Warum ist Glas durchsichtig? Wieso bricht Porzellan so leicht? Was macht aus Kakaobohnen gute Schokolade? Warum kann sich Beton selbst heilen? Der englische Materialforscher Mark Miodownik begibt sich tief ins Innere von menschengemachten Materialien, die für uns alltäglich und meist auch ganz unentbehrlich sind, deren Geheimnisse wir aber selten kennen. Er zeigt auf unterhaltsame Weise und für jeden verständlich ihre verborgenen faszinierenden Seiten, die erklären, warum diese Stoffe auf der ganzen Welt verbreitet sind und zu wichtigen Bausteinen unserer Zivilisation wurden. Ein Buch, das uns die Dinge in unserer Umgebung mit neuen Augen betrachten lässt und Begeisterung weckt für die Welt der Kristallgitter, Moleküle und wundersamen Mixturen.
Mark Miodownik, geboren 1969, ist Materialwissenschaftler am University College London. Bereits 2010 zählte ihn die 'Times' zu den 100 einflussreichsten Wissenschaftlern. In Großbritannien ist er in Radio und Fernsehen ein gefragter Gesprächspartner und Moderator von Wissenschaftssendungen. Miodownik schreibt außerdem regelmäßig für den 'Guardian' und die 'Times'. 'Stuff Matters' wurde 2014 als bestes Wissenschaftsbuch des Jahres mit dem Royal Society Winton Prize ausgezeichnet.
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Kapitel 1
Unbezwingbar
Ich war zuvor nie in die Verlegenheit gekommen, auf einem Kneipenklo eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben zu müssen. Deswegen war ich beinahe erleichtert, dass Brian nicht mehr von mir verlangte. Ich hatte den Mann erst eine Stunde zuvor kennengelernt. Wir saßen im Sheehan’s, einem Pub im Südwesten von Dublin, nicht allzu weit von meinem damaligen Arbeitsplatz entfernt. Brian war ein rotbackiger Mittsechziger, der hinkte und an einem Stock ging. Er trug einen schicken Anzug und hatte dünnes graues Haar mit einem Gelbstich. Außerdem war er Kettenraucher. Kaum hatte er gehört, dass ich Wissenschaftler war, hatte er mich mit Anekdoten aus seinem Leben im London der Siebziger überschüttet, als er mit dem richtigen Gespür für ein gutes Geschäft mit Intel-4004 – Microchips gehandelt hatte. Er hatte die Chips kistenweise zu einem Stückpreis von einem Pfund importiert und in kleinen Mengen zu zehn Pfund pro Stück an die aufstrebende Computerbranche weiterverkauft. Als ich erwähnte, dass ich am University College von Dublin Metalllegierungen erforschte, sah er mich nachdenklich an und schwieg zum ersten Mal. Ich sah meine Gelegenheit gekommen, in der Toilette zu verschwinden.
Die Vertraulichkeitserklärung war auf ein Stück Papier gekritzelt, das Brian offensichtlich eben aus einem Notizbuch gerissen hatte. In wenigen Worten stand dort, dass er mir seine Erfindung beschreiben würde und dass ich Stillschweigen darüber zu bewahren hatte. Im Gegenzug würde er mir ein Irisches Pfund bezahlen. Ich bat ihn, mir mehr zu verraten, doch er führte nur eine Hand über seinen Mund, als schließe er diesen mit einem Reißverschluss. Mir war nicht klar, warum wir uns über dem Pinkelbecken darüber unterhalten mussten. Über die Schulter sah ich, wie andere Gäste in die Toilette kamen und wieder gingen. Sollte ich um Hilfe rufen? Brian kramte in seiner Jackentasche und zog einen Kugelschreiber hervor. Dann holte er einen Pfundschein heraus. Er ließ nicht locker.
Ich hielt den Zettel an die mit Sprüchen beschmierte Wand und unterschrieb. Dann unterschrieb er, reichte mir den Schein, und damit war unser Vertrag rechtskräftig.
Wieder am Tresen, erzählte mir Brian, er habe eine elektrische Maschine erfunden, mit der sich stumpfe Rasierklingen schärfen ließen. Das würde die gesamte Rasurbranche auf den Kopf stellen, erklärte er mir, denn nun bräuchte jeder Mensch nur eine einzige Rasierklinge im Leben. Auf einen Schlag wäre eine milliardenschwere Branche überflüssig, und er wäre ein reicher Mann. Außerdem könnten auf diese Weise wichtige Rohstoffe eingespart werden. »Was hältst du davon?«, fragte er und nahm triumphierend einen Schluck aus seinem Glas.
Misstrauisch sah ich ihn an. Früher oder später muss sich jeder Wissenschaftler von wildfremden Menschen mit verrückten Erfindungen ein Ohr abkauen lassen. Ganz abgesehen davon, dass Rasierklingen für mich ein sensibles Thema waren. Meine Narbe am Rücken kribbelte, aber ich nickte und hörte ihm weiter zu.
Sonderbarerweise erforschte die Wissenschaft den Stahl erst im 20. Jahrhundert. Davor wurde das Wissen um die Stahlherstellung jahrtausendelang von einer Handwerkergeneration zur anderen weitergegeben. Selbst im 19. Jahrhundert, als die Wissenschaft auf Gebieten wie der Astronomie, Physik und Chemie bereits eindrucksvolle Fortschritte gemacht hatte, wurden Eisen und Stahl, auf denen die gesamte industrielle Revolution fußte, ausschließlich mit empirisch entwickelten Verfahren hergestellt – also durch Schätzung, genaue Beobachtung und eine gehörige Portion Glück. (Sollte Brian eine solche Portion Glück gehabt haben und zufällig über ein neues Verfahren zur Schärfung von Rasierklingen gestolpert sein? Ich wollte es jedenfalls nicht ausschließen.)
Während der Steinzeit waren Metalle ausgesprochen selten und wertvoll. Damals kannte man nur Kupfer und Gold, die in Reinform in der Erdkruste vorkommen (während die meisten anderen Metalle aus Erz gewonnen werden müssen). Auch reines Eisen gab es in geringen Mengen, wobei der größte Teil in Form von Meteoriten vom Himmel gefallen war.
Radivoke Lajic, ein Mann aus dem Norden Bosniens, weiß alles über sonderbare Metallbrocken, die vom Himmel fallen. In den Jahren 2007 und 2008 wurde sein Haus sage und schreibe fünfmal von Meteoriten getroffen – das ist statistisch derart unwahrscheinlich, dass seine Vermutung, Aliens hätten es auf ihn abgesehen, schon beinahe vernünftig scheint. Seit Lajic dies 2008 öffentlich behauptet hat, ist ein weiterer Meteorit in seinem Haus eingeschlagen. Die Wissenschaftler, die den Fall untersuchen, bestätigen, dass es sich um echte Gesteinsbrocken aus dem All handelt, und untersuchen Magnetfelder rund um sein Haus, um eine Erklärung für diese ungewöhnliche Häufung zu finden.
Radivoke Lajic und die fünf Meteoriten, die sein Haus seit 2007 getroffen haben
© Central European News
Da unsere steinzeitlichen Vorfahren keine Metalle zur Verfügung hatten, stellten sie ihre Werkzeuge aus Stein, Holz und Knochen her. Wenn Sie schon einmal versucht haben, mit derart primitiven Werkzeugen zu arbeiten, dann wissen Sie, wie schnell sie an ihre Grenzen stoßen: Schlägt man mit einem Stück Holz ein paarmal auf den Boden, dann fasert, splittert oder bricht es. Das gilt auch für Stein oder Knochen. Metalle unterscheiden sich von diesen Materialien, weil sie sich verformen lassen: Sie fließen, sie sind schmiedbar. Mehr noch, sie werden härter, wenn sie geschlagen werden. Sie können ein Schwert ganz einfach härten, indem Sie auf es einschlagen. Umgekehrt wird Metall weicher, wenn Sie es im Feuer erhitzen. Als die Menschen diese Eigenschaften vor zehntausend Jahren zum ersten Mal beobachteten, hatten sie ein Material entdeckt, das fast so hart war wie Stein, das aber verformbar war und sich fast beliebig wiederverwenden ließ. Mit anderen Worten, sie hatten das perfekte Material für ihre Werkzeuge entdeckt, vor allem für Schneidwerkzeuge wie Äxte, Meißel und Rasierklingen.
Diese Fähigkeit, sich aus einem weichen in ein hartes Material zu verwandeln, muss unseren Vorfahren wie Magie erschienen sein. Auch für Brian war es Magie, wie ich bald herausfinden sollte. Er erklärte mir, dass er seine Maschine durch Ausprobieren entdeckt und keine Ahnung von der Physik oder Chemie hatte; trotzdem schien sein Apparat zu funktionieren. Er wollte nun von mir, dass ich die Schärfe der Klingen vor und nach seiner Behandlung maß. Nur mit diesem Beweis in der Hand konnte er mit Rasierklingenherstellern ins Geschäft kommen.
Ich erklärte Brian, dass mehr als nur ein paar Messungen nötig waren, damit man ihn ernst nahm. Das liegt daran, dass Metalle aus Kristallen bestehen. Jede Rasierklinge besteht aus Abermilliarden solcher Kristalle, und in jedem dieser Kristalle sind die Atome in einem dreidimensionalen, nahezu perfekten Gitter angeordnet.
Ein Metallkristall, wie es in einer Rasierklinge vorkommt. Die Punkte stehen für Atome.
Zwischen den Atomen bestehen Bindungen, die sie im Gitter festhalten und den Kristallen ihre Festigkeit verleihen. Eine Rasierklinge wird stumpf, weil sich einige Bindungen durch die vielen Kollisionen mit Haaren lösen und neue entstehen. Auf diese Weise verformen sich Kristalle und bilden winzige Dellen in der Klinge. Ein elektrischer Apparat zur Schärfung von Rasierklingen, wie er Brian vorschwebte, müsste diesen Prozess umkehren, das heißt, er müsste die Atome so bewegen, dass die zerstörte Struktur wiederhergestellt würde. Um ernst genommen zu werden, müsste Brian nicht nur zeigen, dass die Klinge auf der Ebene der Kristalle umgebaut wurde, sondern er müsste auch erklären können, was auf der Ebene der Atome vor sich ging. Hitze, egal ob sie aus einer elektrischen Quelle stammt oder nicht, hat in der Regel den gegenteiligen Effekt: Sie macht die Metallkristalle weicher. Das erklärte ich Brian, aber der behauptete standhaft, sein Apparat erhitze die Stahlklingen nicht.
Vielleicht verwundert es Sie, dass Metalle aus Kristallen bestehen sollen, denn unser typisches Bild von einem Kristall ist ein durchsichtiger, funkelnder Edelstein, zum Beispiel ein Diamant oder Smaragd. Bei Metallen denken wir nicht an eine kristalline Struktur, weil Metallkristalle undurchsichtig und meist mikroskopisch klein sind. In einem Elektronenmikroskop sehen die Kristalle in einem Metallstück aus wie ein verrücktes Mosaikpflaster. Innerhalb der Kristalle ist ein Gewirr von Linien erkennbar, die sogenannten Versetzungen. Dabei handelt es sich um Fehler in den Metallkristallen, Abweichungen von der perfekten Anordnung der Atome im Kristall – Störungen, die es eigentlich nicht geben sollte. Das mag bedrohlich klingen, aber in der Praxis sind diese Versetzungen ausgesprochen nützlich. Gerade diese Fehler machen nämlich Metalle zu guten Werkzeugmaterialien und ermöglichen die Herstellung scharfer Klingen, denn sie erlauben den Metallkristallen, ihre Form zu verändern.
In dieser Zeichnung deute ich nur ein paar Versetzungen an, damit sie besser zu erkennen sind. In Wirklichkeit sind die meisten Metalle von gewaltigen Mengen einander überschneidender Versetzungen durchzogen.
Sie brauchen keinen Hammer, um die Auswirkung dieser Fehler beobachten zu können. Wenn Sie eine Heftklammer umbiegen, dann sind es in Wirklichkeit die Gefüge aus Kristallen, die sich biegen. Andernfalls wäre die Klammer spröde und würde...
Erscheint lt. Verlag | 3.10.2016 |
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Übersetzer | Jürgen Neubauer |
Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Stuff Matters: The Strange Stories of the Marvellous Materials That Shape Our Man-Made World |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Baustoffe • Beton • Chemie • eBooks • Glas • Materialien • Materialwissenschaft • Papier • Physik • Plastik • Stahl |
ISBN-10 | 3-641-19390-7 / 3641193907 |
ISBN-13 | 978-3-641-19390-4 / 9783641193904 |
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