Einsatzkommandos an der unsichtbaren Front (eBook)

Terror- und Sabotagevorbereitungen des MfS gegen die Bundesrepublik Deutschland

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
192 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-342-8 (ISBN)

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Einsatzkommandos an der unsichtbaren Front - Thomas Auerbach
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Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR verfügte über eine besondere Diensteinheit, deren Aufgabe es war, bei Bedarf gegen Zielobjekte und wichtige Funktionsträger der Bundesrepublik Deutschland mit Terrorhandlungen vorzugehen. In geheimen Ausbildungsbasen wurden fast dreißig Jahre lang systematisch »tschekistische Einsatzgruppen« für die »Spezialkampfführung« trainiert. Ein eigens dafür gebildetes Agentennetz spähte die vorgesehenen Zielobjekte im »Operationsgebiet« zwischen Kiel und Kempten aus, wo im Ernstfall auch einheimische »patriotische Kräfte« zur Unterstützung der Kommandos aktiv werden sollten. Aufgrund entsprechender Geheimbefehle Mielkes reichte die Palette der geplanten Handlungen von Sprengstoffanschlägen über Geiselnahme und Vergiftung von Trinkwasser bis hin zum gezielten Mord.
Die Studie weist nach, daß sich diese Planungen in ein globales Konzept zur Durchsetzung sowjetischer Interessen gegenüber dem Westen einordneten. Die bis 1989 andauernden Aktivitäten des MfS »an der unsichtbaren Front« werden durch umfangreiche, erstmals veröffentlichte Dokumente belegt.

Jahrgang 1947, Diakon, Religionslehrer, Diplom-Sozialpädagoge; 1970–76 Stadtjugendleiter der Evangelischen Kirche in Jena, 1976 Inhaftierung durch das MfS und Zwangsausbürgerung aus der DDR; 1978–92 Tätigkeit als Jugendleiter, Religionslehrer und Referent für politische Erwachsenenbildung am Gesamtdeutschen Institut in West-Berlin; langjähriger Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.

1.Vom kalten zum verdeckten Krieg. Die Partisanen von der Spree


Anfang Februar 1963 traf sich eine Gruppe von Stasi-Offizieren zu einer geheimen Arbeitstagung an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam/Eiche. Zugegen waren nicht nur altgediente Kader der Abteilung IV, sondern auch eine Reihe von „Neulingen“ im MfS-Dienst. Dabei handelte es sich um ehemalige Ausbilder und Fachlehrer an den Diversantenschulen der aufgelösten 15. Verwaltung der Nationalen Volksarmee, die das MfS 1962 übernommen hatte. Wenn auch neu im MfS, waren sie doch, was das Thema der Arbeitstagung betraf, ebenso versierte Spezialisten wie ihre jetzigen Kollegen der Abteilung IV. Gleich diesen hatten sie in der vordersten Linie der „unsichtbaren Front“ des kalten Krieges gestanden. Nun tauschten die frischgebackenen und die altgedienten Tschekisten auf der geheimen Arbeitstagung ihre „Kampferfahrungen“ aus. In den Beratungen ging es zunächst um das gemeinsame Feindbild. Thematisiert wurden: „Die Rolle der imperialistischen Geheimdienste im System des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ und die „westdeutschen Abwehrorgane“.14 Weitere Gesprächsthemen waren: „Hauptaufgaben des MfS für die operative Arbeit, Verbindungswesen der Geheimdienste, die Legende und die konspirative Arbeit, Arbeit mit IM, das Verhalten von IM vor feindlichen Sicherheitsorganen, Spurenkunde“.15 Nicht wenige der Neueingestellten bekleideten später hohe Funktionen in der AGM/S. Einer von ihnen, Siegfried Zieger, nachmaliger Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe der AGM/S, erinnerte sich 1982 an die Ergebnisse der Arbeitstagung von 1963. In einem handschriftlichen Manuskript, angefertigt als Zuarbeit für eine Chronik der Diensteinheit, berichtete er, was 20 Jahre zuvor besprochen worden war: Die Teilnehmer der Arbeitstagung einigten sich damals darauf, daß im MfS eine wirklichkeitsnahe Ausbildung für Spezialisten geschaffen werden müsse. Diese sollten im Operationsgebiet auf Befehl des „Genossen Ministers“ als Einzelkämpfer oder in kleinen Gruppen gegen bedeutsame „Feindobjekte“ vorgehen. Es wurde beschlossen, „eine entsprechende Ausbildungsrichtlinie zu erarbeiten, die eine differenzierte Ausbildung für Einzelkämpfer und Führungskräfte beinhaltet“.16 Im Ergebnis der Arbeitstagung hatte die AGM bis April 1963 eine von Mielke persönlich abgezeichnete „Geheime Kommandosache“ erstellt. Sie trug den unverfänglichen Titel: „Grundsätze zur Durchführung besonderer Qualifizierungsmaßnahmen für Teilkräfte des Ministeriums für Staatssicherheit“ (siehe Dokument 1).17 In dem Dokument heißt es eingangs etwas holprig:

„Die weitere allseitige Erhöhung der Schlagkraft und Einsatzbereitschaft der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit erfordert die Durchführung von Maßnahmen – Vorbereitung und Schaffung von Bedingungen –, die erforderlich sind, um unter normalen Bedingungen, wie auch im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen, bereit zu sein, zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik aktive Aktionen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich durchführen zu können. Zur Verwirklichung dieser Forderungen sind besondere Qualifizierungsmaßnahmen für bestimmte operative Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit notwendig und durchzuführen.“18

Die Aktionen sollten sich gegen politische Zentren, militärische Einrichtungen, Anlagen der Rüstungsindustrie, das Fernmeldewesen, die Elektroenergieversorgung, das Transportwesen und gegen die Gas- und Wasserversorgung richten.19 Derartige Zielobjekte, heißt es in der Geheimen Kommandosache weiter, seien aufzuklären und im Ernstfall durch aktive Kampfführung zu zerstören oder zu beschädigen beziehungsweise in Besitz zu nehmen. Für diese Aufgaben sollten Führungskader und Einzelkämpfer als Aufklärer (Kundschafter), Diversionsspezialisten (Spreng- und Brandwesen), Spezialfunker, Fallschirmspringer, Kampfschwimmer und Fremdsprachenkundige (englisch und französisch) ausgebildet werden.20 Die notwendigen Qualifizierungslehrgänge seien „ausschließlich sicherzustellen im Dienstbereich der Linie IV des MfS unter direkter Anleitung der Arbeitsgruppe des Ministers“.21 Als „nächste Maßnahmen“ wurden folgende Schritte festgelegt:

„Nach Bestätigung der vorliegenden Grundsätze sind auszuarbeiten: differenzierte Ausbildungsprogramme unter Beachtung der Spezialrichtungen, Pläne der materiellen Sicherstellung und Schaffung einer breiten Ausbildungsbasis, Grundsätze für die Kaderarbeit im Rahmen der besonderen Qualifizierungsmaßnahmen, alle erforderlichen Lehr- und Ausbildungsunterlagen, Grundsätze für einen Org[anisations-] Nachweis über die ausgebildeten Kader und ihre Spezialkenntnisse. Die zur Durchführung von Lehrgängen an konspirativen Objekten eingesetzten Lehrkräfte sind entsprechend vorzubereiten und zu qualifizieren.“22

Als Anlage waren der Geheimen Kommandosache „Thesen für die Ausarbeitung von Rahmenprogrammen zur Durchführung von Lehrgängen an konspirativen Objekten“ beigefügt.23 Diese „Thesen“ treffen bereits sehr genaue Festlegungen über Inhalt, Form und Ziel der Diversantenausbildung im MfS (siehe Dokument 1).24

Um die genannten Vorgaben in die Praxis umzusetzen, bedurfte es noch eines knappen Jahres angestrengter Arbeit. In dieser Zeit wurden die geforderten „konspirativen Objekte“ als Ausbildungsbasen aus- und umgebaut. Von der 15. Verwaltung der NVA hatte das MfS mehrere solcher Objekte übernommen. Drei davon sollten auch künftig als geheime Ausbildungsstützpunkte für Diversanten vom MfS genutzt werden. Es waren dies die Objekte „Wally“ in Wartin, Kreis Angermünde, „Else“ in Biesenthal und „Maria“ in Struvenberg bei Görtzke.25 Sie wurden nun mit neuen Schießständen, Hinderniskampfbahnen, „Lehrgärten für die Sprengausbildung“, Unterrichtskabinetten, Munitions- und Waffenkammern ausgestattet.26 Im Objekt „Else“ in Biesenthal entstand im „Weißen Haus“ ein Kampfmittellabor.27

Am 21. Januar 1964 ordnete Erich Mielke durch den Geheimbefehl 107/64 an (siehe Dokument 2), daß nunmehr mit der Ausbildung von MfS-Kadern zu beginnen sei, um „unter allen Bedingungen der Lage bereit zu sein […], aktive Maßnahmen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich durchführen zu können“.28 An der gleichen Stelle bestimmte er weiter:

„Die Organisation und Durchführung der gesamten Ausbildung hat streng nach den im Grundsatzdokument vom 20.4.1963 festgelegten und von mir bestätigten Maßnahmen zu erfolgen. […] Für die Auswahl, Bestimmung und Nominierung der Kader zur Teilnahme am Lehrgang sind die Leiter der Diensteinheiten persönlich verantwortlich. Sie haben nur unbedingt zuverlässige Mitarbeiter mit Perspektive vorzuschlagen, die die Voraussetzungen und Eignung zur Lösung derartiger Aufgaben mitbringen. Bei der Auswahl ist streng, konsequent und sehr gewissenhaft vorzugehen. Durch die Leiter der Diensteinheiten ist über jeden ausgewählten Kader eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.“29

Der erste Halbjahreslehrgang für 20 Mitarbeiter aus sieben verschiedenen Diensteinheiten begann am 1. Februar 1964. Zeitgleich fand ein ebensolcher Lehrgang für 26 IM der Hauptabteilung I aus dem Bereich der Grenztruppen der NVA statt. In bezug auf die IM legte Mielke in seinem Befehl fest: „Das Ausbildungsprogramm für diesen Lehrgang ist so abzustimmen, daß keinerlei Beziehungen zum Ministerium für Staatssicherheit erkennbar werden.“30 Sämtliche Kursanten wurden anschließend zu ihren jeweiligen Diensteinheiten entlassen, von wo sie im Bedarfsfall für besondere Einsätze im Operationsgebiet wieder abkommandiert werden sollten. Abschließend verfügte der Minister, daß die Leiter der beteiligten Diensteinheiten aus Geheimhaltungsgründen nur mündlich in die betreffenden Abschnitte des vorliegenden Befehls einzuweisen seien. Als Verantwortlichen für die Umsetzung seiner Anordnungen bestimmte Mielke den AGM-Chef Alfred Scholz.

Mielkes Befehl wurde lediglich in zwei Exemplaren ausgefertigt. Eines davon erhielt ein MfS-Offizier namens Heinz Stöcker.31 Der 1929 geborene Stöcker diente bis 1957 als Hauptfachlehrer für Infanterietaktik in der NVA. Seit seiner Einstellung beim MfS 1957 war er als Referatsleiter für die militärische Ausbildung zunächst in der Hauptabteilung Kader und Schulung (HA KuSch) und dann in der AGM zuständig.32 Von seinen Vorgesetzten wurde ihm bereits 1962 bescheinigt, daß er viele neue Formen der Kampfausbildung entwickelt und somit zur Anerziehung von Härte, Mut und Einsatzbereitschaft beigetragen habe.33 Stöcker schien der geeignete Mann, den Mielke-Befehl 107/64 in die Praxis umzusetzen. Deshalb wurde er im Februar 1964 zum Leiter des Arbeitsgebietes für „Sonderfragen“ (AG S) innerhalb der AGM ernannt.34 Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Anleitung und Kontrolle der künftig für die Diversantenausbildung zuständigen Abteilung IV/2.35

Einem Plan von 1963 zufolge sollten ab 1964 jährlich etwa hundert MfS-Mitarbeiter für den Einsatz im Operationsgebiet ausgebildet werden.36 Für die sechziger Jahre wurden genauere Angaben dazu bisher nicht aufgefunden. Auch die Anzahl der ausgebildeten IM der HA I bei den Grenztruppen ist bis heute nicht bekannt. Auf Grund der forcierten...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2016
Reihe/Serie Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte AGM/S • BRD • Bundesrepublik Deutschland • DDR • Einsatzkommando • Einsatzkommandos • Front • Geiselnahme • Klassenkampf • Konspiration • MfS • Ministerium für Staatssicherheit • Sabotage • Spionage • Sprengstoff • Terror • Thomas Auerbach • tschekistisch • unsichtbar • Zielobjekt
ISBN-10 3-86284-342-4 / 3862843424
ISBN-13 978-3-86284-342-8 / 9783862843428
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