Blattgeflüster (eBook)

Fachbuch-Bestseller
Die wunderbare Welt der Pflanzen. Aus dem Leben einer leidenschaftlichen Forscherin

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016
Ludwig bei Heyne (Verlag)
978-3-641-11438-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blattgeflüster - Hope Jahren
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Eine hinreißende Geschichte über Pflanzen, Liebe und die Wissenschaft
Hope Jahren hat das, wovon viele Menschen träumen: einen Beruf, der ihr Herz und ihr Leben erfüllt. Seit sie denken kann, ist die Geo-Biologin fasziniert von der Natur - von Pflanzen, Bäumen, Blättern, Samenkörnern und den unglaublichen Geschichten, die sie uns erzählen, sogar noch in fossiler Form. Wie ist es beispielsweise möglich, dass ein Kirschkern hundert Jahre lang geduldig warten kann, bis er sich auf einmal dazu entscheidet zu keimen? Hope Jahrens Werdegang von der kindlichen Forscherin zur angesehenen Wissenschaftlerin, die sich trotz zahlreicher Hindernisse in einer Männerwelt behauptet, ist eine inspirierende und mitreißende Geschichte voller Leidenschaft, Durchhaltevermögen und ewiger Neugierde. Ein wunderbares Gleichnis über die Kraft der Natur und die Freude des Entdeckens, das einen ganz neuen Blick auf die Pflanzenwelt eröffnet. Seite für Seite. Blatt für Blatt.

Für die New York Times ist Hope Jahrens »Blattgeflüster« eines der 100 besten Bücher des Jahres 2016.



Hope Jahren, geb. 1969, ist eine anerkannte Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Geobiologie, die sich u.a. mit Bäumen, Blumen, Samen und Böden beschäftigt. Sie hat 1996 in Berkeley promoviert und hat seither an vielen renommierten Universitäten in den USA gelehrt. Derzeit arbeitet sie an der University of Hawaii in Honolulu, wo sie als Professorin ihr eigenes Labor betreibt. Hope Jahren wurde 2005 von Popular Science mit dem Wissenschaftspreis 'Brillant Ten' ausgezeichnet. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn auf Hawaii.

1

Auf der Welt gibt es nichts Perfekteres als den Rechenschieber. Sein poliertes Aluminium fühlt sich an den Lippen kalt an und wenn man ihn gerade ins Licht hält, sieht man in jeder seiner Ecken den vollkommensten rechten Winkel, den Gott je erschuf. Wenn man ihn zur Seite dreht, verwandelt er sich anmutig in einen extravaganten Degen, der sich auch ganz heimlich zurückziehen lässt. Selbst ein sehr kleines Mädchen kann einen Rechenschieber schwingen, wobei der Läufer als Heft dient. In meiner Erinnerung ist dieses Spiel untrennbar mit den ersten Geschichten verbunden, die mir erzählt wurden, und deshalb werde ich nie das Bild eines mit sich ringenden Abrahams loswerden, der gerade dabei ist, den hilflosen kleinen Isaak mit seinem erhobenen, grausamen Rechenschieber zu opfern.

Ich wuchs im Labor meines Vaters auf und spielte unter den Chemietischen, bis ich so groß war, dass ich darauf spielen konnte. Mein Vater gab zweiundvierzig Jahre lang Anfängerkurse in Chemie und Geowissenschaft in diesem Labor, das sich in einem Community College im ländlichen Minnesota befand. Er liebte sein Labor und es war ein Ort, den meine Brüder und ich ebenfalls liebten.

Die Wände bestanden aus Betonblöcken, die von einer dicken Schicht halbmatter, beiger Farbe bedeckt waren, aber man konnte die Struktur des Zements darunter fühlen, wenn man die Augen schloss und sich konzentrierte. Ich erinnere mich, dass ich überzeugt war, die schwarze Gummiverkleidung sei aufgeklebt, weil ich nirgends Nagellöcher fand, als ich einmal die gesamte Länge mit dem gelben Maßband vermaß, das ganze dreißig Meter lang war. Es gab lange Arbeitstische, an denen Studenten Seite an Seite saßen, alle in dieselbe Richtung schauend. Diese schwarzen Arbeitsplatten fühlten sich so kühl an wie Grabsteine und bestanden aus einem ebenso zeitlosen Material, das weder von Säure verätzt noch mit dem Hammer zerschlagen werden konnte (aber versuchen Sie das nicht). Die Tische waren so stabil, dass man auf ihren Kanten stehen konnte und sie ließen sich noch nicht einmal mit Steinen zerkratzen (aber versuchen Sie das nicht). Der ganze Raum war sauber und offen und leer, aber jede Schublade enthielt faszinierende Ansammlungen von Magneten, Draht, Glas und Metall, die alle für etwas nützlich waren; man musste nur herausfinden, wofür. Im Schrank neben der Tür gab es pH-Teststreifen, die wie ein Zaubertrick waren, nur besser, weil sie nicht bloß ein Geheimnis sichtbar machten, sondern es auch lösten: Man konnte den Farbunterschied und somit den unterschiedlichen pH-Wert von einem Tropfen Spucke und einem Tropfen Wasser oder Root Beer oder Urin im Bad sehen, aber nicht von Blut, weil das undurchsichtig ist (also versuchen Sie das nicht). Diese Sachen waren kein Kinderspielzeug, sondern ernsthafte Dinge für Erwachsene, aber ich war ein besonderes Kind, weil mein Vater einen riesigen Schlüsselbund hatte und ich immer, wenn ich mit ihm dorthin ging, mit der Ausrüstung spielen konnte, weil er nie Nein sagte, wenn ich ihn bat, alles hervorzuholen.

In meinen Erinnerungen an jene dunklen Winternächte gehört meinem Vater und mir das gesamte Wissenschaftsgebäude und wir laufen herum wie ein Fürst und sein hoheitlicher Prinz, zu beschäftigt in unserem Schloss, um uns Gedanken über unser gefrorenes Reich zu machen. Während sich mein Vater auf den Unterricht am folgenden Tag vorbereitete, ging ich jedes vorbereitete Experiment und jede Vorführung rückwärts durch und stellte so sicher, dass die Studenten den leichten Erfolg haben würden, für den sie bestimmt waren. Wir brüteten über den Geräten und reparierten, was kaputt war und mein Vater brachte mir bei, Dinge vorsorglich auseinanderzunehmen und zu lernen, wie sie funktionierten, damit ich in der Lage war, sie instand zu setzen, wenn sie versagten, was unweigerlich geschah. Er brachte mir bei, dass es keine Schande ist, etwas kaputt zu machen, sondern nur, es nicht wieder reparieren zu können.

Um acht Uhr gingen wir normalerweise nach Hause, weil ich um neun im Bett sein sollte. Zuerst stoppten wir in dem winzigen, fensterlosen Büro meines Vaters, das bis auf den Stiftehalter, den ich für ihn getöpfert hatte, völlig karg war. Dort sammelten wir unsere Mäntel, Mützen, Schals und die anderen Dinge ein, die meine Mutter für mich gestrickt hatte, weil sie selbst nie gute gehabt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Während ich meine festen Stiefel mühsam über ein zusätzliches Paar Socken zog, spitzte mein Vater jeden Stift an, den wir stumpf gemacht hatten und der Geruch nach warmer, nasser Wolle vermischte sich mit dem nach Holzspänen. Dann knöpfte er rasch seinen dicken Mantel zu, zog seine Handschuhe aus Rehleder an und sagte mir, ich solle meine Mütze fest über beide Ohren ziehen.

Er war immer der Letzte, der das Gebäude am Ende des Tages verließ und er ging die Flure zweimal ab, das erste Mal, um sicherzustellen, dass alle Außentüren verschlossen waren und ein zweites Mal, um die Lichter nach und nach auszuschalten, während ich auf der Flucht vor der uns folgenden Dunkelheit hinter ihm hertrottete. Zum Schluss ließ mich mein Vater am Hintereingang mit nach oben gestrecktem Arm die letzten Lichtschalter ausknipsen und wir gingen hinaus. Er zog die Tür hinter uns zu und rüttelte immer zweimal daran, um sicherzustellen, dass das Schloss eingerastet war.

So ausgeschlossen standen wir in der Kälte auf der Laderampe und schauten zum gefrorenen Himmel hinauf, in die endliche Kälte des Alls, und sahen Licht, das Jahre zuvor von unvorstellbar heißen Feuern ausgestoßen worden war, die noch immer auf der anderen Seite der Galaxie brannten. Ich kannte keine der Konstellationsnamen, mit denen andere Leute die Sterne über mir bezeichneten und fragte nie, wie sie lauteten, obwohl ich sicher bin, dass mein Vater jede einzelne kannte und auch die dazugehörige Geschichte. Wir hatten uns schon lange angewöhnt, nicht zu reden, während wir die drei Kilometer bis nach Hause liefen. Stilles Zusammensein praktizieren skandinavische Familien von Natur aus und vielleicht am besten.

Das Community College, an dem mein Vater arbeitete, lag am westlichen Rand unserer kleinen Heimatstadt, die sich von einem Fernfahrerrastplatz zum anderen über sechs Kilometer ausdehnte. Meine drei älteren Brüder und ich lebten mit unseren Eltern in einem großen Ziegelhaus südlich der Main Street, vier Blocks westlich von dort, wo mein Vater in den 1920ern aufgewachsen war, acht Blocks östlich von dort, wo meine Mutter in den 1930ern aufgewachsen war, 160 Kilometer südlich von Minneapolis und acht Kilometer nördlich der Grenze zu Iowa.

Unser Weg durch die Stadt führte an der Klinik vorbei, wo derselbe Arzt, der mich zur Welt gebracht hatte, gelegentlich einen Halsabstrich bei mir nahm, um ihn auf Streptokokken-Infektionen zu untersuchen, vorbei am zahnpastablauen Wasserturm, dem höchsten Gebäude der Stadt, vorbei an der High School, in der Lehrer arbeiteten, die ehemalige Studenten meines Vaters waren. Wenn wir unter der Dachrinne der presbyterianischen Kirche hindurchgingen, hob mein Vater mich hoch, sodass ich einen dicken Eiszapfen abbrechen konnte. Hier hatten meine Eltern sich 1949 bei einem Sonntagsschulpicknick kennengelernt, hier hatten sie 1953 geheiratet, mich 1969 taufen lassen und hier verbrachte meine Familie ausnahmslos jeden Sonntagmorgen. Während wir weitergingen, kickte ich den Eiszapfen vor mir her wie einen Hockeypuck, und ungefähr alle zehn Schritte klirrte er, wenn er von den harten Schneebänken abprallte.

Wir setzten unseren Weg über handgeschaufelte Gehwege fort, vorbei an dick isolierten Häusern, in denen Familien lebten, die zweifellos Teil einer Stille waren, die der unseren ähnelte. In fast jedem dieser Häuser wohnte jemand, den wir kannten. Vom Laufstall bis zum Abschlussball wuchs ich mit den Söhnen und Töchtern der Mädchen und Jungen auf, mit denen meine Mutter und mein Vater als Kind gespielt hatten und keiner von uns konnte an eine Zeit zurückdenken, zu der wir uns nicht alle gekannt hatten, auch wenn uns die zutiefst verwurzelte Zurückhaltung daran hinderte, viel übereinander zu erfahren. Erst als ich siebzehn war und wegzog, um aufs College zu gehen, entdeckte ich, dass die Welt größtenteils von Fremden bevölkert ist.

Wenn ich auf der anderen Seite der Stadt ein Geräusch wie das Seufzen eines erschöpften Monsters hörte, war mir klar, dass es dreiundzwanzig Minuten nach acht war und der Zug von der Fabrik abfuhr, wie jeden Abend. Ich hörte, wie die großen Eisenbremsen knirschten und sich lösten, wenn die Reihe leerer Tankwaggons begann, sich nach Norden zu schleppen, Richtung Saint Paul, wo jeder von ihnen mit 114 000 Litern Pökel gefüllt werden würde. Morgens hörten wir den Zug zurückkommen und das erschöpfte Monster seufzte wieder, während seine Last in den bodenlosen Salzspeicher gepumpt wurde, den die Fabrik für die ständige Herstellung von Speck benötigte.

Die Gleise verliefen von Norden nach Süden und schnitten eine Ecke meiner kleinen Stadt ab, in der noch immer das vielleicht prächtigste Schlachthaus des Mittleren Westens steht. Ausgehend von seiner Schlachtstraße werden hier täglich über zwanzigtausend Tiere zur Fleischgewinnung verarbeitet.

Meine Familie war eine der wenigen, die nicht direkt in der Fabrik beschäftigt waren, aber unsere Vorfahren hatten dort reichlich gearbeitet. Meine Urgroßeltern waren um 1880 während einer Massenauswanderung von Norwegen nach Minnesota gekommen, so wie die fast aller anderen auch. Und genau wie bei allen anderen in meiner Heimatstadt ist das so ziemlich das Einzige, was ich über meine Vorfahren weiß. Ich hatte den Verdacht, dass es wohl kaum die guten Lebensbedingungen in Europa gewesen sein konnten, die sie an den...

Erscheint lt. Verlag 3.10.2016
Übersetzer Merle Taeger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Lab Girl
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte Bäume • Blätter • eBooks • Geo-Biologie • Helen McDonald • Manische Depression • Natur • Pflanzen • Wissenschaftsmemoir • Wohlleben
ISBN-10 3-641-11438-1 / 3641114381
ISBN-13 978-3-641-11438-1 / 9783641114381
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