Was ist deutsch? (eBook)

Die Suche einer Nation nach sich selbst
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
1056 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10014-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was ist deutsch? -  Dieter Borchmeyer
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Dieter Borchmeyers große Erzählung von uns Deutschen: Spiegelbild und Wegweiser zugleich. Die Frage «Was ist deutsch?» ist ihrerseits typisch deutsch - keine andere Nation hat so sehr um die eigene Identität gerungen und tut es bis heute. Wie vielfältig und faszinierend die Antworten auf diese Frage im Lauf der Jahrhunderte ausfielen, das zeigt Dieter Borchmeyer: Von Goethe über Wagner bis zu Thomas Mann schildert er, wie der Begriff des Deutschen sich wandelte und immer wieder neue Identitäten hervorbrachte. Er erzählt von einem Land zwischen Weltbürgertum und nationaler Überheblichkeit, vom deutschen Judentum, das unsere Auffassung des Deutschen wesentlich mitgeprägt hat, von der Karriere der Nationalhymne und der deutschesten aller Sehnsüchte: der nach dem Süden. Borchmeyer erklärt, wie gerade die deutsche Provinz - etwa Weimar und Bayreuth - Weltkultur schaffen konnte und was es für Deutschland bedeutet, sich entweder als Staats- oder als Kulturnation zu verstehen. Dieter Borchmeyer zeichnet ein facettenreiches und eindrückliches Bild des deutschen Nationalcharakters. In einer Zeit der Umbrüche, in der Deutschland wieder einmal seine Rolle sucht, ist diese große Geschichte der deutschen Selbstsuche Spiegelbild und Wegweiser.

Dieter Borchmeyer, geboren 1941 in Essen, war bis 2006 Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg. Von 2004 bis 2013 war er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Stiftungsratsvorsitzender der Ernst von Siemens Musikstiftung. Dieter Borchmeyer ist Autor zahlreicher Bücher und ein ausgewiesener Experte für die Weimarer Klassik, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Thomas Mann. Im Jahr 2000 erhielt er den Bayerischen Literaturpreis (Karl-Vossler-Preis).

Dieter Borchmeyer, geboren 1941 in Essen, war bis 2006 Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg. Von 2004 bis 2013 war er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Stiftungsratsvorsitzender der Ernst von Siemens Musikstiftung. Dieter Borchmeyer ist Autor zahlreicher Bücher und ein ausgewiesener Experte für die Weimarer Klassik, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Thomas Mann. Im Jahr 2000 erhielt er den Bayerischen Literaturpreis (Karl-Vossler-Preis).

Die zwei Seelen der Deutschen


«Der Deutsche scheint an seinem eigenen Wesen, an dem eben noch die Welt genesen sollte, selber irre geworden, er traut dem eigenen Gefühl nicht mehr, er fragt herum, was denn eigentlich deutsch sei, der Name hat seinen alten Sinn verloren, man sucht einen neuen, jeder will einen anderen.»

Hermann Bahr: Tagebücher (23. Oktober 1923)

Kein Volk der Geschichte hat sich so unaufhörlich mit der eigenen Identität beschäftigt wie das deutsche. Die Antworten auf die zumal seit dem 18. Jahrhundert immer neu gestellte Frage «Was ist deutsch?» pendeln, bisweilen mit extremen Ausschlägen, zwischen zwei Polen: einem welteinschließenden – kosmopolitischen – und einem weltausschließenden – nationalistischen – Pol. Kaum je ist dieses Pendel der Identitätssuche zum Stillstand gelangt, ja die heftige Bewegung zwischen den Polen hat immer wieder auch dafür gesorgt, dass der eine der beiden Pole Züge des anderen übernahm. Das Dritte Reich hat den übernationalen Aspekt, welcher der Wesensbestimmung des Deutschen ursprünglich eigen ist, gänzlich ausgeschaltet und die Frage «Was ist deutsch?» in einem rein nationalistischen Sinne beantwortet; dessen katastrophale Folgen haben dazu geführt, dass schon die bloße Frage nach der deutschen Identität lange zum Kanon des Verbotenen gehörte. Erst seit der Wiedervereinigung ist sie aus diesem Kanon wieder entlassen worden.

Eine der frühesten und merkwürdigsten Phantasien über die Frage «Was ist deutsch?» finden wir in Grimmelshausens Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus aus dem Jahr 1668. Zu Beginn des dritten Abschnitts begegnet der Titelheld nämlich einem teutomanischen «Phantasten», der sich wie Cervantes’ Don Quijote «überstudiert und in der Poeterei gewaltig verstiegen» hat und wähnt, «Gott Jupiter» zu sein. Mit diesem «Narrn» lässt sich der Ich-Erzähler Simplicius Simplicissimus auf ein Rollenspiel ein, indem er in die Rolle des göttlichen Mundschenken Ganymed schlüpft. So offenbart ihm der wahnsinnige Jupiter, es sei «ein groß Geschrei über der Welt Laster zu mir durch die Wolken gedrungen»; die Götterversammlung habe ihn daher gedrängt, die Menschheit durch eine neue Sintflut zu vernichten. Weil er aber «dem menschlichen Geschlecht mit sonderbarer Gunst gewogen» sei, plane er nicht, «alle Menschen zugleich und ohne Unterscheid auszureuten, sondern nur diejenigen zu strafen, die zu strafen sind, und hernach die übrigen nach meinem Willen zu ziehen».[1]

Simplicissimus erfährt nun, worin dieser Wille besteht: «Ich will einen Teutschen Helden erwecken, der soll alles mit der Schärfe des Schwerts vollenden, er wird alle verruchten Menschen umbringen und die frommen erhalten und erhöhen» – ja «die ganze Welt reformieren». Dieser «teutsche Held» ist nun mitnichten ein neuer Arminius (Hermann), er ist ein Gesandter nicht des germanischen, sondern des griechischen Göttervaters – der Germanenmythos wird erst fast ein Jahrhundert später seinen Siegeslauf antreten. Er soll auf dem Parnass erzogen, mit der Schönheit von Narziss, Adonis oder Ganymed ausgestattet sein und eine solche «Anmutigkeit» ausstrahlen, dass er «bei aller Welt beliebt» ist. Ein griechischer Held in deutschem Gewand! Hier scheint bereits die affectio originalis, die Verbundenheit des Deutschen mit dem Griechischen, ihren Schatten vorauszuwerfen, die für die deutsche Klassik so fundamentale Bedeutung haben wird: das Selbstgefühl des Deutschen als des modernen Griechen. Der von Jupiter gesandte Messias soll eine neue Weltregierung herbeiführen. Als Friedensfürst wird er kommen – der freilich alle, die sich ihm entgegenstellen, «ausrotten» soll – und von Stadt zu Stadt, von Land zu Land ziehen, um die «klügsten und gelehrtesten Männer» auszuwählen. Aus ihnen wird er ein alle Gemeinden vereinigendes «Parlament» bilden, das Leibeigenschaft, Zölle, Akzisen, Zinsen, Fronen, Kontributionen und so fort abschaffen wird und die Menschen, die alsbald von keinem Krieg mehr wissen werden, «viel seliger als in den Elysischen Feldern leben» lässt.[2]

Dann aber wird der Zeitpunkt kommen, da er, Jupiter, «den ganzen Chorum Deorum nehmen und herunter zu den Teutschen steigen» wird, um für immer unter ihnen zu wohnen und zu wandeln. Er wird den Sitz der Musen nach «Teutschland» verlegen und dieses «höher segnen mit allem Überfluß» als alle paradiesischen Länder des Orients. Ferner: «Die griechische Sprach werd ich alsdann verschwören und nur Teutsch reden und mit einem Wort mich so gut teutsch erzeigen, daß ich ihnen [den Teutschen] auch endlich, wie vor diesem den Römern, die Beherrschung über die ganze Welt zukommen lassen werde.» Zu diesem Behuf wird er Konstantinopel zurückerobern, das einstige Byzanz und «das römisch Kaiserreich wieder aufrichten», dieses aber – eine erneute translatio imperii – Deutschland übergeben. Mit seinen «Parlamentsherren» wird der selbsternannte Jupiter eine neue Hauptstadt «mitten in Teutschland» errichten, die an Größe und Schönheit alle Städte der Welt in Geschichte und Gegenwart in den Schatten stellen soll, ein neues Jerusalem mit einem beispiellos kostbaren Tempel in seiner Mitte sowie einem Museum: einer «Kunstkammer», in der «alle Raritäten der Welt» versammelt sind. Die christlichen Könige Europas sollen «ihre Kronen und Länder von der teutschen Nation aus freien Stücken zu Lehen empfangen, und alsdann wird, wie zu Augusti Zeiten, ein ewiger beständiger Fried zwischen allen Völkern in der ganzen Welt sein».[3]

 

In dieser Endzeitvision des wahnwitzigen Jupiter fließen die eschatologische Gerichtserwartung der Geheimen Offenbarung des Neuen Testaments (Joh 19,11–21 und 20), Reminiszenzen an die Utopia des Thomas Morus (1516) und Elemente anderer frühneuzeitlicher Utopien mit der Messias-Idee und der weitverbreiteten Hoffnung auf einen Endkaiser zusammen.[4] Zugleich entfaltet sich hier ein weltumfassendes Deutschlandideal, das Grimmelshausen aber durchaus nicht für menschheitsbeglückend hält, schlägt die messianische Friedensvision doch ständig in die Androhung von Gewalt und Vernichtung um. Durch die groteske Gestalt dieses von Flöhen geplagten, keineswegs jovialen Jupiter, der in unbändigen Zorn und unflätige Schimpfreden ausbricht, sobald jemand ihm zu widersprechen oder gar einen Scherz zu machen wagt, wird seine Teutschlandutopie satirisch verzerrt. Nach der traditionellen, astrologisch grundierten Temperamentenlehre ist er kein sanguinisches Joviskind, sondern – wie der «überstudierte» Don Quijote – ein typischer Melancholiker, eine durch divinatorisch-seherische Qualitäten, aber auch närrische Züge geprägte Saturn-Kreatur[5] und in seinen Wutausbrüchen ein rechter Choleriker. Und doch enthält seine Narretei – wie diejenige Don Quijotes – mehr als nur ein Körnchen Wahrheit, ja sie nimmt verblüffend, um nicht zu sagen prophetisch, Ideen, Visionen, Utopien, Sehnsüchte und Schrecken vorweg, die mit dem deutschen Nationalmythos seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verbunden sind.[6]

Die ersten Keime dieses Nationalmythos lassen sich in der deutschen Geschichte allerdings weit früher finden, sie sprießen zumal seit der Wiederentdeckung der Germania des Tacitus im 15. Jahrhundert kräftig auf. Erich Kahler (bis zu seiner Emigration Erich von Kahler), einer der engsten Freunde Thomas Manns, hat in seinem monumentalen Buchfragment Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas (1937) auf Heinrich Bebels Rede an Kaiser Maximilian aus dem Jahre 1501 verwiesen, in der das Recht der translatio imperii – dass «das römische Reich auf die Deutschen übertragen worden ist» – verteidigt und demonstriert wird, dass das deutsche Volk würdig sei, «die Herrschaft der Welt zu führen». Und 1647 lesen wir in einem Gedicht von Jesaias Rompler von Löwenhalt über «Teutschland», das von Gott «nun sonderlich erlesen» sei, die Verse: «Jetzt wird in aller welt kein land / wie das / gefunden // Mit dem der wahre Gott ist so genau verbunden.»[7]

Grimmelshausen greift also eine Deutschlandidee auf, die zu seiner Zeit durchaus schon verbreitet war, aber er versieht sie mit mehr als einem Fragezeichen. Kein Wunder, steht sie doch in denkbar größtem Widerspruch zum tatsächlichen Zustand Deutschlands im 17. Jahrhundert. Rompler von Löwenhalts Gedicht ist ein Jahr vor dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs geschrieben, der Deutschland eines Drittels seiner Bevölkerung beraubte, es in das tiefste Elend seiner Geschichte stürzte – ausgerechnet in jenem Jahrhundert, in dem andere europäische Nationen, sei es England, Frankreich, Spanien oder die Niederlande, die klassische Blütezeit ihrer Kultur erlebten – und der sein Selbstgefühl in den folgenden Jahrhunderten traumatisch prägte.

Nie haben die Deutschen ein gesichertes Identitätsgefühl entwickelt, keine Nation hat so unermüdlich sich und den anderen Nationen Rechenschaft darüber abzulegen gesucht, was sie nun eigentlich sei, und die führenden Geister keines anderen Volks haben so harsche Kritik, bis hin zur Selbstverleugnung, Selbstpreisgabe, ja zum Selbsthass, an der eigenen Nation geübt. Die Erfahrung anderseits, aufgrund der Zersplitterung Deutschlands, seiner fehlenden staatlichen Einheit, so oft Spielball und Beuteobjekt der umgebenden...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2017
Zusatzinfo Zahlr. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Deutsche Identität • Deutsche Nation • Deutscher Sonderweg • Deutsche Tugenden • Deutschland • Goethe • Kulturnation • Nationalbewusstsein • Nationalhymne • Nationalismus • Richard Wagner • Thomas Mann • Weimarer Klassik
ISBN-10 3-644-10014-4 / 3644100144
ISBN-13 978-3-644-10014-5 / 9783644100145
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