Brandgefährlich (eBook)

Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht - Erfahrungen eines zurückgetretenen Ortsbürgermeisters
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2016 | 1. Auflage
216 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-353-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Brandgefährlich - Markus Nierth, Juliane Streich
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Markus Nierth, evangelischer Theologe und parteiloser Bürgermeister von Tröglitz, sieht sich plötzlich fremdenfeindlicher Hetze und persönlichen Angriffen ausgesetzt, als Flüchtlinge in den kleinen Ort in Sachsen-Anhalt kommen sollen und er sich für diese einsetzt. Bürger aus der Mitte der Gesellschaft marschieren gemeinsam mit Rechtsextremisten auf. Als schließlich eine Demonstration, die bis vor sein Privathaus führen soll, von der Behörde zugelassen wird, entschließt er sich zum Rücktritt. Die Medien berichten, die Bedrohungen für ihn und seine Familie nehmen massiv zu, die geplante Asylunterkunft wird angezündet, Täter werden nie gefunden. Was Markus Nierth lebendig und anschaulich erzählt, spielt sich so oder ähnlich vielerorts in Deutschland ab. Fast jeder zweite Bürgermeister ist bereits beschimpft, beleidigt und bedroht worden, weil er sich für Flüchtlinge engagiert hat. Konkrete Beispiele aus Baden-Württemberg und Bayern werden von Juliane Streich im Buch näher vorgestellt. Den Autoren geht es um die Hintergründe, die dazu führen, dass sich derzeit so viele Menschen rechts positionieren. Das Buch geht auf die Biographien der Enttäuschten und Zurückgelassenen ein, benennt vermeidbare Fehler in der Politik und zeigt Lösungsansätze auf.

Jahrgang 1969, ev. Theologe, Trauerredner und Ortschaftsrat, von 2009 bis 2015 ehrenamtlicher Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt, legte im März 2015 sein Amt nieder, Nierth setzte sich für die Unterbringung von Flüchtlingen in Tröglitz ein und widersetzte sich damit fremdenfeindlichen Bürgern und NPD-Aktivisten.

Jahrgang 1969, ev. Theologe, Trauerredner und Ortschaftsrat; von 2009 bis 2015 ehrenamtlicher Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt; legte im März 2015 sein Amt nieder; Nierth setzte sich für die Unterbringung von Flüchtlingen in Tröglitz ein und widersetzte sich damit fremdenfeindlichen Bürgern und NPD-Aktivisten. Jahrgang 1983, Studium der Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder) und Dublin, Abschlussarbeit über Punks in der DDR; danach Zweitstudium, Journalistik; Arbeit als Musikredakteurin, freie Autorin und Journalistin (u. a. Süddeutsche, taz, Freitag, Leipziger Volkszeitung, Kreuzer, Deutschlandradio Kultur, Freie Presse, Sächsische Zeitung).

1 Keine Auskunft


Fehlende Informationen über die Ankunft der Flüchtlinge verstärken die Sorgen der Bürger. Die Fremdenfeinde von NPD und AfD nutzen die Schwäche der Verantwortlichen aus.

Seit ein paar Wochen geistert das Gerücht durch den Ort: Asylbewerber werden kommen. Im November 2014 bestätigen es ein paar Kreisräte: Ja, Flüchtlinge sollen in Tröglitz untergebracht werden. Mehr Informationen gibt es nicht. Wann, wie viele, wohin genau? Behörden und Politiker schweigen. Der hauptamtliche Bürgermeister der Gemeinde Elsteraue, zu der Tröglitz gehört, weiß auch Ende des Monats lediglich, dass sich das Landratsamt im Ort nach leeren Wohnungen in Tröglitz umsieht. Doch manche Einwohner scheinen schon eingeweiht zu sein: »Da werden Schwarzafrikaner kommen, alleinstehende Männer!« Wer dieses Gerücht unter die Leute gebracht hat, bleibt unklar.

Einen Monat später tagt der Gemeinderat der Elsteraue. In dieser nichtöffentlichen Sitzung wird bestätigt, dass die Verwaltung des Burgenlandkreises 60 Flüchtlinge in Wohnungen in Tröglitz unterbringen will. Vertreter des Landratsamts sind gekommen und erklären, dass man zwei Wohnblöcke anmieten möchte und in Verhandlungen mit den Eigentümern steht. Ein Mitarbeiter einer Securityfirma soll für die 60 Asylbewerber abgestellt werden und rund um die Uhr für Sicherheit sorgen; auch ein Sozialarbeiter soll sich tagsüber um die Geflüchteten kümmern und deren Integration unterstützen. Weitere Informationen wird es erst in ein paar Monaten geben – nach dem dazugehörigen Kreistagsbeschluss, der Anfang März anberaumt ist. Denn der Landrat werde die Einwohner erst dann zu einem Informationsabend einladen, wenn alle Fakten beisammen sind.

»Das könnte aber knapp werden«, wende ich ein. Schließlich sollen die ersten Asylbewerber dann schon sehr kurz nach diesem Informationsabend kommen, es wird also kaum Zeit und Raum geben, um auf Vorschläge oder Bedenken von Tröglitzern einzugehen. Mit einer früheren Veranstaltung könnten Gerüchte und Ängste entkräftet werden. Mit Hinweisen auf den bisherigen Umgang mit dieser Problematik in anderen Gemeinden ging der Gemeinderat wohl im Glauben auseinander, dass der Zeitplan und das Vorgehen vernünftig und ausreichend seien.

Der Gemeindebürgermeister und die Gemeinderäte sehen es auch nicht als ihre Pflicht, die Tröglitzer zu informieren oder die Unterbringung vorzubereiten. Dass Fremde kommen werden, betrachten sie offenbar nicht als ihre Angelegenheit, die Unterbringung der Flüchtlinge ist schließlich »von oben« verordnet. Also sagen sie nichts, obwohl die meisten ahnen, dass das Empörung und Erregung im Ort hervorrufen wird. So bleibt der Plan bestehen, der Bevölkerung erst in mehreren Monaten reinen Wein einzuschenken. Aber Jörg Pampel, der für die NPD im Gemeinderat sitzt, schreibt eifrig mit.

Die Vermutung liegt nahe, dass jemand die Neuigkeiten nach der nichtöffentlichen Sitzung gezielt weitergegeben hat. Und so kommt es, dass bei der folgenden Demonstration Mitglieder der NPD den Einwohnern beweisen können, dass ihre Partei die einzige ist, welche die Ängste der Bevölkerung wahrnimmt und sie ohne Geheimniskrämerei ehrlich und offen informiert.

Dass das Landratsamt oder in anderen Fällen auch höhere Verwaltungen Informationen zurückhalten, die noch nicht hundertprozentig sicher sind, liegt wohl in dem Ziel einer selbstbestimmten Kommunikation. Der Landrat will selbst die Deutungs- und Informationshoheit behalten. Aber auch bei mir entsteht wieder einmal der Eindruck, die Politik verheimliche dem Volk möglichst lang ihre Pläne, um es dann vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Die offenen Fragen der Einwohner sind meistens ganz konkret: Wie viele sind es wirklich? Werden noch mehr kommen? Wer kümmert sich um die Neuen? Wer erklärt ihnen, wie und wo man einkauft? Wer hilft bei Problemen kultureller oder religiöser Art? Kommen Übersetzer, wenn die Neuen nur ihre Landessprache sprechen? Ist dann die Praxis des Hausarztes noch voller? Und wie soll das in der Schule laufen? Über solche Fragen hätte sich auch der Bürgermeister informieren und die Antworten weitergeben müssen. Schließlich hatte der Landrat seine Pläne offenbart und der Bürgermeister nun die Pflicht, auf der lokalen Ebene »seine« Bevölkerung vorzubereiten.

Dass der Tröglitzer Fall so eskalierte, lag auch daran, dass sich zwischen mir als ehrenamtlichem Ortsbürgermeister und dem Landrat in der Kette der politischen Verantwortung gleich mehrere Glieder total ausgeklinkt haben. Warum sich der hauptamtliche Bürgermeister und der Gemeinderat auf das Verwalten beschränkten, kann ich mir nur so erklären, dass sie die politische Arbeit nicht als ihre Aufgabe ansehen oder dass ihnen das Thema Unterbringung von Flüchtlingen schlichtweg zu heiß war, weil sie sich nicht bei Teilen der Einwohner unbeliebt machen oder vielleicht sogar selbst keine Flüchtlinge aufnehmen wollten. Stattdessen entzogen sie sich ihrer politischen Verantwortung, die zu übernehmen sie gewählt waren.

Dass Flüchtlinge mit einer Quote dem Burgenlandkreis zugewiesen werden, war längst per Gesetz festgelegt, aber für die Entscheidung, sie dezentral unterzubringen, nahm der Landrat ganz bewusst die Kreistagsvertreter in die Pflicht, um eine große Transparenz und Mitbestimmung zu erreichen. In einem Telefonat erklärte er uns, dass es ihm wichtig ist, dass die Entscheidung von einer breiten Mehrheit der gewählten Vertreter mitgetragen wird, obwohl er das auch allein hätte entscheiden können.

Doch hat er nicht damit gerechnet, dass das Volk sich durch die gewählten Vertreter eben meist nicht mehr vertreten sieht. 2006 schlug sich das in einer rekordtiefen Wahlbeteiligung von 44,4 Prozent nieder, die erst bei der Landtagswahl 2016 wieder stieg, weil die AfD mehr als 100 000 Nichtwähler mobilisieren konnte. Wohl auch, weil sie ihnen das Gefühl gab, Dinge auszusprechen, die andere Politiker sich nicht zu sagen trauen.

Doch wenn die Einwohner keine Antworten auf ihre Fragen bekommen oder sie sich nicht erkundigen können, nährt das die eigentlich unbegründeten Sorgen. Die Bürger fühlen sich bevormundet und haben das Gefühl, dass »die da oben« ja sowieso machen, was sie wollen. Zudem können sie die Änderungen, die auf sie und ihr tägliches Leben zukommen, nicht einschätzen und befürchten daher, in ihrem Alltag gestört und benachteiligt zu werden.

NPD und AfD schaffen es immer wieder, diese Gefühle und Ängste für sich zu nutzen und zu verstärken. Durch ihre oft gezielt verdrehte Informationspolitik und propagandistische Stimmungsmache erreichen sie die Leute und vermitteln den Eindruck, nur NPD und AfD nähmen die Ängste der Bevölkerung wahr und seien ehrlich und offen zu ihr. Sie können sich so als Aufdecker inszenieren, welche die Wahrheit ans Licht bringen.

Doch wenn die Aufklärung über das Kommen der Fremden den Fremdenfeinden überlassen wird, weil sonst niemand informiert, führt das dazu, dass aus Befürchtungen, die mit konkreten Antworten hätten ausgeräumt werden können, eine tiefsitzende und künstlich aufgebauschte Angst vor den Fremden wird, dass sich aus dem Gefühl der Ohnmacht und dem Gefühl, keine Stimme zu haben, immer mehr Wut aufstaut, woraus sich Hass gegen die Fremden und gleichzeitig gegen die Etablierten »da oben« entwickelt.

Gerade in Gegenden, in denen es bisher kaum oder gar keine Fremden gab und daher auch keinen gewachsenen Umgang und keine Erfahrung mit ihnen, ist die Angst vor dem Unbekannten am größten, und mit ihr auch der Erfolg von fremdenfeindlichen Parteien. So ist praktische und konkrete Aufklärung hier am notwendigsten. Bei jeder Unterbringung von Flüchtlingen in größerem Stil darf die Politik vor Ort es daher nicht verpassen, die Bevölkerung schnellstmöglich und offen zu unterrichten.

Der Landrat räumte im Nachhinein bald ein, dass es ein entscheidender Fehler gewesen sei, das Informationstreffen so spät anberaumt zu haben. In anderen Ortschaften im Burgenlandkreis hat er danach früher über die Unterbringung informiert. Am Ende kam der Landrat auf 20 Informationsabende, an denen er versuchte, den Bürgern durch Informationen die Ängste zu nehmen; gleichzeitig stand er als Blitzableiter zur Verfügung, damit die Angst- und Frustrationsenergie nicht von der NPD ausgenutzt werden konnte. Das war eine gute und mutige Schlussfolgerung, auch wenn ein Teil der Einwohner wie in Bad Kösen enthemmt und lautstark gegen den Landrat oder die Polizeiführung pöbelte, um sie nicht zu Wort kommen zu lassen. Dort wollten Teile der Bevölkerung die Argumente und Informationen der zuständigen Behörden gar nicht mehr hören. Daher kann ich Bürgern in Orten, in denen Flüchtlinge aufgenommen werden sollen, vor allem raten, sich Verbündete zu suchen und Netzwerke zu gründen, in die auch bekannte und beliebte Personen des öffentlichen und sozialen Lebens eingebunden werden. Danach ist es wichtig, möglichst schnell mit möglichst breiter Front an die Öffentlichkeit zu gehen, um Raum zu gewinnen, bevor ihn die Rechten besetzen. Gerade die politisch Verantwortlichen sollten möglichst offen informieren, ohne zu spekulieren, das heißt alle vorhandenen Fakten offenlegen, Gerüchte schnell dementieren, weiterführendes Wissen zu Asyl und Flucht zur Verfügung stellen und Themenabende anbieten, an denen Menschen aus anderen Orten von ihren Erfahrungen berichten. Nur so kann verhindert werden, dass ein sich...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2016
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • besorgte Bürger • Identitäre • Kommunalpolitik • NPD • Pegida • Rechtsextremismus • Sachsen-Anhalt • Tröglitz • Wutbürger
ISBN-10 3-86284-353-X / 386284353X
ISBN-13 978-3-86284-353-4 / 9783862843534
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