Filmkomiker (eBook)

Die Errettung des Grotesken
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2017 | 1. Auflage
282 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561824-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Filmkomiker -  Thomas Brandlmeier
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Dieses Buch versteht sich als eine Charakterologie der großen Filmkomiker wie Chaplin, Keaton, Lloyd, Langdon, Fields, die Marx Brothers, Tati, Karl Valentin und Hans Moser. Unter dem Deckmantel des Komischen haben die Filmkomiker seit den Anfängen des Kinos mehr subversives und kritisches Potential geschaffen, als sonst irgendein vergleichbares Gebiet vorzuweisen hätte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Thomas Brandlmeier, Jahrgang 1950. Studium der Slavistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften, Physik, Chemie, Biologie. Filmkritiker, Zeitschriften-, Zeitungs- und Buchartikel, Herausgeber zahlreicher filmhistorischer Dokumentationen.

Thomas Brandlmeier, Jahrgang 1950. Studium der Slavistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften, Physik, Chemie, Biologie. Filmkritiker, Zeitschriften-, Zeitungs- und Buchartikel, Herausgeber zahlreicher filmhistorischer Dokumentationen.

2 Mack Sennett und Hal Roach: zwei Elementarschulen des Slapstick


Was Geschwindigkeit angeht, so waren meine Schule die alten Zweiakter gewesen, wo man auf nichts als Tempo aus war.

(Howard Hawks)

Die erste Blüte seit der Filmgroteske war um die Jahrhundertwende in Frankreich. Die Firma Pathé beherrschte mit ihren Produkten den internationalen Markt. Wie im Einleitungskapital dargelegt, sind die ersten Filmgrotesken stilistisch noch am stärksten der Music Hall verhaftet. Man kann aber bereits in der Entwicklung der französischen Burleske zusehends verfolgen, wie sich der Sinn für die Mittel des Mediums schärft (vgl. das Max-Linder-Kapitel). Den Filmproduzenten Mack Sennett und Hal Roach kommt jedoch das Verdienst zu, das geschaffen zu haben, was wir heute gemeinhin Slapstick nennen. Mit dem Slapstick wird die Music Hall endgültig auf das Niveau des Films gebracht. Alle filmische Komik zehrt seither in einem wesentlichen Umfang von ihren Errungenschaften. Aber die Elemente der Filmgroteske, die die beiden entwickelt haben, sind darüber hinaus auch für die Filmgeschichte von bleibender Bedeutung.

Mack Sennett war eigentlich ein gelernter Kesselschmied. Seine imposante Baßstimme veranlaßte ihn, sein Glück als Sänger zu versuchen. 1902 begab er sich mit einem Empfehlungsschreiben von Marie Dressler (damals ein Bühnenstar, später war sie Chaplins wohlgenährte Partnerin in TILLIE’S PUNCTURED ROMANCE/1914) nach New York. Mack Sennett brachte es allerdings nicht weiter als zum Chorsänger und Statisten. Trotzdem sollte der Kontakt mit dem Showgeschäft zu einer, freilich ganz anderen, Karriere überleiten. 1908 wurde er Filmschauspieler, seine erste Rolle spielte er in Griffith’ BALKED AT THE ALTAR. 1909 wirkte er, ebenfalls bei Griffith, in THE CURTAIN POLE mit, einem Film, der als die erste Slapstick-Komödie des amerikanischen Kinos gilt. Als Komödiant stellt Mack Sennett einen schielenden, verschlagen dreinblickenden Typ dar, dem man nur die schlimmste Niedertracht zutraut. 1911, in dem Film COMRADES, führte er zum ersten Mal selbst Regie, und 1912 gründete er die Produktionsfirma Keystone. Von da an entwickelte sich Mack Sennett mit seiner fun factory zum King of Comedy der amerikanischen Groteske. Schauspieler, Regisseur, Autor, Produzent, im Bedarfsfall auch Requisiteur, Kameramann oder was sonst anfiel, wurde er zum Motor einer filmhistorischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung, die man gar nicht hoch genug einschätzen kann. »Und von diesen (Music Hall und Vaudeville) leitet sich wiederum eine Erscheinung des zwanzigsten Jahrhunderts ab, die man wahrscheinlich später einmal als seine einzige wahrhaft große Leistung auf dem Gebiet der volkstümlichen Kunst ansehen wird: die Stummfilmkomödie der Keystone Kops, Charlie Chaplins, Buster Keatons und einer Menge anderer unsterblicher Darsteller« (Martin Esslin: Das Theater des Absurden).

Auch die Surrealisten waren von der exzessiven Fantasie des Slapsticks angetan. James Agee weist darauf hin, daß Gedankengut aus dem Unbewußten von Mack Sennett gezielt eingesetzt wurde: »Sennett pflegte einen ›wilden Mann‹ für seine Gag-Konferenzen anzustellen, dessen Job ausschließlich darin bestand, ›wilde Ideen‹ zu ersinnen. Gewöhnlich war er ein völlig hirnloser, sprachloser Mensch, kaum fähig seine Ideen mitzuteilen, aber er hatte eine völlig uneingeschränkte Imagination. Er mochte eine Stunde lang nichts sagen, aber dann begann er zu murmeln … Dieser wilde Mann scheint in der Tat als das Unbewußte der Gruppe funktioniert zu haben, die Quelle aller kreativen Energie. Seine Ideen waren so abstrus und amorph, daß sich Sennett an keine einzige mehr erinnern kann oder was aus ihr nach einer rationalen Umsetzung geworden ist.«

Von den unzähligen Darstellern, die Mack Sennett entdeckt oder gefördert hat, seien hier einige aufgezählt: Marie Dressler, Louise Fazenda, Fred Mace, Chester Conklin, Mack Swain, Charles Chaplin, Ben Turpin, Fatty Arbuckle, Ford Sterling, Hank Mann, Al St. John, Mabel Normand, James Finlayson, Charlie Murray, Bobby Vernon, W.C. Fields, Minta Durfee, Bing Crosby, Edgar Kennedy, Andy Clyde, Billy Bevan, Carole Lombard, Henry Pathé Lehrman, Eddie Quillan, Harry Langdon, Charley Chase, Harold Lloyd und natürlich die Keystone Kops und die Bathing Beauties. Mehr als 1000 Filme entstanden in einem Vierteljahrhundert unter Mack Sennetts Ägide, wobei Sennett den größten Teil seiner Karriere die Freiheit eines unabhängigen Produzenten bewahren konnte. Es gab selten eine Oscar-Nominierung, die so unumstritten und gerechtfertigt war wie die für Mack Sennett; in der Laudatio von 1937 faßt die Filmindustrie ihr Schuldbekenntnis an Sennett folgendermaßen zusammen: »For his lasting contribution to the comedy technique of the screen, the basic principles of which are as important as when they were first put into practice.«

Aber wer von Mack Sennett redet, sollte seine Wurzeln nicht vergessen. Da waren einmal die filmtechnischen Lehrjahre bei D.W. Griffith: »He was my dayschool, my adult education programm, my university.« Ferner die bereits auf dem Markt befindlichen französischen Groteskfilme: »I have been posing for many years as the inventor of slapstick motion-picture comedy and it is about time I confessed the truth. It was those Frenchmen who invented slapstick and I imitated them.« Man beachte freilich den Unterschied, der bei dieser Imitation herauskam, wie ihn etwa Raymond Durgnat beschreibt: »The French films were about chaos caused by people, Sennett’s about people caught up in chaos.«

Music Hall und Vaudeville benützte Mack Sennett ebenso als Rekrutierungsfeld wie als Quelle der Exploitation. Über die Bowery Burleske sagt Mack Sennett: »The round, fat girls in nothing much doing their bumps and grinds, the German-dialect comedians, and espacially the cops and tramps with their bed slats and bladders appealed to me as being funny people. Their approach to life was earthy and understandable. They whaled the daylights out of pretension. They made fun of themselves and of the human race. They reduced convention, dogma, stuffed shirts, and Authority to nonsense, and then blossomed into pandemonium … I especially enjoyed the reduction of Authority to absurdity, the notion that sex could be funny, and the bold insults that were hurled at pretension.« Aus diesen Quellen aber schuf Mack Sennett etwas genuin Neues. Das zeitgenössische Kino karikierte er in Genreparodien. Das Maschinenzeitalter griff er auf in der Mechanisierung, Verdinglichung, dem Geschwindigkeitswahn. Die abstrakte Freiheit des modernen Individuums ließ er in der Absurdität, im Chaos, im Grotesken kulminieren. Alles dies schloß er zusammen in einem exzellenten kinematographischen Stil aus Action und halsbrecherischer Geschwindigkeit, trompe l’œil und einer seltsamen Poesie des Gags. Gerade was Action und Geschwindigkeit betraf, trieb er selbst das Kino mächtig voran, führte den Schnitt im Action ein und entwickelte Techniken der mobilen Kamera für seine Verfolgungsjagden. Chaplin gilt uns heute in seiner Technik als vergleichsweise »schneller« Komiker; aber innerhalb der auf abenteuerliches Tempo getrimmten Sennett-Truppe galt Chaplin als »langsam«. Mack Sennett war ein Mann des Stummfilms: Die Idee rangierte vor dem Konzept, Spontaneität und Improvisation an Ort und Stelle verleihen den Filmen ihre ungewöhnliche Frische. So ging denn auch Mack Sennetts Glanzzeit mit dem Tonfilm zu Ende. Dem Tempo seiner Komödien war die Sprache fremd und die großindustrielle Organisation der Filmindustrie der 30er Jahre erst recht. Jacques Tati hat ihn 1959, ein Jahr vor seinem Tod, in Hollywood besucht; auf den Tonfilm angesprochen, antwortete er bitter: »Kenne ich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen guten Satz im Film gehört zu haben.«

Die Erfindung der hauseigenen Polizeitruppe, der Keystone Kops, geht bereits auf das Jahr 1912 zurück. Durchgedrehte Polizisten kann man zwar schon früher finden (z.B. Méliès’ PATINS A ROULOTTES /1908), aber nach Sennett geht die Idee auf einen improvisierten Film zurück: Mabel Normand mit einer Babypuppe am Arm markierte mit herzzereißendem Lamento die Sitzengelassene, die den vermeintlichen Vater ihres Kindes unter den Teilnehmern eines Umzugs sucht. Als sich die nichtsahnende Polizei einmischte und über den entstehenden Tumult und die anschließende Verfolgungsjagd Amt und Würde dem Gelächter preisgab, waren die Keystone Kops geboren. Es galt nur noch, der Truppe den entsprechenden Slapstick-Schliff zu geben: phantastische Gesichtsmasken, zu große und zu kleine Uniformen, schräge Typen, die ihre eigenen stuntmen sind, sowie eine Dramaturgie, die vor allem auf ausgeklügelten boobytraps (Tölpelfallen) und einer atemberaubenden Geschwindigkeit beruht. Besondere Aufmerksamkeit galt dem mit Spezialeffekten ausgestatteten Überfallauto, an dem immer ein paar Cops hinten dranhingen, die dann an Mauern, Straßenlöchern und Expreßzügen abgeschüttelt wurden, wenn nicht gleich das ganze Oberteil an einer Unterführung hängenblieb, so daß der Wagen weiterraste, während die benommenen Cops wie besoffen in eine andere Richtung mit dem Oberteil davonrannten … (THE SURF GIRL/1916). Wenn die Cops für einen Film nicht gebraucht wurden, mußten sie auf dem Studiogelände trainieren, wie man Autos zu Schrott fährt und bei wilden Stürzen lebend davonkommt. Der Begriff Verfolgungsjagd ist mit der Geschichte der Keystone Kops untrennbar...

Erscheint lt. Verlag 28.7.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Buster Keaton • Charles Chaplin • Film • Hans Moser • Harold Lloyd • Hollywood • Jacques Tati • Jerry Lewis • Karl Valentin • Kino • Komik • Komiker • Marx Brothers • Sachbuch • W.C. Fields
ISBN-10 3-10-561824-4 / 3105618244
ISBN-13 978-3-10-561824-0 / 9783105618240
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