Plötzlich Gänsevater (eBook)

Spiegel-Bestseller
Sieben Graugänse und die Entdeckung einer faszinierenden Welt
eBook Download: EPUB
2017
240 Seiten
Ludwig Buchverlag
978-3-641-20660-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Plötzlich Gänsevater - Michael Quetting
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Für ein wichtiges Forschungsprojekt soll Michael Quetting, Laborleiter am Max-Planck-Institut, Graugänsen beibringen, ihm und seinem Ultraleichtflugzeug durch die Lüfte zu folgen. Doch zunächst heißt es: brüten. Als schließlich sieben Gänschen schlüpfen, bedeutet das für Quetting die komplette Entschleunigung seines Lebens; plötzlich entdeckt er, was es heißt, als Mensch wieder ein integrierter Teil der Natur zu sein. Mit liebevollen Charakterisierungen seiner Truppe lässt Quetting uns teilhaben an dem Abenteuer, wie sich die kleinen Gänse entwickeln; wie sie gemeinsam Land, Wasser und die Lüfte erobern - bis hin zum schweren Abschied am Ende des Projekts, als die Tiere in die Freiheit entlassen werden und Michael Quetting ein anderer ist ...

Michael Quetting, Jahrgang 1974, ist Laborleiter und Pilot am Max Planck Institut, wo er seine Leidenschaft für die Fliegerei mit der Liebe zu seinen gefiederten Freunden auf ganz wunderbare Weise verbinden kann. Darüber hinaus stellt er für die Dauer des Forschungsprojekts auch noch seine Qualitäten als ausdauernder Gänsepapa und Gänsemama in Personalunion, als zielstrebiger Hausmeister, ehrgeiziger Forscher, mutige Leitgans und abenteuerlustiger Fluglotse erfolgreich unter Beweis. Der flugbegeisterte Vogelliebhaber ist Vater zweier Menschenkinder und lebt am Bodensee.

NEUN EIER

Ich bin hochschwanger mit Neunlingen. Beziehungsweise: So ungefähr fühle ich mich. Bis zum errechneten Schlupftermin, dem 30. Bruttag, ist es zwar noch etwas mehr als eine Woche hin, doch der Nestbautrieb hat mich bereits voll im Griff. Ich würde gerne in Geschäftigkeit ausbrechen, Lieferanten nach dem besten Bioheu und den besten Biokörnern abklappern, irgendetwas zusammenbauen und alles möglichst gut vorbereiten, doch im Vogelnestbau habe ich leider überhaupt keine Erfahrung. Ich kann nichts tun, außer mit verklärtem Blick vor dem Brutautomaten zu sitzen.

Hinter der Glasscheibe liegen neun Gänseeier. Der Brutautomat steht im Keller des Max-Planck-Instituts, in dem ich arbeite. Das Ding sieht ein bisschen aus wie ein Heißluftbackofen und hört sich auch so an. Im Inneren des Brutautomaten wird die Warmluft nämlich ständig umgewälzt und verteilt, was ein angenehmes, sonores Brummen erzeugt.

Allerdings ist es da drin nur genau 37,6 Grad warm. Ein paar Grad mehr und die Eier würden nicht ausgebrütet, sondern gar gebrüht. Ein paar Grad weniger und sie würden nur aufbewahrt wie im Kühlschrank.

Die Eier sind etwa faustgroß. Es gibt Menschen, die sich aus Gänseeiern ein pfannengroßes, besonders aromatisches Spiegelei machen oder sie – wie die Großpackung eines Hühnereis – ganz normal zum Backen verwenden. Wahrscheinlich ist das praktisch, denn ein Gänseei entspricht ungefähr drei Hühnereiern, aber ich habe es noch nie ausprobiert.

In dem Brutautomaten herrscht eine Luftfeuchtigkeit zwischen 65 und 70 Prozent – man könnte auch sagen, das Ganze ist ein vollautomatischer Gänsepopo. Die Eier sollen sich hier genauso entwickeln, wie unter dem Bürzel ihrer Gänsemama in freier Natur.

Leider ist das nicht so einfach, wie es klingt, denn so ein Gänsepopo ist ein filigranes Gebilde und erzeugt eine einzigartige Atmosphäre aus Wärme und Feuchtigkeit. Damit das Schlüpfen im Automaten auch klappt, müssen sämtliche Brutparameter konstant bleiben, und zwar über den ganzen Tag hinweg. Am wichtigsten ist die exakte Luftfeuchtigkeit. Ist sie zu niedrig, trocknet die Haut des Eis im Inneren aus und das Gewebe bekommt eine ledrige Konsistenz – dadurch wird das Schlüpfen für die Küken sehr erschwert, und es kann sein, dass sie es nicht schaffen, die Haut des Eis zu durchbrechen. Dann schlüpfen sie nicht aus, sondern bleiben in dem ledrigen Ei gefangen. Eine Qual, die ich den Gänseküken lieber ersparen will.

In der Natur entsteht die hohe Luftfeuchtigkeit dadurch, dass die Gänsemama ein- bis zweimal täglich das Nest verlässt, eine Runde baden geht und sich anschließend mit nassem Po wieder auf die Eier setzt. Während sie weg ist, sinkt allerdings auch die Temperatur im Nest. Der Brutschrank kann den kleinen Ausflug der Gänsemama natürlich nicht nachmachen, deshalb nehme ich die Eier zweimal am Tag heraus, kühle sie eine halbe Stunde lang mit kalter Luft und besprühe sie vor dem Zurückstellen mit lauwarmem Wasser.

Die Eier sind cremeweiß und ihre Oberfläche fühlt sich sehr angenehm an. Warm und ganz glatt, fast wie ein beheizter Handschmeichler.

Ich habe jedes Mal Angst, eins von den Eiern könnte mir auf den Steinboden fallen. In der dritten Brutwoche sähe so ein aufgeschlagenes Gänseei garantiert nicht mehr wie etwas aus, das sich mit »Zewa Wisch&Weg« appetitlich beseitigen lässt, sondern wie der Embryo eines Kükens, das sich vielleicht schon bewegt.

Die Eier müssen außerdem mehrmals am Tag gewendet werden – das ist wichtig, sonst könnten die kleinen Gänseembryos an der Eiwand festkleben. Um sich entwickeln zu können, müssen sie immer frei in ihrem Dottersack schwimmen.

In den ersten Wochen war ich bei der Kontrolle der Parameter noch relativ entspannt, doch jetzt stelle ich eine immer stärkere Brutparanoia an mir fest. Ich muss mich beherrschen, nicht andauernd hochzuspringen und immer wieder die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit zu kontrollieren. Vorgestern Nacht bin ich um kurz nach eins aus meinem Bett hochgeschreckt und hergefahren, weil ich dachte, die Eier seien plötzlich zu kühl.

Bei dem ganzen Projekt steht viel auf dem Spiel – und damit meine ich nicht nur das Leben von neun kleinen Gänseküken. Es geht auch um Geld und den Erfolg meiner Arbeit.

Die Gänse sollen später sogenannte Datenlogger auf dem Rücken tragen. Das ist ein etwa streichholzschachtelgroßes Messgerät, das allerhand Daten aufzeichnet. Mit Hilfe dieser Messdaten kann man dann präzise Aussagen über Flugmechanik, Aerodynamik und den momentanen Zustand der Atmosphäre treffen.

Wenn es gelingt, soll es in einigen Jahren oder Jahrzehnten möglich sein, an vielen Orten der Welt, dort wo sich Vögel und andere Tiere befinden, zum Beispiel Daten über Luftströmungen und Windgeschwindigkeiten zu erhalten. Diese wertvollen Informationen sollen dann automatisch über einen Satelliten gesammelt und zur Auswertung zur Erde gefunkt werden. Für die Wetterbeobachtung sind das äußerst wertvolle Informationen, gerade weil sie ansonsten auf Daten angewiesen ist, die von den Messungen der Bodenstationen stammen. Wie zum Beispiel die Luftbewegungen in 3 000 Metern Höhe irgendwo in der Mongolei aussehen, das können die Wetterstationen bislang nur mutmaßen und näherungsweise bestimmen. Irgendwann einmal könnte es gelingen, aus Vögeln mobile Wetterstationen zu machen, ohne sie in ihrem Flugverhalten zu beeinflussen.

Falls es mir nicht gelingt, die Eier zum Schlüpfen zu bringen, bedeutet das: Ein ganzes Jahr ist verloren. Neue Gänseeier wird es erst nächstes Jahr wieder geben. Gänse brüten nicht, wie ein Huhn, das ganze Jahr über, sondern nur, je nach Witterung, zwischen März und Mai. Vielleicht werden Gänseeier bei manchen Menschen auch deshalb als Delikatesse angesehen: Sie sind nicht ständig verfügbar, das Angebot ist durch die Natur beschränkt. Für eine Gans ist das übrigens nicht anders: Entdeckt zum Beispiel ein hungriger Marder das Gänsegelege, während die Gänsemama beim Baden ist, so kann sie bei ihrer Rückkehr nur um die Eier trauern, brütet aber nicht noch einmal. Nachgelege gibt es bei Gänsen nicht. Ich weiß nicht, ob Gänse wirklich trauern, aber der Gänsemutter bleibt dann nichts anderes übrig, als ein Jahr zu warten.

Doch warum soll gerade ich Gänsevater werden? Ganz einfach: Weil ich fliegen kann. Ich bin schon lange Drachenflieger und habe vor einiger Zeit einen Flugschein für ein Ultraleichtflugzeug gemacht. Deshalb war im Institut, als es darum ging, wer dieses Projekt übernimmt, auch ziemlich schnell klar, dass ich die Gänse aufziehen würde. Und wenn alles klappt, dann werde ich mit den Gänsen in ein paar Wochen fliegen!

Die Verantwortung und die Spannung lastet ganz schön schwer auf meinen Schultern. Hinzu kommt: Ich bin gerade frisch geschieden und habe mich von all dem Stress noch nicht so richtig erholt. Ich darf die Gänseeier nicht vernachlässigen, möchte aber auch nicht, dass die Zeit auf Kosten meiner Kinder geht, die mich gerade jetzt besonders brauchen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich emotional überhaupt Kapazitäten für neun bedürftige, piepsende, nervende kleine Küken haben werde.

Aus all diesen Gründen bin ich nervös und unausgeglichen, während ich vor dem Brutautomaten sitze. Dass ich den Eiern aus Nils Holgersson vorlese, hat also nicht zuletzt den Zweck, mich selbst ein bisschen zu beruhigen.

Ja, genau: Ich lese den Eiern vor. Ich stelle einen Bluetooth-Lautsprecher zwischen die Eier und höre bald meine etwas verzerrte Stimme:

Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war zu nichts recht zu gebrauchen …

Wichtig ist, dass die Küken – oder die Gössel, wie sie im Fachjargon heißen – sich schon hinter der Eischale an meine Stimme gewöhnen. Sie sind zwar noch nicht auf der Welt – aber Geräusche können sie schon wahrnehmen. Wenn sie schlüpfen, werden sie sich an den Klang meiner Stimme erinnern. Auch kleine Babys erkennen die Stimme ihrer Mutter schon, wenn sie noch gar nicht geboren sind. Angeblich gibt es ja besonders karrierebewusste Eltern, die um den schwangeren Bauch einen Kopfhörer klemmen und das Baby stundenlang mit klassischer Musik beschallen, weil sie hoffen, dass dadurch die Intelligenz ihres Kindes gefördert wird.

»Keine Angst«, sage ich in den Brutautomaten, »ich werde nicht versuchen, auf eurem Rücken zu fliegen. Ich habe mein eigenes Flugzeug.«

Intelligenter werden die Gänse durch meine Stimme bestimmt nicht. Es geht lediglich um die Prägung auf mich. Ganz grob kann man Vögel in zwei Kategorien einteilen: die Nestflüchter und die Nesthocker.

Beide werden als Eier im Nest ausgebrütet, doch dann kommt der große Unterschied: Während die Nesthocker nach dem Schlüpfen noch einige Zeit als Küken im Nest bleiben und von den Eltern mit vorgekauter Nahrung versorgt werden, sind die anderen direkt nach dem Schlüpfen schon sehr weit entwickelt. Das sind die Nestflüchter, und zu dieser Gruppe zählen auch Graugänse. Sind sie einmal aus dem Ei geschlüpft, dann können sie sich sofort in ihrer Umwelt zurechtfinden. Allerdings werden auch Graugänse in der ersten Zeit noch wochenlang von ihren Eltern beschützt und begleitet.

Das Erstaunliche ist: Die kleinen Gänseküken sind bei der Wahl ihrer Eltern sehr genügsam – als Mama oder Papa nehmen sie einfach denjenigen oder auch dasjenige an, was sie nach dem Schlüpfen wahrnehmen. Normalerweise ist das...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2017
Zusatzinfo mit Bildteil
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte Aussteiger • Biologie • Bodensee • eBooks • Entschleunigung • Erfahrungsbericht • Graugänse • Leben mit Tieren • Max-Planck-Institut • Natur • Ornithologie • Ultraleichtflugzeug • Vögel • Vogelbestimmungsbuch
ISBN-10 3-641-20660-X / 364120660X
ISBN-13 978-3-641-20660-4 / 9783641206604
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