Als hätte der Himmel mich vergessen (eBook)

Verwahrlost und misshandelt im eigenen Elternhaus
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
368 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-3067-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als hätte der Himmel mich vergessen -  Amelie Sander
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Pro Tag muss ihr ein Becher Wasser reichen, am Mittagstisch bekommt sie von der Mahlzeit einen Löffel voll, während sich die anderen sattessen. Von ihrem 4. Lebensjahr an wird Amelie von ihrer Stiefmutter terrorisiert, gequält und in Gefangenschaft gehalten. Der Außenwelt erklärt die Familie, Amelie sei behindert, so können sie ihren perfiden Sadismus jahrelang ungehindert ausleben. Erst mit 21 gelingt Amelie die Flucht. Sie hat lange gebraucht, die Traumata zu verarbeiten, aber jetzt ist sie bereit, ihre bewegende Geschichte zu erzählen.



<p>Amelie Sander wurde Ender der 60er Jahre in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland geboren. Nach ihrer Flucht aus dem Elternhaus musste sie von Null auf Hundert lernen, sich im täglichen Leben zurechtzufinden und auf eigenen Beinen zu stehen. Als sie ihren Mann kennenlernte, erfüllte sich ihr größter Wunsch: einen Menschen zu finden, den sie lieben und rückhaltlos vertrauen kann.</p> <p><br> </p>

Amelie Sander wurde Ender der 60er Jahre in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland geboren. Nach ihrer Flucht aus dem Elternhaus musste sie von Null auf Hundert lernen, sich im täglichen Leben zurechtzufinden und auf eigenen Beinen zu stehen. Als sie ihren Mann kennenlernte, erfüllte sich ihr größter Wunsch: einen Menschen zu finden, den sie lieben und rückhaltlos vertrauen kann.

1. Kapitel


Die Flucht


Ich wache auf und weiß überhaupt nicht, wo ich bin. Das Zimmer ist hell, die Möbel so weiß wie das Bettzeug, in dem ich liege, und es duftet nach Sauberkeit und Frische. Es dauert eine Weile, bis ich es fassen kann: Ich bin meinem Gefängnis entronnen. Ich habe es tatsächlich geschafft, der Tyrannei meiner Stiefmutter zu entfliehen. Ich kneife mir in den Arm, um sicherzugehen, dass ich nicht träume. Aber es ist Wirklichkeit: Ich bin frei.

Ich will aus dem Bett steigen, doch sofort wird mir schwarz vor Augen, sodass ich mich wieder in die Kissen fallen lasse. Und mit der Schwäche ist auch die Angst wieder da, meine treue Begleiterin, solange ich mich zurückerinnern kann. Sie sagt: ›Sie werden kommen und dich holen. Die Nonnen werden dich nicht beschützen können.‹

Vor mir sehe ich das gehässige Gesicht meiner Stiefmutter. ›Du hast tatsächlich geglaubt, dass du mir entwischst?‹ Ich halte mir die Ohren zu, um ihr hässliches Lachen nicht hören zu müssen; verberge mein Gesicht hinter meinen gekreuzten Armen, um ihren Schlägen zu entgehen.

Doch die Zeit vergeht, und niemand kommt, um mich zu holen. Mein Atem beruhigt sich langsam. ›Keine Panik, Amelie‹, sage ich mir. ›Sie haben dich gehen lassen. Auch wenn es im letzten Moment fast anders ausgegangen wäre.‹

Und schon steht mir wieder alles vor Augen: meine Flucht und wie es dazu kam.

– – –

Um sieben Uhr ist Zeit zum Abendbrot. Geduckt nehme ich meinen mir seit Jahren zugewiesenen Platz in der hintersten Ecke der kleinen Küche ein, wo schon mein besonderer Teller auf mich wartet. Vom Familiengeschirr darf ich nicht essen, die anderen »könnten sich ja etwas bei mir holen«. Mein altes Geschirr wird als letztes im schmutzigen Spülwasser abgewaschen und separat aufbewahrt, ganz so, als wäre ich aussätzig. »Mama«, wie ich meine Stiefmutter nennen muss, hat mir zwei kleine Brote dünn mit Margarine bestrichen und eine Scheibe Wurst pro Brot daraufgelegt. Die Wurst ist schon ein paar Tage alt. »Die neu gekaufte hast du nicht verdient«, zischt sie mir zu. Noch immer trifft mich ihr Hass mitten ins Herz.

Ich schlinge mein karges Abendessen hinunter. Natürlich macht es mich nicht satt, im Gegenteil, ich habe das Gefühl, jetzt noch hungriger zu sein. Ich sehe den anderen beim Essen zu und habe das Gefühl, gleich durchzudrehen. Wir wohnen in einer guten Gegend, mein Vater hat einen guten Job und bringt genügend Geld nach Hause, so wie alle in unserer Nachbarschaft, und wahrscheinlich bin ich die Einzige weit und breit, die vor Hunger fast halluziniert. Als ich die Treppe hoch in mein Zimmer gehe, muss ich achtgeben, dass ich vor Schwäche nicht stürze. Im Bett wälze ich mich hin und her. Mein gesamter Körper tut mir weh, so hungrig bin ich. Um mich abzulenken, versuche ich, mich auf den morgigen Tag zu konzentrieren. ›Nur noch wenige Stunden, Amelie‹, sage ich mir selbst, ›dann hast du es hinter dir.‹ Irgendwann sinke ich in einen dumpfen Schlaf.

Am nächsten Morgen schrecke ich schon um sechs Uhr wieder hoch. Das ganze Haus schläft noch, keiner ahnt, was ich heute vorhabe, und das ist auch verdammt gut so. Als mir klar wird, dass endlich der Tag meiner Flucht angebrochen ist, wird mir schlecht vor Aufregung. Schnell fliehe ich in meine Traumwelt, die ich mir im Laufe der langen, einsamen Jahre geschaffen habe.

In dieser Traumwelt ist alles gut. Der Tisch ist üppig gedeckt, und zwar ganz allein für mich. Der Kühlschrank ist voll, und ich nehme mir, was ich möchte. Allein diese Szene kann mich stundenlang beschäftigen. Die anderen sehen eine abgemagerte Amelie, die mit abwesendem Blick ins Leere vor sich hin starrt. Sie denken, ich bin zurückgeblieben. In Wirklichkeit haue ich mir gerade den ausgehungerten Bauch voll – leider nur in meiner Fantasie.

Ich höre, wie meine Stiefmutter aus ihrem Schlafzimmer trampelt und meinen acht Jahre jüngeren Stiefbruder weckt. »Marcel, mein Schatz«, sagt sie zu ihrem Liebling, »Zeit zum Aufstehen! Mach dich bitte für die Schule fertig, dann gibt es Frühstück.« Rasch mache ich meine Augen zu. Sie kann jederzeit einen ihrer Kontrollgänge in mein Zimmer machen in der Hoffnung, mich dabei zu erwischen, wie ich etwas Verbotenes tue. Denn ich darf nur das machen, was sie mir ausdrücklich erlaubt, und das ist leider nicht viel.

Doch heute habe ich Glück, sie schaut nicht rein. Stattdessen geht sie nach unten, um für ihren Sohn das Frühstück zu richten. Im Geiste gehe ich mit ihr und sehe ihr zu, wie sie Cornflakes mit Schokostückchen in eine Schale schüttet und Milch darübergießt. Dann schmiert sie ihm zwei leckere Pausenbrote und belegt sie dick mit seiner Lieblingswurst Lyoner. Damit Marcel auch wirklich satt wird, packt sie ihm außerdem einen Schokoriegel ein. Der Junge soll ja bei Kräften bleiben, schließlich besucht er die Realschule und hat einen ziemlich anstrengenden Lernstoff. Ich dagegen bekomme immer und immer wieder zu hören, dass ich ein »Nichtsnutz« bin und weder Kleidung noch Essen verdient habe.

Nur jeden dritten Tag darf ich eine frische Unterhose anziehen. Meine Socken und das T-Shirt muss ich ein paar Tage länger anbehalten. Die Stoffhose mit Gummibund darf ich erst nach vier Wochen in die Wäsche tun. Mein Bett wird nur alle drei bis vier Monate frisch bezogen. Seit ich denken kann, hat meine Stiefmutter die volle Kontrolle über mich und mein Leben.

Ich stehe auf, ziehe den von meinem Vater abgetragenen Schlafanzug aus und schlüpfe wie jeden Morgen in die zerschlissenen Klamotten meiner Stiefmutter. Ein Tag wie viele andere zuvor beginnt. Aber nur fast. Wenn mein Plan aufgeht, ist dies das letzte Frühstück in diesem Haus. Die Nachbarn denken, wir seien eine Bilderbuchfamilie. Sie bewundern meine Stiefmutter für ihre Geduld mit der behinderten und verstockten Amelie. In Wirklichkeit bin ich ihre Gefangene.

Oben im zweiten Stock geht die Tür auf. Stiefoma kommt die Treppe herunter. Immer wenn sie zu Besuch ist – und sie ist es oft –, unterstützt sie meine Stiefmutter mit aller Kraft dabei, mich zu quälen. Als mein Vater und Marcel das Haus verlassen haben, höre ich sie sagen: »Komm, Gerda, wir zwei frühstücken erst mal. Die Amelie ruf ich später.« Sie sagt das mit großer Abscheu in der Stimme, denn für sie bin ich ein »notwendiges Übel«. Doch heute ist mir alles recht, je weniger ich ihnen unter die Augen treten muss, desto besser. Es ist schon halb zehn, als mir Stiefoma endlich erlaubt, in die Küche zu kommen.

Ich betrete die Küche, und Stiefoma wirft mir einen bösen Blick zu. Schon ist sie wieder da, die Angst vor ihren Schlägen. Ich muss warten, bis man mir eine Tasse Caro-Kaffee mit etwas Zucker und Milch zu den beiden kleinen Broten reicht, es kommt nicht infrage, dass ich mir einfach etwas nehme.

Auch heute, an meinem hoffentlich letzten Tag in Gefangenschaft, stehe ich hungrig vom Frühstückstisch auf.

Da ich heute so aufgeregt bin, kann ich meinen Stuhlgang nicht mehr lange zurückhalten. Meinen täglichen Urin darf ich auf der Gästetoilette – und nur dort! – verrichten, während ich meinen Stuhlgang bei meiner Stiefmutter anmelden muss. Das darf ich aber nur jeden dritten Tag. Die beiden Tage dazwischen muss ich ihn mir irgendwie »verkneifen«. Wenn ich es einmal nicht schaffe und meine Stiefmutter um eine Ausnahme anflehe, wird sie wütend. »Offenbar gebe ich dir immer noch zu viel zu essen«, schreit sie dann und schlägt mich. Die wenigen Male, die ich es wagte, heimlich aufs Klo zu gehen, fand sie es heraus und misshandelte mich dermaßen, dass ich es nie wieder tat.

Schnell rechne ich nach, wann das letzte Mal war. Es war vor zwei Tagen, also ist heute bereits der dritte Tag. Auch eine frische Unterhose darf ich mir nehmen. Als ich die alte in die Waschküche im Keller bringe, treffe ich auf meine Stiefmutter, die gerade ihre Wäsche sortiert. Sie fasst mich scharf ins Auge, nimmt mir den schmutzigen Schlüpfer ab und kontrolliert, ob er auch dreckig genug ist. Obwohl sie das seit Jahren tut, schäme ich mich. Vorsichtig frage ich, ob ich »groß« aufs Klo gehen darf.

Vielleicht führt sie einen Kalender über meine Toilettengänge, jedenfalls hat sie sich noch nie verrechnet. Auch heute denkt sie kurz nach, dann nickt sie.

»Pass aber bloß auf, dass danach das Klo ja wieder sauber ist. Und mach sofort das Fenster auf, hörst du, deinen Gestank kann ich nicht ertragen.«

»Ja, Mama«, antworte ich leise und sprinte so schnell ich kann die Treppe hoch und in die Gästetoilette. Ich schaffe es gerade noch, es ist ein Wunder, dass nichts in die frische Hose geht. Ich kann die Erleichterung nicht beschreiben, die ich jedes Mal fühle, wenn ich nach Tagen endlich meinen Darm entleeren darf. Mein ganzer Körper zittert, und ein Schweißfilm bedeckt mein Gesicht, als die Anspannung endlich nachlässt. Natürlich bin ich sehr darauf bedacht, das Klo sauber zu verlassen, denn ich weiß, sie wird es später kontrollieren.

Ich werfe einen kurzen Blick in den Spiegel. Ich bin 21 Jahre alt und sehe aus wie das blanke Grauen. Um meine braunen Augen, die traurig und ständig erschreckt dreinblicken, liegen tiefe Augenringe. Meine Haare sind fettig bis in die Spitzen. Kein Wunder: Das Badezimmer habe ich noch nie betreten, es ist für mich tabu. Wenn es mir alle vier Wochen mal erlaubt wird, mich zu waschen, dann nur an einem Wasserhahn im Waschkeller. Danach säbelt meine Stiefmutter persönlich an meinen Haaren herum und hält sie so...

Erscheint lt. Verlag 13.1.2017
Co-Autor Beate Rygiert
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Schlagworte Anthroposophie • Autobiografie • Autobiographie • Autobiographien • Belletristik • Biografie • Deutsch • Deutschland • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Erinnern • Erinnerung • Erinnerungen • Erkrankung • Esoterik • Familie • Flucht von zu Hause • Folter • Freiheitsberaubung • Geschenk • Geschichte • Gewalt • Hilfe • Hungern • Kindheit • Kontrollzwang • krank • Krankheit • Lebensbericht • Lebensbeschreibung • Lebensführung • Lebensgeschichte • Lebensweg • Leiden • Liebesentzug • Memoiren • Missbrauch • misshandelt • Misshandlung • Psychische Gewalt • Psychologie • Sadismus • Schicksal • Schicksalsschlag • Schicksalsschläge • Schmerztherapie • schwere Kindheit • Sexismus • Terror • Trauma • Traumata • Traumbewältigung • Verwahrlost • Wahre GEschichte
ISBN-10 3-7325-3067-1 / 3732530671
ISBN-13 978-3-7325-3067-0 / 9783732530670
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