Fake News machen Geschichte (eBook)
328 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-398-5 (ISBN)
Die Autoren führen an elf Beispielen aus dem 20. und 21. Jahrhundert vor, wie Fehlinformationen und Gerüchte im Spannungsfeld zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit ihren verhängnisvollen Lauf nahmen. Dabei haben sie Fälle gewählt, die für Deutschland von zentraler Bedeutung waren - von der NS-Zeit (»Alpenfestung«) über den Kalten Krieg (»Amikäfer«) bis in die allerjüngste Geschichte (»Flüchtlingswelle«).
Lars-Broder Keil, geboren 1963, Studium der Journalistik in Leipzig, seit 1999 Redakteur im Ressort Politik der 'Berliner Morgenpost'. Zusammen mit Sven Felix Kellerhoff Autor des Bandes 'Deutsche Legenden. Vom 'Dolchstoß' und anderen Mythen der Geschichte'.
Lars-Broder Keil, Jahrgang 1963, Studium der Journalistik in Leipzig. Seit 1989 als Journalist tätig, u.a. für die Freie Welt, Die Zeit und die Welt am Sonntag, 1991/92 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg, seit 1999 Redakteur im Ressort Politik der Berliner Morgenpost mit Schwerpunkt Zeitgeschichte und Sozialpolitik. Sven Felix Kellerhoff, Jahrgang 1971, Studium der Geschichtswissenschaften in Berlin, Absolvent der Berliner Journalisten-Schule (BJS); seit 1993 als Journalist mit Schwerpunkt Zeitgeschichte tätig; seit 1997 beim Axel-Springer-Verlag, u.a. als verantwortlicher Redakteur für Wissenschaft und Kultur der Berliner Morgenpost; seit 2003 Leitender Redakteur der Tageszeitung Die Welt, verantwortlich für Zeit- und Kulturgeschichte, zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt: "Die Fluchttunnel von Berlin" (mit Dietmar Arnold), Berlin 2008 und "Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex", Hamburg 2010.
»Potsdam marschiert«
Kurt von Schleichers vermeintlicher Staatsstreich 1933
»Es drohte damals, was wenig bekannt war,
ein Putsch seitens Schleicher-Hammerstein
mit der Potsdamer Garnison.«
Hermann Göring, 19461
Der 28. Januar 1933 ist ein kalter Wintersamstag. Die frostigen Temperaturen halten das schicke Berlin nicht davon ab, an diesem Abend kräftig zu feiern. Die feine Gesellschaft vergnügt sich beim Berliner Presseball. Ausgelassen geht es zu in dieser Nacht in den Festsälen am Zoologischen Garten; es wird viel getanzt und noch mehr getrunken. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler amüsiert sich ebenso wie der Komponist Arnold Schönberg, der Schriftsteller Carl Zuckmayer und der Star-Tenor Richard Tauber. Dass keine führenden Nationalsozialisten unter den Gästen weilen, ist nicht weiter erstaunlich: Sie werden nicht vermisst, weil sie ohnehin nicht erwartet wurden. Existiert doch bei den Pressebällen Anfang der Dreißigerjahre noch weiter das Lebensgefühl der »Goldenen Zwanziger«: Liberalität, Tanzmusik und Travestie. Also das, was Hitler-Anhänger wie Kommunisten gleichermaßen verabscheuen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Einige Ballbesucher registrieren allerdings sehr wohl, dass Staatssekretär Otto Meissner, der Chef des Reichspräsidialamtes und einer der einflussreichsten Strippenzieher der deutschen Politik, nicht erschienen ist. Pikiert vermeldet die Vossische Zeitung, Meissner habe sich »von seiner Gattin vertreten« lassen. Das ist bemerkenswert, denn gewöhnlich nutzt der Spitzenbeamte, der dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert ebenso gedient hat, wie er nun dem erzkonservativen Paul von Hindenburg dient, jede Gelegenheit zur Kontaktpflege mit den hauptstädtischen Journalisten. Gerade mitten in einer handfesten Regierungskrise können informelle Gespräche wichtig sein. Dagegen wundert sich kaum jemand, dass der am Samstagmittag zurückgetretene Reichskanzler Kurt von Schleicher nicht erschienen ist. Aus dessen nun nur noch »geschäftsführendem« Kabinett haben sich immerhin einige Minister eingefunden. Führende Reichswehr-Militärs werden ebenfalls nicht gesichtet. Ist ihnen einfach nicht nach Feiern zumute oder braut sich etwas zusammen? Es wird kräftig spekuliert an diesem Abend: »Es kann und soll nicht geleugnet werden, dass hier sehr viel darüber gesprochen wird, wer von den leitenden Männern der Wilhelmstraße heute zu Gast bei den Männern der Feder sein, wer mit wem in der großen Ehrenloge bei einem Glas Sekt vertraulich sprechen wird. Denn daraus glauben die ganz Klugen, die Hellhörigen, die selbst in einer Ballnacht das Gras wachsen hören, Schlüsse auf das ziehen zu können, was sich in den nächsten Tagen in der Wilhelmstraße tun und begeben wird«, berichtet die Berliner Morgenpost.2
Reichswehrminister General Kurt von Schleicher und Reichskanzler Franz von Papen 1932 in Berlin
Während die oberen Fünftausend der Reichshauptstadt am folgenden Sonntagmorgen ihren Rausch ausschlafen, ist das politische Berlin hellwach und höchst angespannt. Denn in den folgenden 48 Stunden müssen Entscheidungen fallen. Der bisherige Kanzler ist zurückgetreten und die nächste Reichstagssitzung, bei der es zur Kraftprobe kommen muss, für den kommenden Dienstag angesetzt. Aber ein Weg aus der Regierungskrise zeichnet sich nicht ab: Kommunisten und Nationalsozialisten haben gemeinsam die Mehrheit im Parlament; einig sind sich die beiden radikalen Parteien nur darin, jeden neuen Kanzler zu blockieren. Für eine konstruktive Politik dagegen findet sich in der Volksvertretung keine ausreichende Unterstützung. Deshalb sind an diesem Sonntag wieder einmal, wie schon seit dreieinhalb Wochen, Geheimverhandlungen angesetzt. Der Berliner NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels hat in den frühen Morgenstunden in sein Tagebuch geschrieben: »Heute wird Tau gezogen. Aber viel ist wohl nicht zu erreichen.« Es geht um eine Regierungsbeteiligung seiner Partei. Schleichers Vorgänger, Ex-Kanzler Franz von Papen, versucht an diesem Wochenende, ein Kabinett der »nationalen Rechten« zu bilden. Doch dieser Flügel der Gesellschaft ist zersplittert und untereinander verfeindet. Zweimal nur – 1929 bei der gemeinsamen Agitation gegen den Young-Plan über die Reduzierung der Reparationsverpflichtungen Deutschlands und 1931 bei einem Treffen in Bad Harzburg, bei der Bildung der sogenannten Harzburger Front – waren so unterschiedliche Organisationen wie die »Hitler-Bewegung«, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) des Großverlegers Alfred Hugenberg und der reaktionäre Veteranenverband »Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten« aufeinander zugegangen. Seither kämpfen sie mindestens so sehr gegeneinander wie gegen die demokratischen Parteien der Weimarer Republik.
Am selben Sonntagvormittag treffen sich im Reichswehrministerium am Landwehrkanal der gescheiterte Reichskanzler Kurt von Schleicher und Kurt von Hammerstein-Equord, als Chef der Heeresleitung der ranghöchste Soldat Deutschlands, sowie einige enge Vertraute. Auch sie diskutieren die Lage, auch sie denken über Wege aus der Krise nach. Was sie genau besprechen, ist unklar; es gibt widersprüchliche Berichte über den Verlauf der Unterredung. Der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, von 1930 bis 1932 selbst Reichskanzler, hört aus zweiter Hand, worum es bei dieser Besprechung gegangen sei. In seinen posthum erschienenen Memoiren ist zu lesen: »[Schleicher] erklärte, wohl in Erregung, er werde die Potsdamer Garnison in Bewegung setzen, um Oskar Hindenburg, Papen und Hugenberg zu verhaften. Er wolle nicht, daß die Reichswehr nach mühsamster Arbeit politisch verbraucht würde. General [richtig: Oberst] von Bredow schwätzte diese Äußerungen Schleichers aus; sie kamen in entstellter Form zu Ohren des Reichspräsidenten. Dieser verlor, wie zu erwarten war, die Fassung und willigte ein, daß man mit Hitler verhandele und seine Bedingungen annehme.« Auch der ehemalige Finanzstaatssekretär Hans Schäffer, nun Generaldirektor des liberalen Ullstein-Verlages, hört gegen Mittag des 29. Januar angeblich Ähnliches aus der Reichskanzlei: »[Schleichers Staatssekretär] Planck [ruft] an und sagt mir, auch im Namen Schleichers, wir brauchen gar keine Bedenken haben. Die Reichswehr werde Hitler als Kanzler nicht anerkennen. Wenn Hitler Gewalt anwenden wollte, so sei auf das Reiterregiment in Potsdam, das in Bereitschaft liege, voller Verlaß.« So jedenfalls rekonstruiert Schäffer seinen verlorengegangenen Tagebucheintrag vom 29. Januar 1933 aus dem Gedächtnis.3
Einige Stunden später erreichen Nachrichten über das Treffen im Reichswehrministerium die Führung der NSDAP: »Alvensleben kommt mit tollen Mären. Hindenburg werde heute ein Papen-Minderheitskabinett einsetzen. Reichswehr lasse sich das nicht gefallen«, notiert Joseph Goebbels in der Nacht zum 30. Januar 1933 in seinem Tagebuch. Der Berliner NS-Gauleiter sitzt gerade mit Hitler und Reichstagspräsident Göring zusammen, um die Lage zu beraten, als Werner von Alvensleben unangemeldet erscheint. Der zwielichtige Ex-Offizier und Mittelsmann verlangt, den »Führer« zu sprechen. Goebbels blockt ab, verspricht aber, seine Mitteilung weiterzugeben. Denn was Schleichers vermeintlicher Vertrauter zu berichten hat, ist politischer Sprengstoff: Der Reichspräsident gelte in der Reichswehrführung als »blind und untauglich«, sein intriganter Sohn Oskar solle schon am folgenden Morgen verhaftet werden. Die wichtigsten Generäle hätten vor, den 84-jährigen Hindenburg auf sein Landgut in Neudeck zu »verfrachten«. Nüchtern folgert Goebbels: »Also Staatsstreich. Drohung, Ernst, Kinderei?« In jedem Fall Grund genug für die NSDAP-Führung, hektische Aktivitäten zu entwickeln – scheint doch Alvenslebens Mitteilung andere Nachrichten zu bestätigen, die in Berlin umlaufen. Göring bricht umgehend auf, um Papen und Staatssekretär Meissner zu informieren. Papen zeigt sich entsetzt und verspricht, den Reichspräsidenten zu unterrichten; Meissner dagegen, von Papen telefonisch gewarnt, gibt sich souverän und wiegelt ab. Trotzdem erhält Berlins SA-Führer Wolf Graf Helldorff von Hitler den Befehl, »Gegenmaßnahmen« vorzubereiten, damit auf eine Besetzung der Wilhelmstraße durch die Reichswehr reagiert werden kann. Goebbels vermerkt: »Also abwarten. Bis nachts fünf Uhr sitzen wir. Es passiert nichts.«4
Ganz ruhig verläuft die letzte Nacht der Weimarer Republik trotzdem nicht. Am späten Abend bekommt Papen Hindenburgs Einverständnis, Hitler die Reichskanzlerschaft anzubieten – nachdem der Ex-Kanzler dem Reichspräsidenten von der Besprechung im Reichswehrministerium berichtet hat, aus zweiter Hand, denn teilgenommen hat er als Intimfeind Schleichers natürlich nicht. Gegen zwei Uhr morgens wird Staatssekretär Otto Meissner geweckt und erneut vor einem bevorstehenden Putsch gewarnt. Und zu einer für den Regierungsapparat...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2017 |
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Reihe/Serie | Politik & Zeitgeschichte |
Zusatzinfo | 14 s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | alternative facts • Breitbart • Bundestagswahl • Donald Trump • Facebook • Fake News • Falschmeldungen • Gerüchte • Verschwörungstheorien |
ISBN-10 | 3-86284-398-X / 386284398X |
ISBN-13 | 978-3-86284-398-5 / 9783862843985 |
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Größe: 2,4 MB
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