Nach dem Sturm (eBook)

Die Hypothek der Friedenskinder
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
144 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-6963-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nach dem Sturm -  Maryanne Becker
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Friedenskinder, das sind die Kinder, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurden und in der Nachkriegszeit aufwuchsen. Die Autorin hat 13 Frauen und Männer porträtiert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede treten zu Tage. Es wird deutlich, dass Kinder von Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ihre Fremdheit zu spüren bekamen und nicht selten das Gefühl von Diskriminierung hatten.

Porträts – Kindheitsgeschichten


Heimatlos – Anne


Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren Annes Eltern gerade 20 Jahre alt, besaßen das Abitur und Kriegserfahrung. Die Mutter als Flakhelferin, der Vater als Soldat an der Westfront. Beide waren streng gläubige Katholiken. Eigentlich hätte der Vater selbst Priester werden sollen, hatte aber zur Enttäuschung seiner Eltern einen anderen Weg gewählt. Sein jüngerer Bruder dagegen erfüllte den Eltern diesen Wunsch.

Dass die Nazis so massiv gegen die Kirche eingeschritten waren, hatte den Vater empört und seine Sympathie für das System deutlich gedämpft, obwohl er »wie alle« von manchen Aspekten des Nationalsozialismus beeindruckt war. Im großbürgerlichen Elternhaus der Mutter dagegen sei auf die Braunhemden und alles, was damit zu tun hatte, herabgesehen worden.

Nach der Heirat lebten die Eltern in einem kleinen Ort im westlichen Eichsfeld, wo Anne 1951 als zweites Kind geboren wurde. Nach der Kapitulation kam das bis 1945 zur preußischen Provinz Sachsen gehörende Gebiet zunächst unter amerikanische Besatzung, fiel dann im Sommer 1945 im Rahmen der Neuordnung Deutschlands durch die Alliierten an die sowjetische Zone, wo 1949 die DDR gegründet wurde.

Der Vater hatte nach dem Krieg ein Lehrerseminar besucht und anschließend eine Anstellung im Dorf erhalten. Nicht nur ihres katholischen Glaubens wegen fühlten sich die jungen Eheleute eingeengt und bevormundet. Der Vater beharrte auf sein Recht der freien Meinungsäußerung und kritisierte offen die politischen und sozialen Verhältnisse im neuen Staat. Als er trotz mehrfacher Verwarnung nicht bereit war, sich zurückzuhalten, drohte ihm die Gefangennahme und Lagerhaft in Sibirien. Dank des Hinweises eines Freundes konnte die Familie in letzter Minute bei Nacht und Nebel fliehen. Mit den beiden zwei und drei Jahre alten Kindern durchquerten sie den von Stacheldrahtzäunen gesäumten, frei gepflügten Streifen Land – die von schussbereiten Soldaten bewachte grüne Grenze – Richtung Westen. Aller Vorsicht zum Trotz wurden die Flüchtenden bemerkt und die Soldaten feuerten mehrere Schüsse auf die Familie ab. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.

Erste Anlaufstelle für die Familie war das Grenzdurchgangslager Friedland im Landkreis Göttingen. Anschließend siedelten sie in das Flüchtlingslager Massen bei Unna um. Von dort aus wurden sie einige Monate später in einem Schloss im Sauerland einquartiert, wo sie eine kleine Dienstbotenwohnung zugewiesen bekamen.

Um in der neuen Heimat wieder auf eigenen Füßen stehen und den Lebensunterhalt für seine Familie verdienen zu können, musste der Vater zunächst ein Studiensemester in Köln verbringen und erneut die Lehrerprüfung ablegen. Die Mutter, die in der Heimat so glücklich gewesen war, dort mit anderen jungen Familien und Frauen Freundschaften gepflegt und soziale Anerkennung genossen hatte, hockte jetzt fernab von Familie und Freundinnen einsam mit zwei Kleinkindern im Nirgendwo im Sauerland. Alles, was ihr lieb und teuer gewesen war, schien verloren. Die Kinder waren häufig sich selbst überlassen, Anne stand weinend im Bettchen, der ältere Bruder saß stumm und traurig in einer Ecke. Dies klagte die Mutter in Briefen an ihren Mann.

Nach bestandener Abschlussprüfung erhielt der Vater zunächst eine Lehrerstelle in einer kleinen Dorfschule im Bergischen Land, wo die Familie eine Wohnung im Schulgebäude bezog. Aufenthaltsraum war die Wohnküche, wo samstags alle Kinder der inzwischen gewachsenen Familie nacheinander – im selben, auf dem Herd in Töpfen erhitzten Wasser – in einer Zinkwanne gebadet wurden. Der als Wohnzimmer ausgewiesene Raum wurde hier und auch in den folgenden Wohnungen zum Herrenzimmer umfunktioniert, das allein dem Vater vorbehalten war. Niemand durfte diesen Raum ohne seine Aufforderung betreten. Sogar später im eigenen Haus verzichteten Frau und Kinder zugunsten des Vaters auf eine »gute Stube«.

Zu den Lehrerwohnungen gehörte immer ein eigener Garten, wo die Familie Gemüse und Obst anbauen und Hühner halten konnte.

Im Lauf der nächsten Jahre bekam die Familie Zuwachs, zwei Jungen und ein Mädchen gesellten sich hinzu.

Die ersten beiden Schuljahre verbrachte Anne in der kleinen Dorfschule, wo ihr Vater ihr Lehrer war. Ab der dritten Klasse, nach Vaters Versetzung in die Stadt, besuchte sie die dortige Volksschule und wurde erstmals von anderen Lehrern unterrichtet.

Im Fach »Heimatkunde« fehlte dem ansonsten aufgeweckten und intelligenten Mädchen jegliche Vorstellung von diesem Begriff. Annes Frage, ob sie überhaupt eine Heimat hatte, konnte ihre Mutter dem verstörten Kind nicht spontan beantworten.

Sie waren Flüchtlinge. Heimatlose vielleicht? Flüchtlinge waren Randgruppen – selbst dann, wenn sie wie mancherorts einen erheblichen Teil der Bewohner ausmachten –, sie waren schon durch ihr Fremdsein stigmatisiert und diskreditiert. Flüchtling zu sein war ein Makel, der allen Bemühungen zum Trotz – der Ehrgeiz des Vaters war getrieben von dem Bestreben, zu beweisen, dass auch dahergelaufene Flüchtlinge klug sind – haften blieb. Annes jüngster Bruder, der Ende der Fünfzigerjahre in Nordrhein-Westfalen geboren war, wurde noch als Erwachsener, Ende der Siebzigerjahre, als »dieser Flüchtlingsjunge« bezeichnet.

Infolge zäher Bemühungen wurde der Vater schließlich Rektor der größten Schule der Stadt. Diese berufliche Position trug ihm ein hohes Ansehen und Respekt ein. Zu Hause führte er sich allerdings als autoritärer Patriarch auf, dem alle – die Ehefrau ebenso wie die Kinder – zu gehorchen hatten. Er stellte starre Regeln auf und duldete keinerlei Widerspruch. Ehefrau und Kinder bekamen ein kleines Taschengeld, von dem die Kinder auch Geschenke für alle Familienmitglieder an deren Geburts- und Namenstagen kaufen mussten.

Vor den Mahlzeiten mussten Anne und ihre Geschwister dem Vater unaufgefordert die peinlich sauberen Hände zur Kontrolle vorzeigen. Dass sie bei Tisch nur sprechen durften, wenn sie gefragt wurden, verstand sich von selbst.

In materieller Hinsicht hielt der Vater die Familie äußerst knapp: Das Haushaltsgeld war so bemessen, dass die Mutter gerade damit über die Runden kam. Wenn der Vater unterwegs war, gab es Nudeln mit Tomatensoße, ein preiswertes und sättigendes Gericht. Südfrüchte oder Schokolade bekamen die Kinder äußerst selten. Als materielle Not hat Anne das nicht empfunden: »Mir war nicht bewusst, wie verflixt wenig wir hatten. Ich habe nichts vermisst.«

Mitte der Sechzigerjahre kaufte der Vater den ersten Fernseher, der selbstverständlich im Herrenzimmer aufgestellt wurde. Er entwickelte ein ausgeklügeltes System, nach welchem die inzwischen halbwüchsige Anne und ihr älterer Bruder ein paar ausgewählte Sendungen pro Woche sehen durften, wobei diese Erlaubnis nach Gutdünken des Vaters jederzeit außer Kraft gesetzt werden konnte.

Während der Vater über seinen Beruf soziale Kontakte unterhielt, weder klagte noch von früher sprach, fühlte sich die Mutter in der Fremde nach wie vor schmerzlich isoliert und litt oft unter Heimweh. Sie war dann guter Dinge, wenn die Stimmung im Haus entspannt war, was grundsätzlich von Vaters Laune abhing. An solchen Tagen kam es vor, dass sie bei der Hausarbeit fröhliche Lieder sang.

Immer wieder erzählte sie den Kindern von ihren glücklichen Kinder- und Jugendjahren. Als Tochter eines Stadtbaumeisters hatte sie ein sorgenfreies Leben geführt. In der Heimat war ihr Anerkennung und Wertschätzung entgegengebracht worden, hier in der Fremde sahen selbst die ärmsten Einheimischen auf sie – wie auf alle Flüchtlinge – herab.

Dass Eltern in jenen Jahren die Hilfe ihrer Kinder bei der Arbeit in Haus und Hof einforderten, war eher die Regel als eine Ausnahme. Allein für die Wäsche musste ein ganzer Arbeitstag eingeplant werden. Kleidung musste geflickt und Socken mussten gestopft werden. Mädchen wurden der herrschenden Rollenvorstellung entsprechend zur Hilfe im Haushalt und bei der Gartenarbeit herangezogen. Je größer die Kinderschar, umso mehr Hausarbeit war zu erledigen.

Die Tatsache, dass Anne die höhere Schule besuchte, hinderte die Eltern nicht daran, ihr umfangreiche Pflichten im Haus aufzubürden. Als lange Zeit einziges Mädchen – ihre Schwester wurde zehn Jahre nach ihr geboren – musste sie der Mutter von klein auf zur Hand gehen. Zu ihren Aufgaben gehörten das Fegen und Wischen der Fußböden, der Abwasch, das Bettenmachen, das Stapeln der Briketts. Der Mutter half sie beim Wäschewaschen, Kochen und Einwecken. Sie hütete, wickelte und fütterte die kleinen Geschwister, ging sonntags vormittags mit ihnen ins Freie, damit die Mutter eine Weile verschnaufen konnte. Im Garten pflückte sie Obst und Beeren, erntete und putzte das Gemüse. Was sie wirklich hasste, war das Ausmisten des Hühnerstalls.

Dass Anne als Lehrer- bzw. Schulleitertochter aufs Gymnasium gehen würde, war selbstverständlich. Außer ihr wechselte nur ein...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bundesrepublik Deutschland • Flüchtlinge und Vertriebene • Nachkriegskinder • Nachkriegszeit • Verdrängung
ISBN-10 3-7412-6963-8 / 3741269638
ISBN-13 978-3-7412-6963-9 / 9783741269639
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