Die Revolution im Kopf (eBook)

Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben lang jung halten
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2016 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44186-2 (ISBN)

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Die Revolution im Kopf -  Prof. Dr. Gerd Kempermann
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Spektakuläre Erkenntnisse der Hirnforschung - populär aufbereitet von einem Mediziner und Naturwissenschaftler mit internationalem Ansehen: Gerd Kempermann beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie wir die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns erhalten können. Dabei machte er im Verbund mit anderen Hirnforschern eine bahnbrechende Entdeckung: Auch das erwachsene Gehirn verfügt über Stammzellen; es kann neue Nervenzellen bilden und damit das Altern des Gehirns aufhalten. 'Die Revolution im Kopf' erzählt auf eine sehr anschauliche Weise, wie diese Entdeckung die medizinische Forschung im Kampf gegen Demenz, Alzheimer, Depression und andere Krankheiten voranbringt - und wie wir heute schon mit einem jung gebliebenen Gehirn alt werden können: indem wir uns viel bewegen und dabei unser Gehirn fordern.

Gerd Kempermann, geboren 1965, ist einer der führenden deutschen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Erforschung von neurodegenerativen Erkrankungen. Seit 2007 ist er Professor für Genomik an der Universität Dresden. Für seine Forschungsarbeit bekam er zahlreiche Preise. Sein Fachbuch 'Adult Neurogenesis' wurde 2011 als 'Medical Book of the Year' ausgezeichnet. Gerd Kempermann lebt mit seiner Familie in Dresden.

Gerd Kempermann, geboren 1965, ist einer der führenden deutschen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Erforschung von neurodegenerativen Erkrankungen. Seit 2007 ist er Professor für Genomik an der Universität Dresden. Für seine Forschungsarbeit bekam er zahlreiche Preise. Sein Fachbuch "Adult Neurogenesis" wurde 2011 als "Medical Book of the Year" ausgezeichnet. Gerd Kempermann lebt mit seiner Familie in Dresden.

Wie man neue Nervenzellen findet


Das Prinzip, das der alten und der neuen Methode zugrunde liegt, ist aber dasselbe. Wenn Zellen sich teilen, und nichts anderes verbirgt sich hinter der Formulierung, eine Zelle werde »geboren«, muss sie die in ihrem Kern enthaltene Erbsubstanz, die DNA, verdoppeln, damit beide Tochterzellen wieder die gleiche Menge an identischer Erbinformation bekommen. Die Zelle fertigt dazu eine buchstabengetreue Kopie an und verteilt Original und Kopie in einem atemberaubend komplexen, aber erstaunlich zielsicheren und wirkungsvollen Vorgang auf die beiden bei der Zellteilung entstehenden Tochterzellen. Den gesamten Vorgang der Zellteilung, von der Vorbereitung bis hin zum endgültigen Vollzug der Trennung, nennt man einen »Zellzyklus«, der sich in verschiedene Phasen einteilen lässt. Nach einer kurzen Vorbereitungsphase tritt die Zelle dabei in die lange S-Phase ein. »S« steht für »Synthese«, während der neue Erbsubstanz hergestellt, also synthetisiert, und die Kopie der Erbinformation angelegt wird. Anschließend wird nach einer kurzen Zwischenphase (G2) die für die Teilung notwendige Apparatur aufgebaut, und die beiden Kopien des Genoms wandern zu den zwei Polen der Zelle. Dies ist die M-Phase, »M« für Mitose. Dabei entsteht ein sehr charakteristisches Bild. Schon in klassischen Färbeverfahren, die seit dem 19. Jahrhundert bekannt sind (diesem Teil der Vorgeschichte wenden wir uns noch zu), bindet die zusammengeschnurrte Erbsubstanz basische Farbstoffe, und die typische Kondensierung der Chromosomen wird sichtbar. Das Bild ist so unverwechselbar, dass man sich teilende Zellen, die sich in dieser Phase des Zellzyklus befinden, sehr leicht ausmachen kann.

Allerdings ist die Dauer der Mitose verhältnismäßig kurz im Verhältnis zur Länge des Zellzyklus insgesamt. Das reduziert die Chance, eine sich teilende Zelle ausgerechnet in der Mitosephase zu erwischen, dramatisch. Denn der Gewebeschnitt ist wie eine Momentaufnahme und friert auch den Zustand der Zellen im Zellzyklus ein. Wenn man sich einen x-beliebigen Gewebeschnitt aus dem Gehirn eines Säugetiers ansieht, findet man praktisch nie eine Mitose. Das hat dazu geführt, dass die Anatomen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts davon ausgingen, dass sich Hirnzellen grundsätzlich nicht teilen.

Wenn die Zelle in der S-Phase neue DNA synthetisiert, muss sie auf Rohmaterial zurückgreifen. Die DNA besteht aus den bekannten vier Basen Adenin (abgekürzt A), Thymidin (T), Guanin (G) und Cytosin (C), die sich immer paarweise zusammenlagern können, aber nur A mit T und C mit G. Über dieses Paarungsverhalten funktioniert auch die Anfertigung der Kopie. Der originale Doppelstrang, in dem immer A und T, T und A, C und G und G und C miteinander verknüpft sind, öffnet sich wie ein Reißverschluss, so dass zwei Einzelstränge entstehen. In diesen wird die Abfolge der vier Buchstaben dann wieder mit den jeweils passenden Paarungspartnern vervollständigt. Wo T ist, lagert sich A an, wo A ist, T. C bindet sich an G und G an C. Am Ende sind zwei neue Doppelstränge entstanden, von denen jeder aus einem alten und einem neuen Einzelstrang besteht.

Der Trick ist nun, dass man im Labor einen der Buchstaben (man hat das T genommen) mit schwach radioaktivem Wasserstoff versehen kann, so dass er strahlt und dadurch stets seine Anwesenheit verkündet. Der Zelle bietet man das markierte T im Überfluss an, zum Beispiel indem man es in die Blutbahn spritzt. Wenn also das markierte T so viel häufiger ist als das normale, das die Zelle selbst bereitgestellt hat, wird die Chance steigen, dass immer wieder ein markiertes T in die neuen Stränge eingebaut wird, so dass diese dann eine schwache Strahlung abgeben. Trägt man eine Photoemulsion auf den Gewebeschnitt auf, so wird sie über Zellen, die radioaktiv markierte DNA enthalten, geschwärzt, über anderen aber nicht. Da die radioaktive Markierung nur in Zellen zu finden ist, die aus einer Zellteilung hervorgegangen ist, die just zu dem Zeitpunkt stattgefunden hat, als man das markierte Thymidin verabreicht hat, weiß man genau, wann die Mutterzelle der geschwärzten Tochterzellen sich geteilt haben muss.

Ist diese markierte Zelle nun eine Nervenzelle, dann bedeutet dies, dass sie während einer Zellteilung entstanden sein muss, deren Zeitpunkt bekannt ist. Liegt dieser Zeitpunkt im Erwachsenenalter, haben wir es mit adulter Neurogenese zu tun!

Nun ist es nicht ganz trivial, nur anhand der äußeren Erscheinung zu sagen, ob eine Zelle eine Nervenzelle ist. Das ist in unserem Fall kritisch, denn wenn gerade dies zweifelhaft ist, ist der Beweis, dass adulte Neurogenese stattgefunden hat, hinfällig.

Dies war in der Tat ein Hauptkritikpunkt an Altmans Experimenten. Konnte er sicher sein, dass es sich wirklich um Nervenzellen handelte? Das konnte er nicht, auch wenn die neugebildeten Zellen im Hippocampus zu einer Nervenzellpopulation mit sehr charakteristischem Aussehen gehören. Der andere große Kritikpunkt war die offene Frage, was für eine Zelle sich da eigentlich geteilt haben sollte, um die neuen Nervenzellen hervorzubringen. Denn nach wie vor gab und gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass sich Nervenzellen teilen könnten. Welcher Zelltyp also dann? Altman vermutete ganz zu Recht »eine Art Vorläuferzelle«, aber zu solch einem Zelltyp im Gehirn war nichts bekannt, und es dauerte noch fast dreißig Jahre, bis 1992 dieser Nachweis geführt werden konnte. In dem Jahr beschrieben Brent Reynolds und Sam Weiss von der Universität Calgary in Kanada zum ersten Mal die Stammzellen des erwachsenen Gehirns und damit die Zellen, aus denen die neugebildeten Nervenzellen hervorgehen[10].

Diese Stammzellen, die Reynolds und Weiss entdeckten, lagen in der Wand der flüssigkeitsgefüllten Hirnhöhlen, den »Ventrikeln«, und sind für die adulte Neurogenese im Riechkolben verantwortlich. Die Stammzellen des Hippocampus wurden kurze Zeit später in der Arbeitsgruppe von Fred H. Gage erstmals beschrieben. Jasodhara Ray war die Erste, die hippocampale Stammzellen aus dem fetalen, also vorgeburtlichen Gehirn isolierte und in der Zellkultur vermehrte. Ihr Kollege Theo D. Palmer, der heute Professor an der Stanford-Universität südlich von San Francisco ist, veröffentlichte 1995 das Pendant für das Gehirn der erwachsenen Ratte[11].

Letzteres war eine epochale Entdeckung, aber das wissenschaftliche Veröffentlichungswesen kann sehr ungerecht sein. Die prestigeträchtigsten Zeitschriften lehnten Palmers Arbeit als nicht neu genug ab. Reynolds und Weiss und seine eigene Kollegin Ray waren ihm zuvorgekommen. Aber erst mit Palmers Arbeit war der wahrscheinlich am Ende wichtigste Baustein, vor allem auch im Hinblick auf eine Relevanz beim Menschen, gefunden worden. Was man nach Reynolds und Weiss hatte ahnen können, war jetzt gesichert: Es gab die Stammzellen, die im Hippocampus der Ratte neue Nervenzellen produzieren konnten. Dies waren die teilungsfreudigen Zellen, die Altman mit seinen autoradiographischen Verfahren markiert hatte.

Die Methode mit dem strahlenden Thymidin ist umständlich und wird wegen der Radioaktivität, so schwach diese auch ist, heute nur noch ungern eingesetzt. Die Auflagen sind hoch, und die Handhabung ist kompliziert. Es entsteht immer nur ein Schwarzweißbild; die Methode lässt sich zudem nicht mit den modernen Fluoreszenzmethoden kombinieren, bei denen die unterschiedlichen Marker in den Zellen mit verschiedenen Farben sichtbar gemacht werden können und die damit erlauben, einen Zelltyp mit höchster Genauigkeit zu identifizieren. Dazu ist ein »kaltes« Verfahren notwendig, in dem auch die neugebildete Erbsubstanz mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert werden kann. Ein solches Verfahren wurde zwar in den 1980er Jahren entwickelt, hielt aber erst lange nach Nottebohms wegweisenden Versuchen, die alle noch auf der Thymidintechnik beruhten, Einzug in die Erforschung der adulten Neurogenese. Die Arbeit, die die erste unzweifelhafte Doppelmarkierung von »neu« und »Nervenzelle« mit der modernen Technik lieferte, stammt von 1996. Sie wird nach der eingesetzten Substanz Bromodesoxyuridin, kurz BrdU, benannt. BrdU ist ein Thymidinanalog, ersetzt also auch den Buchstaben T. Das heißt, es sieht fast so aus wie Thymidin und tritt mit ihm in Wettbewerb und wird statt Thymidin in die neugebildete DNA eingebaut, aber es sieht eben nur fast so aus. Bestimmte Eiweiße des Immunsystems, sogenannte Antikörper, binden an BrdU, aber nicht an Thymidin. Wenn man einen solchen Antikörper, der BrdU erkennt, mit einem Fluoreszenzfarbstoff versieht, werden alle Zellen mit neugebildeter DNA unter dem Fluoreszenzmikroskop aufleuchten, die anderen, alten, die nur normales Thymidin enthalten, aber nicht (Abb. 4).

 

4 Um eine neue Nervenzellen im Hirnschnitt sichtbar zu machen, muss man zeigen, dass die Zelle neu und eine Nervenzelle ist. Neugeborene Zellen kann man mit dem dauerhaften Zellteilungsmarker Bromodesoxyuridin (BrdU) sichtbar machen, Nervenzellen durch Anfärbung von Eiweißen, die nur in Nervenzellen vorkommen. Altman und Nottebohm konnten neue Nervenzellen nur radioaktiv markieren und waren auf unsicherere Kriterien für den Nachweis der Nervenzelleigenschaft angewiesen.

© Gerd Kempermann

 

Diese BrdU-Methode ist bis heute eine Schlüsseltechnik, um neue Nervenzellen zu erforschen. Mittlerweile sind aber eine Fülle weiterer Verfahren eingesetzt worden, um adulte Neurogenese nachzuweisen und genauer zu beschreiben. Das ist etwas, das die Wissenschaft immer anstrebt: ein Phänomen mit...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte adulte Neurogenese • Alterungsprozess • Alterungsprozesse • Alzheimer • Demenz • Demenzforschung • Gehirn • Gehirnforschung • Gehirnsynapsen • hippocampus • Hirnforschung • Hirnwachstum • Nervenzellen • Neurowissenschaft • Stammzellen • Wissenschaftlicher Fortschritt
ISBN-10 3-426-44186-1 / 3426441861
ISBN-13 978-3-426-44186-2 / 9783426441862
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