Körperorientierte Ansätze für Musiker (eBook)
320 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-75502-1 (ISBN)
1 Trainingsorientierte Leistungs- und Gesundheitsförderung bei Musikern
Unter körperorientierten Ansätzen für Musiker – wie sie in diesem Buch vorgestellt werden – sind Methoden zu verstehen, bei welchen aus der Praxis die Erfahrung besteht, dass sie Musiker beim Erlernen und Praktizieren des Instrumentalspiels und Gesangs unterstützen und sich positiv auf die Erhaltung der Leistungsfähigkeit und Gesundheit auswirken. Es handelt sich bei diesen Ansätzen – mit Ausnahme der umfassenderen, übergeordneten Bewegungsbereiche Tanz und Sport – um in sich kohärente Konzepte, die entweder spezifisch für Musiker entwickelt wurden oder die sich – zum größeren Teil – durch ihre Anwendung als für Musiker besonders geeignet erwiesen haben. Gemeinsam ist allen, dass bei der praktischen Durchführung der Fokus in erster Linie auf dem Körper liegt. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff somagogisch (von griech. Soma Körper und griech. agein führen) verwandt, sodass man auch von somagogischen Methoden sprechen kann (Steinmüller et al. 2001).
Da Musiker auf der Ebene der körperlichen Anforderungen – weniger in den künstlerischen Belangen – durchaus mit Sportlern vergleichbar sind, kann zur Frage, wie für Musiker ideale Förderbedingungen einer gesunden Leistungsfähigkeit mit Instrument und Stimme aussehen können, ein Blick in die Nachbardisziplin der Trainingslehre im Sport geworfen werden. Die Trainingswissenschaften liefern Kenntnisse über allgemeine Faktoren der körperlichen Leistungs- und Gesundheitsförderung, anhand derer sich die Charakteristika der körperorientierten Ansätze für Musiker hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede beschreiben lassen. Dies soll im Kapitel I Grundlagen vorgenommen werden.
1.1 Begriffe der Leistungs- und Gesundheitsförderung
Der Begriff Leistung wird im Folgenden – entsprechend der Begrifflichkeit in den Trainingswissenschaften – im neutralen Sinne für die Ausführung der musikalischen Tätigkeit verwendet. Dieses Verständnis des Begriffs ist klar abzugrenzen von negativem Leistungsdruck und einer Leistungsorientierung, die mit Selbst- und Fremdüberforderung sowie einem Mangel an Selbstbestimmung in Zusammenhang steht. Auch könnte der Eindruck entstehen, dass das Wort Leistung das ästhetische Moment des Musizierens nicht ausreichend abbildet, dieses sei hier jedoch ausdrücklich mit eingeschlossen.
Leistungsfähigkeit erfordert Gesundheit. Demnach müssen alle Aktivitäten, die ein Musiker unternimmt, um seine musikalische Leistung zu verbessern, auch seine Gesundheit fördern oder zumindest erhalten. Auch für die Anwendung körperorientierter Ansätze gilt deshalb, dass Leistungs- und Gesundheitsförderung eng miteinander verbunden sind.
1.2 Modell der trainingsorientierten Leistungs- und Gesundheitsförderung
Betrachtet man im Rahmen eines systematischen Modells (Abbildung 1-1) die Faktoren, welche auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit beim körperorientierten Training von Musikern einwirken, so sind grundsätzlich eine Basisebene – mit den Funktionssystemen des Körpers – und eine Handlungsebene – mit den individuellen Voraussetzungen des Musikers und den Aktivitäten musikbezogenen Trainings – zu unterscheiden. Das beste Ergebnis hinsichtlich musikalischer Leistung und Gesundheit wird im optimalen Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren der Basis- und Handlungsebene erzielt. Die Verbesserung der Leistungsfähigkeit geht mit Gesundheitsförderung einher, solange morphologische, funktionelle und psychische Grenzen eingehalten werden.
Abbildung 1–1: Voraussetzungen für Leistungsfähigkeit und Faktoren der Leistungs- und Gesundheitsförderung für Musiker auf der Handlungsebene sowie beteiligte Körpersysteme auf der Basisebene (nach Schnabel et al., 2008; S. 42)
Basisebene
Auf Ebene der Körpersysteme sind am Training bei Musikern in erster Linie das Nervensystem und die Organe des Bewegungssystems wie Muskeln, Faszien, Sehnen u.a. beteiligt.
Für das Bewegungslernen beim Musizieren spielt die Einheit von Wahrnehmung (sensorischer Anteil) und motorischer Ausführung (motorischer Anteil) im Sinne der Sensomotorik eine wichtige Rolle. Motorisches Lernen erfolgt prinzipiell durch Vergleichsprozesse zwischen Bewegungsrepräsentationen im Gehirn und Korrekturinformationen durch sensorische Rückmeldungen. Wichtige Sensoren für die Bewegungsregulation sind dabei diejenigen des kinästhetischen Systems (v.a. Dehnungs- und Bewegungsrezeptoren in Muskeln, Gelenken und Sehnen, die unter dem Oberbegriff Mechanorezeptoren zusammengefasst werden), der Tastsinn, der Gleichgewichtssinn sowie Hören und Sehen. Die kombinierten Informationen aus den Mechanorezeptoren – der sogenannten Tiefensensibilität – und dem Gleichgewichtsorgan werden als Propriozeption (von lat. proprius eigen und recipere aufnehmen) bezeichnet. Insbesondere die Rückmeldungen des kinästhetischen Systems sind nur teilweise unserem Bewusstsein zugänglich. Bewusste Bewegungsvorstellungen allerdings haben einen großen Einfluss auf motorisches Lernen.
Auch das vegetative Nervensystem – mit seinen Anteilen Sympathikus und Parasympathikus – übt bei Stress oder Lampenfieber einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität der Musizierbewegungen und die Lernfähigkeit aus. So nimmt bei starker innerer Unruhe die Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit ab, gleichzeitig erhöht sich der Muskeltonus.
Handlungsebene
Die Leistungsfähigkeit eines Musikers wird auf der Handlungsebene durch die personalen Voraussetzungen – Persönlichkeit und Handlungskompetenz, Konstitution – und die durch Training entfalteten Wirkungen – Koordination und Technik, Kondition – bestimmt (Abbildung 1–1). Unter Training fallen bei Musikern alle zielgerichteten Tätigkeiten, die auf einen Lernzuwachs im Instrumentalspiel oder Gesang ausgerichtet sind. Im Folgenden sind die vier Bereiche der Handlungsebene kurz beschrieben:
Persönlichkeit und Handlungskompetenz
Unter Persönlichkeit und Handlungskompetenz wird ein Leistungsfaktor zusammengefasst, der übergeordnete Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozesse beeinflusst und sich so auch auf das Trainingsverhalten auswirkt. Beim Musizieren spielen emotionale Einflüsse grundsätzlich eine große Rolle, verstärkt treten sie in Auftrittssituationen in Erscheinung.
Konstitution
Unter Konstitution fallen Voraussetzungen wie Körpergröße, Körperproportionen, Körperbau, aber auch altersgemäße Veränderungen. Im Zusammenhang mit den körperlichen Voraussetzungen spielen ergonomische Anpassungen des Instruments an den Spieler (z.B. Schulterstütze und Kinnhalter bei hohen Streichinstrumenten, Daumenhalter bei Blasinstrumenten, Tragegurte etc.) sowie ergonomische Einrichtung der Sitzgelegenheit eine wichtige Rolle.
Für Musiker sind insbesondere die Ausprägung der Hände, die Beweglichkeit in den Gelenken sowie die Belastungsfähigkeit des Stütz- und Bindegewebes von Bedeutung.
Koordination und Technik
Der Leistungsbereich Koordination und Technik stellt das Herzstück des instrumentalen Musizierens und Singens dar. Koordinative Fähigkeiten bilden die Grundlage für koordinative Fertigkeiten wie Spielbewegungen und Spieltechnik.
Kondition
Unter Kondition sind die energetisch-konditionellen Leistungsvoraussetzungen zu verstehen, d.h. insbesondere die Kraft-, Schnelligkeits- und Ausdauerfähigkeiten. Das Potenzial an Muskelkraft und Ausdauer muss in der Vielzahl unterschiedlicher Muskeln präzise gesteuert und geregelt werden. Nur unter der Voraussetzung hoher koordinatorischer Fähigkeiten können Potentiale von Kraft und Ausdauer leistungswirksam eingesetzt werden.
1.3 Koordinative, konditionelle und persönlichkeitsbezogene Fähigkeiten
Da die koordinativen, die energetisch-konditionellen Fähigkeiten und die Persönlichkeit und Handlungskompetenz des Musikers entscheidende Faktoren für Leistungs- und Gesundheitsförderung sind und wichtige Kriterien für die Charakterisierung der körperorientierten Ansätze liefern, wird auf ihre Bedeutung im Folgenden genauer eingegangen.
Koordinative Fähigkeiten
Koordinative Fähigkeiten sind motorische Fähigkeiten, die hauptsächlich von der Bewegungsregulation abhängen und deren Qualitäten Bewegungsmuster und allgemeine Bewegungsprozesse betreffen (Schnabel et al. 2008, S. 136). Koordinative Fähigkeiten stehen in engem Zusammenhang mit spieltechnischen Fertigkeiten. Sie bilden die Grundlage für die spezifischen koordinativen Fertigkeiten, die das jeweilige Instrument erfordert.
Die koordinativen Fähigkeiten entfalten sich in Wechselwirkung mit den konditionellen Fähigkeiten. So können sie beispielsweise durch fehlende Muskelkraft oder auch durch übermäßige und einseitige Kraftverteilung eingeschränkt werden. Darüber hinaus werden koordinative Fähigkeiten auch durch die Persönlichkeit und das psychische Befinden des Spielers beeinflusst.
Die Ergebnisse aus den Trainingswissenschaften lassen sich in Übereinstimmung mit empirischen Beobachtungen bei Musikern auch auf die Musizierpraxis anwenden. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die...
Erscheint lt. Verlag | 22.5.2017 |
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Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe | |
Schlagworte | Aktivierung • Alexander-Technik • Autogenes Training • Bewegung • Ergo-, Gartentherapie, Aktivierung, Green Care • Ergotherapie • Feldenkrais- Methode • Gartentherapie • Gesundheit • Gesundheitsförderung • Gesundheitsförderung Musiker • Green Care • HNO/ORL • Ideokinese • Körpertherapien • Musik • Musikererkrankungen • Musiker Körperübungen • Musikermedizin • Musikinstrument • Musiktherapie • Musik und Gesundheit • Orchester • Orthopädie • Prävention • Prävention Musiker • Profimusiker • Qigong • Schlaffhorst-Andersen • Stimme • Yoga |
ISBN-10 | 3-456-75502-3 / 3456755023 |
ISBN-13 | 978-3-456-75502-1 / 9783456755021 |
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