Die Unsterblichkeit der Zeit (eBook)

Die moderne Physik zwischen Rationalität und Gott

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
350 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561136-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Unsterblichkeit der Zeit -  Paul Davies
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Von der Zeit wissen wir nicht viel - wir verstehen sie nicht wirklich. Zwar können wir sie auf die Tausendstelsekunde messen, wenn man uns aber in einen dunklen Raum sperrt, verlieren wir das Zeitgefühl sehr bald. Was also ist die Zeit? Wo kommt sie her? Wo geht sie hin? Hat sie einen Anfang oder ein Ende? Der berühmte Physiker Paul Davies schildert, was die moderne Wissenschaft seit Einstein über die Zeit gedacht und gefunden hat. Er ergründet und erklärt auf umfassende und packende Weise die geheimnisvollen Tiefen der Zeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Paul Davies ist Professor für mathematische Physik und Preisträger des mit einer Million Dollar dotierten Templeton-Preises für seine besonderen Verdienste um die Wissensvermittlung zwischen Naturwissenschaft und Religion.

Paul Davies ist Professor für mathematische Physik und Preisträger des mit einer Million Dollar dotierten Templeton-Preises für seine besonderen Verdienste um die Wissensvermittlung zwischen Naturwissenschaft und Religion.

Stirbt das Universum?


Es ist unmöglich, die wissenschaftlichen Bilder von der Zeit vom kulturellen Hintergrund zu trennen, der Europa in der Renaissance und der Neuzeit prägte. Die europäische Kultur ist wesentlich von der griechischen Philosophie und den religiösen Systemen des Judaismus, des Islam und des Christentums beeinflußt. Das griechische Erbe bestand in der Annahme, daß die Welt geordnet und rational ist und durch menschliches Denken begriffen werden kann; und wenn das so ist, kann ein Sterblicher das Wesen der Zeit im Prinzip erfassen. Aus dem Judaismus kam die westliche Vorstellung der Zeit, die für die wissenschaftliche Weltsicht so wichtig ist. Im Gegensatz zur vorherrschenden Vorstellung der Zeit als zyklisch glaubten die Juden an eine lineare Zeit. Ein zentraler Lehrsatz des jüdischen Glaubens, der sowohl vom Christentum als auch vom Islam übernommen wurde, war der vom geschichtlichen Prozeß, wonach Gottes Plan für das Universum einem festgelegten zeitlichen Ablauf folgt. Nach diesem Glaubenssystem wurde das Universum von Gott in einem bestimmten Augenblick der Vergangenheit erschaffen, und zwar in einem ganz anderen Zustand als heute. Die theologische Reihenfolge der Ereignisse – Erschaffung, Sündenfall, Erlösung, Tag des Jüngsten Gerichts, Auferstehung – läuft parallel zu einer göttlich gelenkten Abfolge naturwissenschaftlicher Ereignisse – Ordnung nach dem Urchaos, Ursprung der Erde, Ursprung des Lebens, Ursprung des Menschen, Zerstörung und Zerfall.

Die Vorstellung einer linearen Zeit bezieht einen Zeitpfeil mit ein, der von der Vergangenheit in die Zukunft weist und die Richtung der Ereignisabfolge anzeigt. Der Ursprung des Zeitpfeils als physikalisches Prinzip ist noch ein eigenartig umstrittenes wissenschaftliches Geheimnis, auf das ich in Kapitel 9 zurückkomme. Wissenschaftler und Philosophen sind sich über die Bedeutung des Zeitpfeils absolut uneins. Die Streitfrage lautet, grob gesprochen: Wird das Universum besser oder schlechter? Die Bibel erzählt von einer Welt, die im Zustand der Vollkommenheit beginnt – im Garten Eden – und aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen untergeht. Ein wesentlicher Bestandteil von Judaismus, Christentum und Islam ist jedoch eine Botschaft der Hoffnung und des Glaubens an eine persönliche Besserung und die endgültige Erlösung der Menschheit.

Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten Physiker die drei Hauptsätze der Thermodynamik, und man erkannte bald, daß sie einen universellen Grundsatz der Entartung enthielten. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik wird häufig so wiedergegeben, daß jedes geschlossene System einem Zustand völliger Unordnung oder einem Chaos zustrebt. Im täglichen Leben stoßen wir in vielen vertrauten Zusammenhängen immer wieder auf den zweiten Hauptsatz, was beispielsweise auch in alltäglichen Redensarten zum Ausdruck kommt («Zerbrechen ist einfacher als machen») oder uns aus Murphys Gesetz, Parkinsons Gesetz etc. geläufig ist. Auf das Universum als Ganzes angewandt, besagt der zweite Hauptsatz, daß der gesamte Kosmos wie auf einer Rutsche einem Endzustand totaler Entartung zustrebt, also der maximalen Unordnung, die identisch mit dem Zustand eines thermodynamischen Gleichgewichts ist.

Eine Möglichkeit, den unerbittlichen Anstieg des Chaos zu messen, bietet die sogenannte «Entropie», die, grob gesprochen, definiert ist als das Maß der Unordnung in einem System. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt nun, daß in einem geschlossenen System die Entropie insgesamt niemals abnehmen kann; sie bleibt bestenfalls unverändert. Fast alle natürlichen Veränderungen tendieren dahin, die Entropie zu erhöhen, und wir stoßen in der Natur immer wieder auf das Wirken des zweiten Hauptsatzes. Eines der bemerkenswertesten Beispiele ist, wie die Sonne allmählich ihren Kernbrennstoff verbraucht, unwiederbringlich Wärme und Licht in die Weite des Alls schleudert und die Entropie des Kosmos mit jedem freigesetzten Photon erhöht. Irgendwann wird der Sonne der Brennstoff ausgehen, und sie wird nicht mehr scheinen. Die gleiche schleichende Entartung trifft alle Sterne des Universums. Mitte des 19. Jahrhunderts bekam dieses mißliche Schicksal den Namen «kosmischer Wärmetod». Der thermodynamische Niedergang des Kosmos stellte einen eindeutigen Bruch mit der Vorstellung vom Newtonschen Uhrwerk Universum dar. Statt das Universum als perfekte Maschine zu betrachten, sahen die Physiker es jetzt als einen riesigen Wärmemotor an, dem allmählich der Treibstoff ausgeht. Man stellte fest, daß Perpetuum mobiles wirklichkeitsfremde Idealisierungen waren, und zog den beunruhigenden Schluß, daß das Universum langsam sterbe. Die Wissenschaft hatte eine pessimistische Zeit entdeckt, und eine neue Generation atheistischer Philosophen unter Führung von Bertrand Russell klagte von der schrecklichen Unausweichlichkeit des kosmischen Untergangs.

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik führt einen Zeitpfeil in die Welt ein, weil die Zunahme der Entropie ein unumkehrbarer Prozeß «abwärts» zu sein scheint. Es war ein seltsames Zusammentreffen, daß, gerade als die schlechte Nachricht vom sterbenden Universum bei den Physikern die Runde machte, Charles Darwin sein berühmtes Buch Über die Entstehung der Arten herausbrachte. Die Evolutionstheorie schockierte die Menschen zwar weit mehr als die Vorhersage eines kosmischen Wärmetodes, doch die Hauptbotschaft von Darwins Buch war grundsätzlich optimistisch. Die biologische Evolution führt ebenfalls einen Zeitpfeil in die Natur ein, der jedoch in die entgegengesetzte Richtung wie der des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik zeigt, d.h. die Evolution scheint ein Prozeß «aufwärts» zu sein. Das Leben auf der Erde begann mit primitiven Mikroorganismen, machte jedoch im Verlauf der Zeit Fortschritte und brachte eine Biosphäre von unglaublicher organisatorischer Vielfalt mit Millionen kompliziert gebauter Organismen hervor, die hervorragend an ihre ökologischen Nischen angepaßt waren. Während die Thermodynamik Entartung und Chaos vorhersagt, scheinen die biologischen Prozesse progressiv zu verlaufen und aus dem Chaos Ordnung zu schaffen. Das war eine optimistische Zeit, die in der Wissenschaft gerade dann aufkam, als die pessimistische Zeit im Begriff war, ihre Saat der Hoffnungslosigkeit zu säen.

Darwin glaubte fest daran, daß es in der Natur einen angeborenen Trieb zur Verbesserung gibt. «Und da die natürliche Zuchtwahl nur durch und für den Vorteil der Geschöpfe wirkt, so werden alle körperlichen Fähigkeiten und geistigen Gaben immer mehr nach Vervollkommnung streben», schrieb er.[17] Die Biologen sprachen bald von einer «Leiter des Fortschritts», an deren Fuß sich die Mikroben befanden und der Mensch an der Spitze. Obwohl also die Evolutionstheorie den Gedanken verwarf, daß Gott jede einzelne Art sorgfältig geplant und erschaffen habe, ließ sie doch Raum für einen planenden Gott, der differenzierter handelte, indem er den Verlauf der Evolution über Milliarden Jahre aufwärts hin zum Menschen lenkte oder führte, und vielleicht noch darüber hinaus.

Diese progressive Lebensanschauung wurde von einigen führenden europäischen Denkern wie Henri Bergson, Herbert Spencer, Friedrich Engels, Teilhard de Chardin und Alfred North Whitehead begeistert begrüßt. Sie alle sahen im Universum als Ganzem, nicht nur in der Biosphäre der Erde, Beweise für eine innere Fähigkeit der Natur, aus dem Chaos Ordnung zu schaffen. Die lineare Zeit dieser Philosophen und Wissenschaftler war eine Zeit eines schwankenden, jedoch letztlich zuversichtlichen Fortschritts.

Leider vertrug sich die Entwicklung in der Natur weder mit dem blinden thermodynamischen Chaos noch mit dem ziellosen Chaos, das der Darwinschen Evolution zugrunde liegen soll. Spannungen zwischen der Vorstellung von einer progressiven Biosphäre einerseits und einem zum Wärmetod bestimmten Universum andererseits führten zu verrrückten Reaktionen. Einige Biologen, vor allem in Frankreich, spielten Darwins zentrale These von den Zufallsmutationen zugunsten einer Eigenschaft herunter, die sie élan vital, Lebenskraft, nannten, die dafür sorge, daß die Organismen sich in eine progressive Richtung und gegen die chaotischen Tendenzen der unbelebten Vorgänge entwickeln. Der Glaube an eine solche Lebenskraft existiert in bestimmten nichtwissenschaftlichen Kreisen noch heute. Einige Philosophen und Wissenschaftler, die sich um das Schicksal des Universums Sorgen machten, erklärten, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik könne unter bestimmten Umständen umgangen werden oder sollte nicht auf das Universum als Ganzes angewandt werden.

Der Streit tobt noch immer. Die Biologen haben die Lebenskraft längst abgeschrieben und viele erklären mit Nachdruck, daß jeder Eindruck eines Fortschritts in der biologischen Evolution einfach das Ergebnis von Wunschdenken und kultureller Konditionierung sei. Der Weg evolutionärer Veränderungen, behaupten sie, beruht im wesentlichen auf dem Zufall – «im Flug erhaschter Zufall», um Jacques Monods anregende Formulierung zu gebrauchen. Andere Wissenschaftler, von denen viele durch die Arbeit Ilya Prigogines beeinflußt wurden, glauben an die Existenz selbstorganisierender Prozesse in der Natur und erklären, die Entwicklung zu größerer organisatorischer Vielfalt sei eine universelle, gesetzmäßige Tendenz. Spontane Selbstorganisation muß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht widersprechen. Diese Prozesse erzeugen nebenher immer Entropie, und es muß somit ein Preis dafür gezahlt werden, daß aus dem Chaos Ordnung entsteht. Was das endgültige Schicksal des Universums angeht, so hängt die Entscheidung, welche dieser...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2016
Übersetzer Wolfgang Rhiel
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Backlistdigitalisierung • Essays • Roman • S. Fischer
ISBN-10 3-10-561136-3 / 3105611363
ISBN-13 978-3-10-561136-4 / 9783105611364
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Rat und Hilfe für Angehörige von zwangskranken Menschen

von Michael Rufer; Susanne Fricke

eBook Download (2023)
Hogrefe AG (Verlag)
21,99
Rat und Hilfe für Angehörige von zwangskranken Menschen

von Michael Rufer; Susanne Fricke

eBook Download (2023)
Hogrefe AG (Verlag)
21,99