offenbar mehr...

Erscheint lt. Verlag 6.6.2016
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Schlagworte Beziehung • Biographien • Frauen • Liebe • Mutter • Ratgeber • Sterben • Tochter • Töchter • Tod • Trauer • Trost • Verlust • Wut
ISBN-10 3-10-490130-9 / 3104901309
ISBN-13 978-3-10-490130-5 / 9783104901305
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