„Briefe ohne Unterschrift“ (eBook)

Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte
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2017
Albrecht Knaus Verlag
978-3-641-19948-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

„Briefe ohne Unterschrift“ - Susanne Schädlich
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Als Briefeschreiben noch gefährlich war - Jetzt auch eine Ausstellung zu den »Briefen ohne Unterschrift« in Berlin
Sie schreiben Briefe und gehen ein hohes Risiko ein. Adressat: BBC London. 1949 startet die britische Rundfunksendung »Briefe ohne Unterschrift«. Anonyme Zuschriften von DDR-Bürgern werden darin verlesen, immer am Freitagabend, über 25 Jahre lang. Susanne Schädlich entdeckte diese einzigartigen Zeitdokumente und erzählt nun von den britischen Journalisten, die so lange der DDR die Stirn boten. Vor allem aber setzt sie den mutigen Absendern ein Denkmal, die der gnadenlosen Nachverfolgung durch die Stasi zum Opfer fielen - unter ihnen ein Junge aus Greifswald ...

Susanne Schädlich gab mit ihrem Buch den Anstoß zur Ausstellung im Museum für Kommunikation in Frankfurt: »Briefe ohne Unterschrift. DDR-Geschichte(n) auf BBC Radio«, Beginn am 4. März 2021. Nähere Informationen hierzu: https://www.mfk-frankfurt.de/termine-liste/briefe-ohne-unterschrift/

Susanne Schädlich, geboren 1965 in Jena, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. 2009 veröffentlichte sie den Bestseller »Immer wieder Dezember - Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich«. Für ihr Buch »Westwärts, so weit es nur geht« erhielt sie 2015 den Seume-Literaturpreis. Zuletzt erschien »Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte«. Susanne Schädlich lebt in Berlin.

Eins

Austin Harrison ist ein eleganter Mann. Er trägt dunkle Anzüge, weiße Hemden, Krawatte oder Fliege, dunkle Wildlederschuhe. Seinen Mantel hat er auf den Rücksitz gelegt. Austin Harrison ist auf dem Weg zur Frühjahrsmesse. Es ist zur Gewohnheit geworden, fast schon zur Regel.

Harrison fährt mit dem Auto von Westberlin über die Autobahn in Richtung Halle. Am Autobahnkreuz Schkeuditz nimmt er den Abzweig in Richtung Leipzig. Es ist der 9. März 1967. Topmeldung des Tages: Stalins Tochter, Swetlana Allilujewa, setzt sich in den Westen ab.

Die Fahrt in den anderen Teil Deutschlands ist für Harrison eine Fahrt in ein Land, das die Zeit vergessen hat. Harrison gefällt die Doppeldeutigkeit der deutschen Sprache. Das Land, das die Zeit vergessen hat … Ein glückliches Land, dem die Zeit egal ist, oder ein Land, das von der Zeit vergessen wurde. Land, that time forgot. Im Englischen ist es viel eindeutiger.

Der Besuch von Leipzig ist für Harrison wie der Besuch bei einer einst wohlhabenden älteren Dame.

Zweimal im Jahr lädt sie ein in ihren geschmückten Salon, wo Getränke und Essen serviert werden wie sonst nie, legt ihr schönstes Kleid an und erwartet wie in Gedanken an vergangene Zeiten, und in der Hoffnung auf bessere, ihre Gäste.

In Sonderzügen reisen sie an, zu sehen, was die Republik und andere Länder in der Innenstadt und auf dem Gelände der Technischen Messe am Völkerschlachtdenkmal zu bieten haben.

Huren sind in der Stadt. Sie hoffen auf gute Umsätze oder auf einen Mann aus dem Westen. Brandneue Taxis Marke Wartburg warten an den Straßenrändern.

Die ältere Dame empfängt für neun Tage die Welt, Leipzig ist für neun Tage das »Guckloch« für jene, die sonst wenig von der Welt zu sehen bekommen.

In Leipzig will Harrison Informationen sammeln. Darum sucht er überall das Gespräch. Während der Messezeit ist es einfacher als sonst, Kontakt zu Menschen aufzunehmen, sich zu unterhalten. Zur Messezeit ist es weniger gefährlich, wirkt weniger verdächtig. Möglicherweise ist es schwieriger, verfolgt und beobachtet zu werden. Harrison ist trotzdem vorsichtig. Nicht seinetwegen, mehr der Menschen wegen, mit denen er spricht.

Er ahnt, dass er verfolgt und beobachtet wird. Vielleicht weiß er es auch.

Er reiste am 9. 3. 67 gegen 9:30 Uhr von Westberlin kommend über den GÜ Drewitz mit dem PKW Volkswagen poliz. Kennz. B-AK 754 in die DDR ein.

Hauptmann Kluge von der HA* XX wird erst Stunden später informiert, telefoniert dann sofort mit Leipzig.

Ab 13 Uhr wurde der PKW von Werfer‘ im Stadtgebiet Leipzig gesucht.

Harrison fährt nicht erst zu den Bekannten, es ist schon fast 14 Uhr, sondern direkt in die Innenstadt. Er muss sich akkreditieren lassen und im Ausländertreffpunkt Geld wechseln.

Er schlendert durch die Stadt. Straßen und Geschäfte sind geschmückt mit Fähnchen und Fahnen, sozialistisch-internationale Dekoration. Er sieht sich die Auslagen in Schaufenstern an. Harrison hört verschiedene Sprachen. Schlösse er die Augen, könnte er meinen, er sei anderswo, wo er sich auskennt.

Wie immer, wenn er hier ist, geht er im Schuhmachergässchen in das Zentrale Antiquariat des Volksbuchhandels. Wie immer, wenn er hier ist, geht er in die Mädlergasse. Auch die Mädlergasse hängt voller Fahnen, Werbefahnen für die Aussteller der Keramik- und Glasbranche. Zu jeder vollen Stunde erklingt das Glockenspiel. In der Mädlergasse ist Auerbachs Keller.

Bei den vielen Menschen muss Harrison denken,

»Die kommen eben von der Reise,

Man sieht’s an ihrer wunderlichen Weise;

Sie sind nicht eine Stunde hier.«

Im Parkhotel bestellt sich Harrison eine Kleinigkeit und ein Glas Wein, liest die »Times«, unterhält sich mit drei Männern, die mit ihm am Tisch sitzen, über Perlon und Polyakryl, englische Zigarettenmarken und solche aus der DDR, über Ulbricht und Stoph, über tropische Früchte und die SED. Harrison spricht Deutsch.

Nach dem Essen ins Kunstkabinett und weiter zum Neumarkt in das Warenhaus Centrum. Auf blauen Schildchen mit gelber Schrift fordert pastellfarbene Damenunterwäsche aus Synthetik dazu auf, für den VII. Parteitag zu kämpfen.

Harrison macht sich Notizen. Auch im Haus der vielen Artikel.

Gegen 19 Uhr geht er in den Ratskeller.

Bei weiteren Kontrollen im Stadtgebiet wurde der PKW mit dem angegebenen polizeilichen Kennzeichen B – AK 754 um 19.00 Uhr auf dem Parkplatz 9 an der Universitätsstraße – Goethestraße aufgenommen.

Harrison sucht sich einen freien Platz im zweiten Saal an einem Tisch, an dem schon ein Mann und eine Frau sitzen. Der Mann und die Frau sind Mann und Frau.

Harrison sagt, er sei aus England.

Der Mann sagt, er sei das erste Mal zur Messe gefahren. Eigentlich habe er sich auf den Ausflug gefreut. Doch bei allem Respekt, wie die Westler sich hier benähmen! Zögen abends grölend durch die Straßen, für Parkplätze zahlten sie Bakschisch, führten sich auf, als wären sie was Besseres, diese Kapitalisten.

Die Frau sagt, sie verstehe nichts von Politik, egal mit welchem Ismus sie daherkomme.

Er wolle der Partei ihre guten Absichten nicht absprechen, sagt der Mann.

Harrison fällt ein: »Den Teufel spürt das Völkchen nie,

Und wenn er sie beim Kragen hätte«.

Er fragt den Mann, ob er die Absicht habe, irgendwann damit anzufangen, der Partei die guten Absichten abzusprechen?

23.35 Uhr kam ‚Werfer‘ aus der Innenstadt zum PKW. Er sprach am PKW noch ca. 3 Minuten mit einer Parkwächterin. Anschließend fuhr er vom Parkplatz.

Auf der Ernst-Thälmann-Straße lässt Harrison einige Wagen überholen, fährt weiter auf der Torgauer Straße bis Heiterblick.

In der Kurve vor der Brücke hält er. Lässt einen Wagen an sich vorbei, setzt seinen Weg fort in Richtung Thekla bis Portiz. Dort wohnen die Bekannten.

Es ist fast Mitternacht. Er schließt den Wagen ab, geht zur Haustür. Klingelt. Die Tür geht auf, die Begrüßung ist überschwänglich.

Der Ort Portiz wurde nach Betreten der Wohnung von ‚Werfer‘ abgesperrt. Der PKW stand vor dem Wohnhaus ohne Licht abgeparkt auf der rechten Straßenseite.

Der nächste Arbeitstag beginnt für Harrison gegen Mittag, die Nacht war noch lang geworden.

Er fährt zuerst zum Pressezentrum.

Er erkundigte sich nach Briefmarken nach Westberlin. Anschließend beschrieb er 5 Ansichtskarten und frankierte sie. In den Briefkasten Martin-Luther-Ring/Markgrafenstraße warf er sie ein.Sonderleerung durch Abt. M. Bei den Briefen handelt es sich um interessante berufliche, politische und familiäre Mitteilungen. Zu bemerken ist, dass die Briefe in englischer Sprache geschrieben sind und nicht in allen Einzelheiten sicher übersetzt werden konnten.

Die Briefe werden erst am folgenden Tag mit der richtigen Stempelung weitergeleitet.

Am Nachmittag streift Harrison, etwa 175 groß, sein dunkles Haar nach hinten gekämmt, die Augenbrauen buschig, durch Straßen und Geschäfte wie am Vortag. Gang: läuft aufrecht, zeitweise linke Schulter etwas tiefer haltend. Bekleidung: dunkelgr. Anzug, Nadelstreifen, weißes Hemd, gemustert, roter Binder, grüne Wildlederschuhe, trägt beim Lesen und Schreiben dunkle Hornbrille.

Wie am Tag zuvor isst er eine Kleinigkeit im Ratskeller. Mit ihm am Tisch sitzen ein Monteur und dessen Frau.

Gegen neun Uhr abends sitzt er im Restaurant des Parkhotels.

Er machte sich sehr viele Notizen. Er schrieb dabei ziemlich klein. Beiwerk: l. Hand kleiner Finger zwei große goldene Ringe, rechte Hand Ringfinger goldener Ring, schwarzer Stein.

Harrison arbeitet eineinhalb Stunden konzentriert. Anschließend begibt er sich zur Telefonzentrale.

Hier führte ‚Werfer‘ ein ca. 5 Minuten langes Telefongespräch (22.35 bis 22.40 Uhr).

Nach dem Telefonat verlässt er das Hotel und fährt nach Portiz.

23.28 Uhr wurde ‚Werfer‘ im Zimmer gesehen. Es hatte den Anschein als entkleidet er sich. 23.57 Uhr ging das Licht aus.

Am Sonnabend zieht es Harrison nicht zur Messe, sondern nach Markkleeberg. Er ist fasziniert von dem Gedanken, dass fast jedes noch so kleine Kaff in Deutschland eine brutale Geschichte hat. Auch Markkleeberg. Hier war die Entscheidungsschlacht gegen Napoleon, damals die größte Feldschlacht der Weltgeschichte. Hier betrieben die Nazis ein KZ-Frauenlager. In der Nacht des 13. April 1945 wurden die Frauen auf den Todesmarsch geschickt, bei eisigem Regen durch die verdunkelten Straßen von Leipzig.

1945 kamen zuerst die Amerikaner, die Sowjets übernahmen.

»Pech gehabt«, hat der Freund, den Harrison besuchen wird, einmal gesagt.

Harrison biegt in eine Seitenstraße.

Fuhr diese entlang bis zu ihrem Ende, hielt hier an, musterte hier ein Beobachterfahrzeug und die Umgebung, kehrte um, fuhr zurück und weiter nach Markkleeberg-Ost. Hier fuhr ‚Werfer‘ zum Brunnenweg.

Harrison parkt.

Um 11.30 betrat ‚Werfer‘ das Haus.

Am Nachmittag fährt er zurück nach Leipzig.

Am Abend besucht er eine Vorstellung der Pfeffermühle, danach will er einen Absacker trinken. In der Gaststätte Sofia.

Zwei Männer treten an seinen Tisch, fragen, ob noch Platz...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte BBC • Briefe Ausstellung Berlin • Das schweigende Klassenzimmer • DDR • Dissidenten • eBooks • Geschichte • Ostdeutschland • Siegfried Suckut • Volkes Stimmen • Widerstand
ISBN-10 3-641-19948-4 / 3641199484
ISBN-13 978-3-641-19948-7 / 9783641199487
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