Eine Million Minuten (eBook)
256 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-19581-6 (ISBN)
Als Nina eines Abends beim Zubettgehen sagt: »Ach Papa, ich wünschte, wir hätten eine Million Minuten. Nur für die ganzen schönen Sachen, weißt du?«, bekommt Wolf Küper eine Ahnung davon, dass mit Kindern verbrachte Zeit womöglich sehr viel wertvoller sein könnte als eine glänzende Karriere. »Eine Million Minuten« ist ein Märchen aus dem Deutschland der Gegenwart. Die wahre Geschichte einer Familie, in der sich ein Vater von den Träumen seiner Tochter anstecken lässt und vier Menschen die Reise ihres Lebens machen.
Wolf Küper promovierte im Bereich der Internationalen Umweltpolitik und arbeitete mehrere Jahre als Tropenforscher in den Regenwäldern Südamerikas. Später wurde er Experte für Umweltschutz beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen, bis ein einfaches Gespräch mit seiner vierjährigen Tochter eine vielversprechende berufliche Karriere beendete und sein Leben veränderte. Es machte ihn auch zum Zeitmillionär und schickte ihn und seine Familie auf mehrere Reisen durch Asien, Neuseeland und Australien. Wolf Küper hat seine Entscheidung, eine Million Minuten (und mehr) seiner Familie zu widmen und mehr Zeit mit dem Schreiben zu verbringen, nie bereut. Sein Buch wurde zum Besteller, in fünf Sprachen übersetzt und mit Tom Schilling und Karoline Herfurth in den Hauptrollen verfilmt. Zurzeit lebt Wolf Küper mit seiner Familie in Bonn und Kapstadt.
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PRAXIS VON HERRN DR. DR. K. F. FINKELBACH
BONN (50° 44’ N, 7° 5’ O)
RHEINLAND, DEUTSCHLAND
PROLOG
WAS IST NASS UND FÄLLT VOM HIMMEL?
Finkelbach war der sehr angesagte Psychologe, der mit uns die erste echte Untersuchung durchführte. Kognitiv-wahrnehmungsmäßig. Er hatte eine bemerkenswerte Zahl von gerahmten Urkunden an den Wänden, die ihm spezielle Ausbildungen für die Arbeit mit Kindern aller Art bescheinigten. Außerdem war er eine Koryphäe in der Durchführung von Intelligenz- und Verhaltenstests, die er sogar selbst mit entwarf. Zu guter Letzt war er gerade an diesem Tag auch noch bestens gelaunt, oder hatte sich das jedenfalls so vorgenommen, und wenn sich überhaupt jemand seine Laune aussuchen kann, dann sind das doch wohl Psychologen.
Also lehnte er sich nach jeder Frage betont entspannt zurück, auch wenn das für mich eher etwas bemüht wirkte. Die ersten vier Antworten hatten ihn irritiert, definitiv, da gab es hier eine kurze Schrecksekunde, dort ein flüchtiges Stirnrunzeln oder ein leichtes Zucken an seinem linken Auge. Aber ein gestandener Psychologe lässt sich eben nicht so leicht aus der Ruhe bringen.
Daher: Jetzt, mit Elan vorgetragen, Frage Nr. 5: »Was ist nass und fällt vom Himmel?«
Vor besagtem Herrn Dr. Dr. Finkelbach sitzt aufrecht und ziemlich klein für den ziemlich großen Bürostuhl das zu testende Subjekt, ein, laut ärztlichem Befund »zierliches, situativ sensibles Mädchen, anfangs etwas zurückhaltend und unsicher im Kontakt, später sehr lebhaft und kooperativ«. Es handelt sich dabei um meine Tochter Nina, und man kann selbst beim besten Willen nicht behaupten, sie sei nur durch Zufall hierher geraten. Nina hört aufmerksam zu und zieht nun leicht die Nase kraus, was sie meistens so macht, wenn sie überlegt.
Es dauert – wie üblich – recht lange, bis eine Antwort kommt. Unter zehn Sekunden ist bei ihr eigentlich selten eine Antwort zu haben, es sei denn, es geht um die Entscheidung zwischen diesem »Der-kranke-Elefant-findet-einen-tollen-Freund«-Spiel und etwas beliebig anderem, da ist es immer klar, und sie muss nicht groß nachdenken. Doch schließlich, nach sehr sorgfältigem Abwägen, hat sie sich festgelegt, und die Nase entspannt sich. Herr Finkelbach zieht die Augenbrauen hoch und höher und wartet auf den richtigen Begriff für das Nasse vom Himmel.
»Ein Hund«, sagt dann das Kind triumphierend und schaut Herrn Finkelbach an, als wollte es die Wirkung dieser Antwort auf keinen Fall verpassen. Ich pruste los, was Dr. Dr. Finkelbach mit einem halb verzweifelten, halb genervten Seitenblick in meine Richtung quittiert. Also möglichst schnell wieder seriös schauen, das kann ich schon aus beruflichen Gründen sehr gut, weil ich ja ständig mit Leuten zu tun hatte, die ganz wichtig sind. Und bei Wichtigen muss man vor allem immer eins sein, nämlich ernsthaft: Niemals bessere Laune haben als der Kunde, das ist die Spielregel Nr. 1 bei der Beratung, insbesondere von Politikern.
Für einen kurzen Moment schaut Herr Finkelbach Nina hilflos an, fängt sich aber wieder und sagt in merklich verlangsamtem Tempo: »Du kannst noch mal nachdenken, Nina. Also, es ist ganz nass« (bedeutungsvolle Kunstpause), »und es fällt vom Himmel herunter.« Seine hohe Stirn schimmert etwas, vielleicht vom Regen.
Aber er ist natürlich auf dem Holzweg, wenn er denkt, Nina würde sich irgendwie von ihrer Idee abbringen lassen. Selbstverständlich besteht sie fröhlich auf dem Hund. Also wiederholt Nina nun ihrerseits die Antwort, ebenfalls betont langsam, damit auch der Herr Finkelbach es verstehen kann. Zur Erläuterung fügt sie noch an, es handle sich um einen zotteligen schwarzen Hund, wobei sie nun mit den Händen einen beachtlich großen Umriss in die Luft malt, der vermutlich den Hund andeuten soll, aber viel zu rund geraten ist, weil sie natürlich gar keinen Hundeumriss zeichnen kann. Damit keine Missverständnisse aufkommen, fährt sie fort, man müsse da vorher natürlich mehrere Teppiche darunterlegen oder am besten so ein Bällebad. Und dann, wumms, würde dieser ganz nasse Hund da hinfallen, und man könnte eigentlich sofort mit ihm spielen, obwohl man ihn eventuell vorher noch föhnen könnte, denn nasse Hunde würden ein bisschen komisch riechen, und vielleicht wäre ihm auch etwas kalt vom Fliegen. Und so weiter.
Eine Stunde und mehrere Dutzend unglaubliche Antworten auf völlig normale Fragen später ist Nina beziehungsweise Herr Dr. Finkelbach fertig, und wir können nach Hause.
Im Fahrstuhl fragt Nina mich flüsternd, ob es sein könnte, dass Herr Finkelbach etwas »innervös« gewesen sei, aber im Übrigen sei der eigentlich richtig nett gewesen, und es hätte Spaß gemacht, sich so lustige Geschichten auszudenken. Mir sitzt ein Kloß im Hals, ich bin ziemlich fertig nach Ninas fulminantem Auftritt, und fast hätte ich allen Ernstes einer fröhlichen, nichtsahnenden Vierjährigen eine Standpauke darüber gehalten, dass es im Leben Situationen gibt, in denen es wirklich um etwas geht, in denen das Leben einfach kein Spaß ist, in denen es echte Konsequenzen hat, wenn etwas schiefgeht, in denen man sich einfach an die Spielregeln halten muss und so weiter, eben die komplette Ernst-des-Lebens-Lyrik aus der Erwachsenenwelt, die mir insgeheim schon seit Längerem selbst so merkwürdig vorkam. Und warum sie denn nicht einfach »Regen« gesagt habe, damit es richtig gewesen wäre, und an eigentlich allen anderen Stellen eben auch etwas, was einigermaßen normal geklungen hätte. Schließlich hätten wir ja doch vorher darüber gesprochen, dass das nicht alle verstehen, wenn man eben, wie Nina von sich sagt, ein bisschen aus einer anderen Welt kommt, wo alles anders ist und Dinge wie fliegende, große Säugetiere durchaus üblich sind.
Ich hole schon tiefer Luft, dann plötzlich blicke ich aus Versehen im Fahrstuhlspiegel in mein Gesicht, es dauert eine Millisekunde, bis ich begreife, dass das ja ich bin, der verspannte Typ, der mich mit einer zornigen Falte zwischen den Augen anblickt, und dann treffen sich mein und Ninas Blick, und ich sehe, wie sie versucht, in meinem zu lesen. Da nehme ich ihre kleine Hand, und wir gehen ein Eis essen – nicht ohne die Schokolade zwischen Nasenspitze und Kinn ganz abzuwischen, bevor wir zu Hause sind. So kurz vor dem Essen ist Eisverzehr eine nichtöffentliche Ausnahme nur zwischen Nina und mir, auch wenn ich mir keine Illusion mache, dass meine Frau Vera es nicht trotzdem merkt, wenn das Kind so ungefähr sein Eigengewicht in Eis verspeist hat.
Der Ernst des Lebens erreicht uns wenige Wochen später per Post; in einem ganz schlichten beigen Umschlag kommt er daher, wie irgendeine Werbesendung oder eine Rechnung über 11 Euro 55. Das ist eines von diesen Ereignissen, auf das man sich eigentlich die ganze Zeit vorzubereiten versucht, um sich dann im entscheidenden Moment völlig überrumpelt zu fühlen. Ich muss mich setzen, als ich den Brief aufmache, obwohl ich ja schon längst weiß, was kommt. Ich überspringe den üblichen lateinisch-griechischen Fließtext aus grotesken Namen für diverse körperliche Phänomene, die uns schon hinlänglich bekannt sind. Dahinter steht jetzt ein neuer, ebenfalls altsprachlicher Text mit bizarren Ausdrücken für einige ausgefallene »kognitive und spezifische Verhaltensauffälligkeiten«. In einigen Bereichen sind die Ergebnisse sozusagen unterirdisch: ein nasser Hund zum Beispiel, so sympathisch er auch sein mag, (insbesondere dann, wenn er auch noch fliegen kann), das gibt genau null Punkte in so einem standardisierten Test. Selbst ein echter K. F. Finkelbach biegt das in der wohlwollendsten und kreativsten Auswertung nicht hin. Und um 90 Grad gedrehte Zeichnungen von Menschen, die aussehen wie von einem Lkw überfahrene Aliens mit zu vielen Gliedmaßen an nicht dafür vorgesehenen Stellen, sind ebenfalls nicht besonders zielführend, wenn es um die Untersuchung der »Auge-Hand-Koordination und der visuell-kognitiven Verarbeitungskapazität« sowie eines einigermaßen akzeptablen Intelligenzquotienten geht.
Im Prinzip war – soweit ich das einschätzen konnte – Nina eigentlich klar, dass Hände normalerweise an Armen befestigt und mit ungefähr fünf Fingern bestückt sind, aber eine derart authentische Darstellung schien ihr wohl zu bürokratisch zu sein, einmal abgesehen von ihren echten Problemen, die schon damit anfingen, dass sie ja noch nicht einmal den Stift richtig halten konnte. Sie war in ziemlich jeder Hinsicht nicht, wie Kinderpsychologen, Pädagogen, Ärzte und Bildungspolitiker sich ein Kind vorstellen, und das fand sie auch ganz prima so. Die Entfernung zwischen Ninas denkwürdiger Performance bei Finkelbach und dem »statistischen Durchschnitt altersgleicher Kinder« betrug gefühlt mehrere Planetenumfänge, und diese wunderbare Welt im Kopf meiner Tochter war aus der Sicht psychologischer Standardtests ein komplettes Paralleluniversum, das durch ziemlich jedes Raster einfach durchfiel.
Ninas Aktion bei Finkelbach war noch harmlos im Vergleich zu dem, was sich sonst in einem Alltag abspielt, in dem sich ein Mensch unbekümmert und äußerst gut gelaunt an keine einzige Spielregel hält. Man kann ja einen Menschen in einem solchen Fall nicht einfach ignorieren, nur weil er alles durcheinanderbringt, vor allem, wenn es das eigene Kind ist. Klar, beim Fußball, da hätte man sie ganz sicher nach kürzester Zeit einfach vom Platz gestellt. Aber dann hätte man auch das wirklich merkwürdigste Fußballspiel der Welt verpasst. Seit dieses kleine Mädchen beherzt durch mein so sorgfältig verplantes Leben torkelte wie eine Mischung...
Erscheint lt. Verlag | 19.9.2016 |
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Zusatzinfo | einige Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aussteiger • Australien • Biografie • Biographien • Buch zum Film • Das große Los • Eat Pray Love • eBooks • Entschleunigung • Karoline Herfurth • neue Väter • Quality Time • Reisen • Sabbatical • Thailand • Tom Schilling • Vatertag • Weltreise |
ISBN-10 | 3-641-19581-0 / 3641195810 |
ISBN-13 | 978-3-641-19581-6 / 9783641195816 |
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