Der Preis der Freiheit (eBook)

Eine Geschichte über Fluchthilfe, Gefangenschaft und die geheimen Geschäfte zwischen Ost und West
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56951-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Preis der Freiheit -  Volker G. Heinz
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Berlin 1966. Seit fünf Jahren teilt eine Mauer die Stadt, die unzählige Familien und Paare getrennt hat. Der westdeutsche Jura-Student Volker G. Heinz möchte helfen, diese Menschen wieder zusammenzubringen und sucht mit einer Gruppe von Fluchthelfern fieberhaft nach Wegen von Ost nach West. Die Suche endet am Checkpoint Charlie, dem bestbewachten Grenzübergang des Kalten Krieges. Über sechzig DDR-Bürgern verhelfen sie erfolgreich zur Flucht, versteckt im Kofferraum eines Diplomatenautos. Doch dann kommt ihnen die Stasi auf die Schliche, Volker Heinz wird verhaftet und monatelang im Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen verhört. Derweil nimmt der politische Tauschhandel mit Gefangenen zwischen Bonn und Ostberlin Fahrt auf. Es kommt zu einem spektakulären Coup: Heinz wird gegen zwei Spione freigetauscht. Ein packendes Stück erlebte Zeitgeschichte über Fluchthilfe und Gefangenenaustauch im Kalten Krieg, über Freiheitswillen und Zivilcourage.

Volker G. Heinz, geboren 1943, ist internationaler Rechtsanwalt. In den Jahren 1965/66 war er in einer Gruppe als Fluchthelfer in Ost-Berlin aktiv. Durch seine Tätigkeiten verhalf er insgesamt 66 DDR-Bürgern über die Grenze. Seit 1973 lebt und arbeitet er in Berlin und London.

Volker G. Heinz, geboren 1943, ist internationaler Rechtsanwalt. In den Jahren 1965/66 war er in einer Gruppe als Fluchthelfer in Ost-Berlin aktiv. Durch seine Tätigkeiten verhalf er insgesamt 66 DDR-Bürgern über die Grenze. Seit 1973 lebt und arbeitet er in Berlin und London.

Verschlüsselte Botschaften


Lange hörte ich nichts. Ich war verunsichert. Hatte ich nicht klar und deutlich meine Bereitschaft geäußert? Doch nichts geschah. Ich studierte, besuchte gelegentlich studentische Kneipen, spielte Schach, ging häufig ins Theater und ins Kino, besuchte Konzerte und debattierte mit meinen Kommilitonen über die sich zuspitzende Krise an den Universitäten und die bedrohliche politische Lage Westberlins. Als ich längst glaubte, aus der ganzen Angelegenheit würde nichts mehr werden, inzwischen war ich schon in meinem zweiten Berliner Semester, kam doch noch Bewegung in die Sache.

«Volker, Wolfgang Fuchs will dich treffen», signalisierte Manfred eines Abends, als wir wieder einmal in der Hammersteinstraße in der Kneipe saßen.

«Und wo?»

«Noch heute Abend beim Dicken.»

«Wer um Himmels willen ist denn der Dicke?»

«So nennen wir die Kneipe bei mir in der Straße. Heißt eigentlich ‹Zum Dicken›.»

Der Name war gerechtfertigt, denn tatsächlich wurde sie von einem wohlbeleibten Wirt geführt. Seine Lebensgefährtin war etwas weniger korpulent, wenn auch rundlich. Sie war sehr liebenswert, er eher grantig. Ihr Lokal war eine Mischung aus Arbeiter- und Studentenkneipe mit Flipperautomat und preiswerten Getränken. Wer Hunger hatte, bestellte sich Soleier mit Kartoffelsalat. Jeder rauchte, dichter Nebel und schwache Beleuchtung tauchten den Ort in ein fahles Licht. Getrunken wurde hauptsächlich Pils, daneben kleine Gläser, gefüllt mit klarem Korn oder Persiko, einem rötlichen Schnaps, die die Stimmung anfeuerten. Töchter aus höheren Kreisen verkehrten hier nicht, eher gewisse Damen aus zweifelhaftem Milieu, die Männer jedes Alters anzogen.

In dieser lauten und feucht-fröhlichen Umgebung saß Fuchs an einem Tisch vor einem Glas Bier. Er hatte, wie mir sofort auffiel, eine gewinnende Art. Er war etwa einen Meter fünfundachtzig groß (ich selbst bin knapp eins neunundachtzig), und sein mittelgroßer Bierbauch schüttelte sich, wenn er lachte. Das geschah häufig, denn er besaß viel Humor. Seine dunklen Haare trug er im Mecki-Schnitt; Eitelkeit schien für ihn kein Thema zu sein. Fuchs war erkennbar ein Anpackertyp, jemand, der Dinge tat und nicht ewig herumphilosophierte.

Bevor wir uns im Herbst 1965 trafen, vermutlich im Oktober oder November, hatte ich mich natürlich über ihn informiert. Wolfgang Fuchs, Jahrgang 1939, war ein gelernter Optiker aus Jena. Er und seine Frau Selina hielten sich beim Mauerbau in Westberlin auf, Selina ging aber zurück in die DDR zu den gemeinsamen Kindern, die sie nicht allein zurücklassen wollte. Fuchs sann darüber nach, wie er seiner Familie zur Flucht verhelfen konnte. Er hatte auch bald eine ungewöhnliche Idee. Mit Hilfe von Leitern schaffte er es, im März 1962 Selina und die beiden Kinder über die Mauer zu holen – Helfer lenkten die Berliner NVA-Grenzer derweil mit Molotowcocktails ab. Danach konzentrierte er sich neben weiteren Einzelaktionen zunehmend auf den Bau von Tunneln und holte nach und nach weitere Familienmitglieder und Freunde in den Westen. Seine Motive waren für mich glaubhaft: Wie die meisten Fluchtorganisatoren war er in der DDR mit den Behörden seiner Heimat in Konflikt geraten. Sie alle hassten das kommunistische System, das war auch bei Hasso Herschel so. Dieser Hass hatte sie nicht gelähmt, sondern regelrecht animiert. Sie wollten nicht hinnehmen, was die staatlichen Stellen der DDR ihren freiheitshungrigen jungen Bürgern antaten. Sie wollten nicht debattieren, sondern handeln.

Dabei war von Vorteil, dass sie alle Orts-, Milieu- und Systemkenntnisse hatten, also ungleich mehr Wissen hatten als ein westdeutscher Student wie ich. Entscheidend war, dass Fuchs nicht nur selbst motiviert war, sondern auch motivieren konnte wie ein Offizier, der seine Truppe in die Schlacht führt. Nach dem sensationellen Erfolg mit dem Tunnel 57 besaß er eine immense Reputation, für viele in der Szene war er ein Held. Erkundigten sich Leute, wem man auf dem Markt der Fluchthilfe vertrauen konnte, stand sein Name vermutlich auf der Liste ganz weit oben.

Fuchs gefiel mir auf Anhieb. Nach ein paar belanglosen Floskeln kam rasch ein richtiges Gespräch in Gang, und wir überlegten gemeinsam, wie man künftige Fluchten organisieren könne und ob Tunnelgrabungen nach der Entdeckung von Tunnel 57 noch aussichtsreich seien.

«Wie kommst du eigentlich mit den Leuten in Kontakt, die fliehen wollen?», fragte ich und nahm einen Schluck von meinem Pils. Wir hatten uns vom ersten Moment an geduzt, wer gemeinsam beim «Dicken» saß, siezte sich nicht.

«Durch Rainer Hildebrandt. Der hat 1963 das Mauermuseum am Checkpoint Charlie gegründet, vielleicht sagt dir das was?»

«Klar», erwiderte ich. Ich wusste, dass Hildebrandt es anfangs mit einer Ausstellung über den Mauerbau betrieben hatte, danach erweiterte er es durch Dokumentationen über geglückte oder gescheiterte Fluchtversuche. «Aber wie kannst du dir sicher sein, dass er dich nicht verrät oder mit falschen Leuten in Kontakt kommt?»

«Wie ich mir sicher sein kann? Gar nicht. Aber ich stelle ihn nicht in Frage, Rainer teilt meinen Zonen-Hass.»

«Reicht das wirklich?»

«Ich muss vielen Menschen misstrauen, aber wenn das für alle gilt, kann ich einpacken.»

«Verstehe.»

Wir tauschten uns über alle möglichen Aspekte der Fluchthilfe aus, wenngleich mit zunehmendem Alkoholkonsum auch alltäglichere Themen in den Vordergrund traten. Fuchs ging es in erster Linie darum, mich einzuschätzen. Er musterte mich eindringlich. Aber schließlich sagte er: «Ich kann dir jetzt schon sagen: Du gefällst mir. Ich glaube, du könntest gut in unsere Truppe passen.»

Mit rotem, bereits etwas benebeltem Kopf saß ich da. «Heißt das etwa, ich habe den Test bestanden?», fragte ich vorsichtig nach.

«Richtig, Test bestanden. In den nächsten Tagen kannst du mit Kurierdiensten anfangen.»

Fuchs übermittelte mir drei Tage später mündlich eine verschlüsselte Nachricht – «Rufen Sie Ihre Großmutter an» – und nannte mir einen Treffpunkt auf einem Bahnsteig der U-Bahn-Station Strausberger Platz in Friedrichshain, um sie dort einem Mann zu übermitteln. «Du erkennst ihn daran, dass er einen Band der blauen Werkausgabe von Karl Marx unter dem Arm trägt. Und komm bloß nicht auf die Idee, die Nachricht auf einem Stück Papier aufzuschreiben. Die ist so simpel, die wirst du doch wohl im Kopf behalten können?!»

«Und was bedeutet die Nachricht?»

«Das musst du nicht wissen, für den Empfänger ist sie aber nachvollziehbar, der weiß, was er damit anfangen soll.»

Natürlich hätte ich gern mehr erfahren, aber ich riss mich zusammen. Ich vertraute Fuchs, und wenn ich hier mitmachen wollte, musste ich lernen, Zweifel zurückzustellen. Ich verstand, dass es zu dem Kurierjob gehörte, so wenig wie möglich zu wissen, um nicht selbst in Gefahr zu geraten oder andere zu gefährden. Abenteuer konnte man nur bestehen, wenn man bereit war, zu lernen und sich selbst zurückzustellen.

«In Ostberlin werden mich doch alle als Westler erkennen – ist es nicht besser, wenn ich DDR-Kleidung trage?»

Fuchs lachte, sein Bauch wackelte bedenklich. «Selbst wenn du diese Klamotten trägst, sieht jeder, dass du nicht aus der DDR stammst. Sei einfach du selbst. Wirkst du natürlich, fällst du am wenigsten auf. Bloß nichts Gekünsteltes. So simpel ist das.»

«Bin ich froh, dass ich meine Sachen anbehalten darf. Gibt es aber sonst noch irgendwelche Verhaltensregeln?»

«Nein, du wirst schon deinen eigenen Stil finden müssen. Sei einfach hellwach, beobachte scharf, aber lass es dir nicht anmerken.»

Ich war noch nicht ganz zufrieden. «Und wieso Strausberger Platz und nicht Friedrichstraße? Dort wimmelt es von Menschen, da kann man doch gut in der Masse untertauchen und unverfänglich auf den Zug warten.»

Ein tiefer Seufzer war von Fuchs zu hören, ich schien viel zu viele Überlegungen anzustellen.

«Die Friedrichstraße ist Grenzübergangsstelle, dieser Ort ist übervölkert von Stasi-Leuten, das wirst du noch schnell genug merken. Nicht umsonst wird die Ausreisehalle dort ‹Palast der Tränen› genannt. Vergiss bloß die Friedrichstraße, vergiss auch alle anderen Checkpoints, das ist unprofessionell.»

Ich gab mich damit zufrieden. Dass Fuchs ein absoluter Profi war, daran zweifelte ich in diesem Moment nicht.

Über die Friedrichstraße reiste ich mit einem Tagesvisum ein. Von dort aus wollte ich zu Fuß zur Karl-Marx-Allee, wo sich die U-Bahn-Station Strausberger Platz befand. Ich hätte die Bahn benutzen können, aber ich wollte Ostberlin besser kennenlernen, und das konnte man am besten zu Fuß. Meine Nerven waren angespannt. Ich war mir im Klaren darüber, dass ich mich möglichst unauffällig benehmen musste, aber mein Körper machte da nicht gänzlich mit. Irgendwie hatte ich das Gefühl, einen Stock verschluckt zu haben, und ich war mir sicher, dass mir jeder aus zehn Metern Entfernung ansehen konnte, dass ich etwas im Schilde führte. Ich beobachtete die kleinsten Dinge, Details, die ein normaler Spaziergänger überhaupt nicht wahrnimmt. Ich lief überaufmerksam durch die Gegend, rechnete ständig mit einer Bedrohung. Ich sah Gespenster. Meine Gehirnzellen simulierten Gefahrensituationen, die objektiv nicht vorhanden waren, ich konnte meinen eigenen Sinnen nur begrenzt vertrauen.

Um nicht die Ruhe zu verlieren, versuchte ich, meine Gedanken auf etwas ganz anderes zu lenken. Fatalerweise fiel mir nichts Besseres ein als eine Klassenreise nach...

Erscheint lt. Verlag 26.8.2016
Co-Autor Regina Carstensen
Zusatzinfo Mit 15 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Agententausch • BRD • Checkpoint Charlie • DDR • Deutsch-deutsche Beziehungen • Hohenschönhausen • Kalter Krieg • Kiesinger • Stasi • Wolfgang Fuchs
ISBN-10 3-644-56951-7 / 3644569517
ISBN-13 978-3-644-56951-5 / 9783644569515
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