Das gespaltene Land (eBook)
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44293-7 (ISBN)
Alexander Hagelüken, geboren 1968, ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig. Zuvor war er Leiter des Geldteils der SZ, Europakorrespondent in Brüssel, Parlamentskorrespondent in Bonn und Berlin. Für seine journalistische Arbeit wurde er vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Das gespaltene Land, 2017 bei Knaur erschienen, ist Hagelükens erste selbständige Buchpublikation, zu der er sich aus Sorge um das Deutschland seiner vier Kinder entschlossen hat. 2019 folgt bei Droemer Lasst uns länger arbeiten!, ein provokatives Debattenbuch zur gesellschaftlich brisanten Frage nach der Rente.
Alexander Hagelüken, geboren 1968, ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig. Zuvor war er Leiter des Geldteils der SZ, Europakorrespondent in Brüssel, Parlamentskorrespondent in Bonn und Berlin. Für seine journalistische Arbeit wurde er vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Das gespaltene Land, 2017 bei Knaur erschienen, ist Hagelükens erste selbständige Buchpublikation, zu der er sich aus Sorge um das Deutschland seiner vier Kinder entschlossen hat. 2019 folgt bei Droemer Lasst uns länger arbeiten!, ein provokatives Debattenbuch zur gesellschaftlich brisanten Frage nach der Rente.
1. Wie aus Arbeitsplätzen Jobs wurden
Hinter der herrschaftlichen Fassade kreischen Maschinen. Es riecht durchdringend nach Kleber. Arbeiter eilen an diesem Sommermorgen durch die Fabrikhalle, als käme es auf jede Sekunde an. Draußen an der Fassade prangt »Peter Kaiser since 1838«. Europas ältester Fabrikant von Damenschuhen produziert seit 180 Jahren. Das ist eine Zeitspanne, in der Weltreiche aufsteigen. Und wieder untergehen.
Hier in Pirmasens fühlten sie sich stets im Zentrum des Weltreichs der Fußbekleidung. Als im 18. Jahrhundert die Garnison Soldaten abzog, begannen sie in der Not, aus Uniformen Pantoffelschlappen zu flicken. Anderswo schimpfte man die Pirmasenser »Schlabbeflicker«. Doch sie verkauften die Schuhe bald über die Grenzen. Frauen stapelten die Modelle in Körbe und schleppten sie auf Märkte bis in die Schweiz und nach Dänemark.
Zwei dieser Pionierinnen der Globalisierung stehen heute in der Stadtmitte, in Bronze gegossen. Sie blicken auf die frühere Paketpost, die kurz nach Vollendung im 19. Jahrhundert zu klein war, weil alle Welt Schuhe aus Pirmasens kaufte. Aus dem Notbehelf war ein internationaler Hit geworden. Die Stadt soll die größte Millionärsdichte Deutschlands aufgewiesen haben. Auf dem Hügel rund um die Strobelallee entstanden ausladende Villen, deren Besitzern Pirmasens zu Füßen lag. Einer, der in den 60er Jahren als Gymnasiast bei einem Fabrikantensohn eingeladen war, erinnert sich an Treppengeländer, überzogen mit Blattgold. Die Schuhbarone wussten in den goldenen Jahrzehnten kaum, wohin mit ihrem Geld.
Als der heutige Bürgermeister Bernhard Matheis damals in den 60er Jahren ein Junge war, saß er oft im kleinen Schuhwerk seines Großvaters. Der Junge hörte mit großen Ohren zu, als ein Vertreter zu Besuch kam und den Opa warnte: »Das geht nicht mehr lange weiter mit dir.« Die Konkurrenz in Italien sei modischer und produziere für die Hälfte. In Pirmasens fanden damals 30000 Menschen in der Schuhindustrie Arbeit, die Hälfte der Einwohner.
Peter Kaiser liefert heute in die ganze Welt. Neben den kreischenden Maschinen stapeln sich fertige Kisten für den globalen Markt. Wie die Aufkleber verraten, gehen sie nach Estland, Belgien, Weißrussland, Japan. Die Ware kommt nur immer seltener aus Pirmasens. Von früher eintausend Stellen hier in der Produktion sind nur etwas mehr als hundert übrig. In Portugal, wo weit mehr Arbeiter für die Firma nähen, kostet die Arbeit nur ein Viertel so viel. Andere Hersteller produzieren in Asien noch günstiger. Die ganze Branche hat die Fertigung in billigere Länder verlagert.
Diese Globalisierung der Produktion findet in der gesamten deutschen Industrie statt. Mal radikal wie bei Textilien, Fernsehern oder Telefonen, mal moderater wie bei Autos und Chemie. Pirmasens traf der Strukturwandel nur besonders hart. Die Monostruktur Schuhindustrie hatte die Stadt groß gemacht. Nun machte sie sie fertig.
»Die Leute verstanden nicht, was passierte«, erinnert sich Pfarrer Norbert Becker an den Niedergang. »Sie fühlten sich als Opfer.« Bei Messen hatten Amerikaner, Italiener und Franzosen die Stadt bevölkert. Am Exerzierplatz vor dem Rathaus wehten Flaggen wie bei einer Weltausstellung. Nun kam keiner mehr. »Der Strukturwandel war eine große Kränkung. Es legte sich eine Depression über die Stadt«, sagt Becker. Als er 1981 als Gemeindepfarrer im Winzler Viertel begann, gab es eine komplette Infrastruktur mit Bäcker, Metzger, Kino und Ärzten. Bald stufte die Bundesregierung den Ortsteil als »benachteiligtes Viertel« ein.
Pirmasens verlor von seinen 30000 Arbeitsplätzen 90 Prozent. Samstags klingelten Mütter an Beckers Tür und fragten, ob er was zu essen habe.
Die Stadt ist ein Beispiel dafür[7], was im boomenden Deutschland leicht aus dem Blick gerät: Gegenden, die seit Jahrzehnten kämpfen. Es gibt sie in Nordrhein-Westfalen, in Norddeutschland, im Osten. In Pirmasens blickt Bürgermeister Matheis aus dem Rathaus auf ein Kaufhaus, das seit 15 Jahren leer steht. »Man braucht eine hohe Frustrationstoleranz, wenn wieder die nächste Rangliste veröffentlicht wird«, sagt er und versucht ein Lächeln. Pirmasens hat bundesweit die höchsten öffentlichen Schulden und die meisten privaten Schuldner.[8] Jedes dritte Kind unter 15 lebt von Hartz IV.
Der Bürgermeister kämpft für seine Stadt. Er sucht nach neuen Nutzungen für leere Gebäude wie das Kaufhaus, zieht mit neuen Museen Touristen an, siedelt neue Betriebe an. Inzwischen gibt es wieder eine bemerkenswerte Anzahl an Stellen. Nur werden sie häufig von Pendlern aus dem Umland besetzt statt von den Einwohnern der Stadt. So hat die Stadt wieder viele Arbeitsplätze, aber immer noch viele Arbeitslose. Wie kann das sein?
Pirmasens liefert Anschauungsmaterial dafür, wie sich das Land gespalten hat. Zwischen Managern und Arbeitern, Ingenieuren und Verkäuferinnen klaffen heute größere Gräben als in den 80er Jahren. Damals waren die Bundesbürger stolz darauf, wie relativ gleich es in ihrem Land zuging. Wie moderat die Unterschiede im Vergleich zu den USA waren. Das hat sich verändert. Zum Nachteil jener, die in den Fabriken halfen, das Land zum Exportweltmeister zu machen.
Stefan Heigert[9] dreht in seinem Wohnzimmer eine Zigarette. Der vierjährige Kevin quengelt. »Ach Kevin, es gibt jetzt keine Süßigkeiten!«, ruft Mutter Eva. Die Kindergärtnerinnen schicken Kevin über Mittag nach Hause, weil sie ihn zu anstrengend finden. Das ist ein Hindernis für Stefan und Eva Heigert auf der Suche nach Arbeit. Aber nicht das zentrale. Entscheidend ist, dass beide keine Berufsausbildung haben. Eva musste ihre Ausbildung zur Altenpflegerin beenden, als sie mit 18 Jahren schwanger wurde. Stefan überwarf sich in der Maurerlehre mit seinem Chef. Jetzt gehen beide auf die 30 zu, haben drei Kinder und hatten immer wieder Jobs, aber nie was Längeres. Dabei wollen sie raus aus Hartz IV. Raus aus dieser Wohnung, die zu klein ist für fünf. Raus aus diesem Haus, in dessen Flur neulich eine tote Ratte lag. Der neunjährige Sohn will Polizist werden. Er bewundert die Typen in den grünen Uniformen, die vorbeikommen, wenn sich Betrunkene vor dem Haus prügeln.
Früher hätte ein Ungelernter wie Stefan Heigert eine feste Stelle gehabt. Ende der 70er Jahre war mehr als jeder dritte Westdeutsche gering qualifiziert. Beruflich stellte das keinen Makel dar: Nur fünf Prozent der Ungelernten waren arbeitslos. Heute sieht das ganz anders aus. Inzwischen haben 20 Prozent der Ungelernten keine Arbeit.[10] Wer wie Migranten oder Alleinerziehende häufiger zu dieser Gruppe gehört, hat jetzt schlechte Karten. Die meisten westdeutschen Hartz-IV-Bezieher sind heute Ungelernte.[11] In den einst stolzen Industriezonen des Ruhrgebiets lässt sich sehen, was aus Menschen mit Hilfsjobs wird: In Gelsenkirchen, Herne, Duisburg, Recklinghausen, Oberhausen und Dortmund gehen 40 Prozent von ihnen stempeln.[12]
Der deutsche Arbeitsmarkt meldet eine Rekordbeschäftigung, für die Heigerts hält er nur Brosamen bereit. Verschwunden die Tätigkeiten, bei denen einer einfach anpackt. Stefan jobbt bei Schuhzulieferern, bei Amazon, er zog auch schon für Arbeit um. Die Stellen sind immer befristet, meist Zeitarbeit, bald ist er wieder draußen. Seine Frau jobbte in der Pflege, bis ein schlecht behandelter Hüftschaden die Schmerzen zu groß werden ließ. Ohne Ausbildung hat sie kaum Aussicht auf eine Stelle, die weniger körperlichen Einsatz verlangt. In der globalisierten Wirtschaftswelt zählt Qualifikation, sonst wenig. Das sind die neuen Regeln für Arbeitnehmer.
Die Pointe ist, dass die Pirmasenser Schuhbarone bewusst ein Heer Ungelernter heranzogen. Sie drängten die Arbeiter, ihre Söhne und Töchter nach der Schule sofort in die Fabrik zu holen. Sie lockten mit einem Mofa und verführten sie damit, auf eine Ausbildung zu verzichten. Bürgermeister Matheis erzählt, wie früher manchmal Lehrer Fabrikarbeiter ansprachen, der Sohn solle unbedingt aufs Gymnasium. Worauf die Arbeiter erwiderten, ihr Chef wolle den Sohn in der Fabrik haben. Die Arbeit war hart, aber die Kinder verdienten sofort, statt den Eltern auf der Tasche zu liegen. Und die Stellen schienen sicher. »Über vier, fünf Generationen gab es keinen Grund, auf hohe Schulbildung zu setzen«, erklärt der Bürgermeister. Deshalb werden die neuen, qualifizierten Arbeitsplätze in Pirmasens oft von Pendlern besetzt statt von Stadtbewohnern.
Die Schuhbarone bevorzugten Arbeiter ohne Ausbildung, weil sie billiger waren und nicht abwanderten. Dann machten die Schuhbarone dicht. Die Arbeiter fanden keine Arbeit mehr. »Ungelernte können nicht in Wettbewerb treten«, beobachtet Pfarrer Becker. »Solche wie sie gibt es auch in Ludwigshafen genug.« Die Schuhbarone globalisierten ihre Produktion oder verkauften ihre Firmen. Manche gingen pleite, die meisten behielten das Vermögen aus den goldenen Jahrzehnten. Die Arbeiter verloren ihre Arbeit und behielten nichts.
In Pirmasens lässt sich studieren, wie Ungleichheit neue Ungleichheit produziert. Im Kapitalismus überdauert nur das Eigentum. Wer es hat, hat selbst dann noch was, wenn sein Geschäftsmodell untergeht. Die Arbeitsplätze in der Schuhindustrie sind verloren. Die Villen in der Strobelallee stehen noch. Die Schuhbarone haben sie verkauft oder vererbt.
Stefan Heigert verfügt über eine andere Art von Erbe. Jenes, das die Schuhbarone der Allgemeinheit hinterließen. Wie die Fabrikanten es stets förderten, absolvierten Heigerts Eltern keine Ausbildung, bevor sie in der Schuhfabrik anfingen....
Erscheint lt. Verlag | 27.2.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Armut • Chancengleichheit • Erben • Gerechtigkeit • Hartz IV • Kinder • Mittelschicht • prekär • Prekariat • Reichtum • Standort • Ungleichland • Ungleichland – Wie aus Reichtum Macht wird • Vermögen • Wohlstand • Zukunft |
ISBN-10 | 3-426-44293-0 / 3426442930 |
ISBN-13 | 978-3-426-44293-7 / 9783426442937 |
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