Wenn du spürst, es geht nicht mehr (eBook)

Eine Mutter und ihr schwerstbehindertes Kind. Die härteste Entscheidung ihres Lebens
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
367 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-3125-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn du spürst, es geht nicht mehr -  Julia Hollander
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Frisch verheiratet, eine kleine Tochter, das Haus auf dem Lande und schwanger mit dem zweiten Kind - Julias Leben scheint perfekt.

Doch als das Baby auf die Welt kommt, ist alles anders als beim letzten Mal. Es gibt Komplikationen. Und als sie ihr Baby im Arm hält, spürt Julia vor allem eines: tiefe Angst.

Wenn du spürst, es geht nicht mehr ist die bewegende Geschichte eines Verlusts. Und die Geschichte einer Frau, die eine Entscheidung treffen musste - mit der Liebe, der Kraft und dem Mut einer Mutter.

KAPITEL 2


Das Kind im Brunnen


Samstag, 6. Juli. Zweieinhalb Wochen nach ihrer Geburt brachten wir Immie nach Hause, in Decken gewickelt und schwächlich. Obwohl ich überzeugt war, dass der Garten das beste Gegenmittel zu der sterilen Krankenhausatmosphäre darstellte, war ich doch auch nervös. Sie war noch nie an der frischen Luft gewesen. Die einzige Lösung war, den Garten zu ihr hineinzubringen.

Ellie hatte auf dem Rasen Löwenzahn und Hahnenfuß gesammelt und in Vasen gestopft, aber sie ließen die Köpfe auf ihren schwachen Stängeln hängen. Mit der Rosenschere holte ich schönere Trophäen. Bauernjasmin quoll aus dem Krug auf dem Fenstersims, der neben den Glückwunschkarten stand. Es war mir nicht wohl dabei gewesen, diese Karten aufzustellen, besonders eine, auf der die Sohle eines Babyfüßchens zu sehen war, mit zusammengezogenen Zehen, die verdächtig an einen epileptischen Anfall erinnerten. Drinnen stand: »Ein Willkommen für das Trappeln kleiner Füße«. Zu Elinors Geburt hatte ich sicher ähnliche Glückwunschkarten bekommen, und da wir so tun wollten, als seien die vergangenen zweieinhalb Wochen nie passiert, mussten die Karten auf den Sims. Kaum einen Tag später waren sie von gelbem Blütenstaub überzogen.

Steife Wickenstängel standen in den Väschen auf den Nachttischchen. Dieses Jahr hatte ich mich für eine altmodische Sorte mit einfarbigen, dunkelrosa Blüten entschieden, die meine Mutter wegen ihres üppigen Duftes empfohlen hatte (es sei Grannys Lieblingssorte gewesen, sagte sie). In ihrer schweren Wolke schlummerte mein Baby. Ich hatte die Vorhänge schwarz gefüttert, damit es nicht vom Sommerlicht gestört wurde – was sich im Nachhinein als völlig überflüssig herausstellte, sie hatte im Krankenhaus sogar direkt unter der Neonröhre geschlafen. Schlafen war ohnehin ihr Ding. In den ersten Tagen wurde es nur durch das Füttern unterbrochen, bei dem Jay und ich uns abwechselten und ihr wie die Schwestern alle drei Stunden rund um die Uhr das Fläschchen gaben.

Am liebsten waren mir die nächtlichen Fütterungen. Wenn der Wecker klingelte, trug ich meine schlafende Schöne aus dem Schlafzimmer und legte sie auf das Sofa im Flur. Dort zündete ich eine Kerze an. Ich hatte gelesen, das Flackern würde die Entwicklung der Augen von Babys stimulieren, ich sah darin aber auch ein Symbol der Hoffnung – schließlich waren wir der Vorhölle im Krankenhaus entronnen. Schon vor dem Schlafengehen hatte ich in einer Kühltasche ein geeichtes Fläschchen vorbereitet mit der exakten Menge aufgetauter Muttermilch aus meinem Krankenhausvorrat. Im Kerzenlicht schraubte ich es auf, ersetzte den Deckel nach dem Aufwärmen durch einen nagelneuen Sauger und schob ihn zwischen ihre Kiefer. Ohne die Augen zu öffnen, begann Imogen zu schlucken.

In dieser Anfangszeit hatte ich genug Schlafreserven und war glücklich, ihr im Morgengrauen die zweite Flasche zu geben, die in der Kühltasche wartete. Draußen, direkt vor dem Fenster, zirpten und rauschten die Mauerschwalben vorbei. Sie waren dieses Jahr früh zurückgekommen und hatten ihre Nester unter unserem Dachüberstand eilends wieder instand gesetzt. Bald – noch vor meinem Krankenhausaufenthalt – war der erste Schwung schon flügge, offenbar war jetzt bereits der zweite ausgebrütet. Wie sich die Altvögel plagten – noch bevor meine Augen das Tageslicht wahrnahmen, brachten sie schon das Frühstück für ihren Nachwuchs herein.

Und da saß ich, nur ein paar Meter entfernt, und fütterte meinen Nachwuchs. Neugeborene Menschen sind seltsame Geschöpfe, eigentlich haben sie noch wenig Menschliches. Ihre Glieder lassen jede Koordination vermissen, ihre Augen erkennen wenig, ihre verzerrten Münder reißen sie so weit auf wie die Küken ihre Schnäbel, Zungen lecken die Luft. Strampelnde Wesen, ganz auf Körpervorgänge und Empfindungen reduziert, vollkommen abhängig von ihren Eltern. Ich habe sie immer als Bündel von Möglichkeiten gesehen, die sich nach einem zunächst relativ festgelegten Programm entwickeln. Inzwischen gibt es mir einen Stich, wenn ich die Brut anderer Menschen betrachte.

♦♦♦

Tagsüber war die Luft schwül durch die Julihitze, Gewitterfliegen wurden zur Plage. Die Insekten, nicht größer als ein Komma, hatten sich in die Bilderrahmen im Wohnzimmer gezwängt. Unter dem Glas saßen sie dann in der Falle, durch ihre Feuchtigkeit entstanden Heiligenscheine, die das Papier dauerhaft als konvergierende Kreise verschmutzten. Flog einer der Plagegeister in Immies Auge, holte ich ihn vorsichtig mit der Fingerspitze heraus, nur um zu entdecken, dass ein winziger schwarzer Vetter seinen Platz eingenommen hatte.

Unter dem Fenster im Wohnzimmer stand ein Bett mit einer weichen Wolldecke, auf der Ellie oft als Neugeborene gelegen hatte. Ich hatte sie darauf ausgezogen und beobachtet, wie sie sich streckte und blinzelte. Das war im Winter gewesen, und ihre Schwester trug mitten im Hochsommer ein Wolljäckchen, eine geliehene Mütze und war zusätzlich in eine Decke gewickelt. Ich zog Immie ganz langsam, fast schon feierlich aus. Es war, als lösten wir die Fesseln, die uns in der Perinatalstation angelegt worden waren, als streiften wir die übereinandergewickelten Schichten des institutionellen Lebens ab. Mein Baby trug wieder seinen Geburtstagsanzug – ihre Haut war rötlich-weiß, ganz wie meine irischstämmige Mutter, während Ellie Jays dunkleren Teint geerbt hatte.

Ich holte meine Kamera, um den Moment festzuhalten – begierig, die verlorene Zeit nachzuholen und von Imogen genauso viele Fotos zu haben wie von dem anderen Kind. Ich wollte kein drittes Kind – Wehen, nein danke –, und insofern war es meine letzte Chance. Ich musste jeden von Immies entscheidenden Baby-Momenten festhalten, den ersten Augenkontakt, das erste Lächeln, wenn sie zum ersten Mal aufrecht sitzen konnte, wenn sie anfing zu sprechen.

Auf der Decke lag Ellies Lieblingsrassel. Der glitzernde Reif mit seinen bunt bemalten Ringen und Kugeln hatte sich als faszinierendes Spielzeug für die erste Zeit erwiesen. Jetzt schüttelte ich ihn dicht vor Immies Gesicht und hoffte, sie würde hinschauen. Aber sie schien sich eher zurückzuziehen, zog die Knie Richtung Bauch und drehte das Gesicht weg in die Falten der Decke. Ich beobachtete sie eine Weile durch die Kamera. Ihre linke Hand (immer noch grün und blau und geschwollen von den Infusionsnadeln) hielt sie an ihrem Ohr, die rechte stützte das Kinn wie Rodins Denker. Sie hatte die Hände oft am Kopf, schon als ich sie in Banbury zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie eine ähnliche Armhaltung gezeigt. Vielleicht hatte die Krankenschwester ja recht gehabt, und das Kind litt unter den schlimmsten Kopfschmerzen auf der ganzen Welt. Jetzt hatte ich immerhin die Chance, es zu heilen.

♦♦♦

Es gibt nur ein einziges Foto aus Immies ersten Wochen, auf dem sie wach ist. Man sieht mich, wie ich ihren mageren Körper in eine Plastikwanne gleiten lasse, ihre Augen sind offen, in ihrer Pupille spiegelt sich der Kamerablitz. Dieses Bild enthält eine weitere Erinnerung, die im Rückblick noch bedeutsamer ist: Als ihre nackte Haut das Wasser berührt, wimmerte sie wie ein blindes Katzenjunges. Endlich, nach Wochen der Stille, hörte ich zum ersten Mal ihre Stimme. Ich bespritzte sie mit Wasser, und das Wimmern wurde zum Schreien. Aus ihren Lungen strömte ein Lied, dessen Noten sich mit dem plätschernden Wasser vermischten. Seit sich das Fruchtwasser auf den Teppich im Wohnzimmer ergossen hatte, hatte Immie in einer trockenen Welt gelebt, des Elements beraubt, das sie all die Monate in mir genährt hatte. Und jetzt sang sie zur Feier des Wiedererkennens das Lied, das sie bei ihrer Geburt hätte singen sollen.

So habe ich es zumindest beim ersten Mal wahrgenommen. Innerhalb weniger Tage klang es weniger wie ein Lied denn wie Gebrüll – den Kopf zurückgeworfen, die Augen zusammengekniffen, den Mund weit aufgerissen. Wenn ich mich in diese Zeit zurückversetze, fällt mir dieses Schnarren ein, das entstand, weil sie ihr Elend beim Luftholen ebenso wie beim Ausatmen herausbrüllte, Rücken und Knie durchgedrückt, die Schenkel verspannt, schweißgebadet. Ich legte ihr die Hand auf den Bauch und auf den Rücken und hoffte, der Druck lindere das Bauchweh. Ich klopfte ihr auf den Rücken, hoffte, dass sich die Blähungen in ihrem empfindlichen Verdauungssystem lösten. Aber sie wehrte mich ab, warf den Kopf zurück, fuchtelte mit den Armen und hörte nicht auf zu schreien.

Laut Ärzten und Ratgeberliteratur schreien Babys aus einem bestimmten Grund – weil sie Hunger haben, müde sind oder sich nicht wohl fühlen. Schreien ist das einzige Ausdrucksmittel von Neugeborenen, heißt es. Eine Mutter wisse, ob ihr Baby genug gegessen oder geschlafen oder die Windeln voll habe, sie fände rasch die Ursache des Schreiens heraus und beseitige sie. Nicht so bei mir. Was immer ich ausprobierte, es machte keinen Unterschied. Wenn Immie wach war, schrie sie. Immer. Da ich ihr nicht helfen konnte, wäre ich am liebsten davongelaufen. Aber ich habe es natürlich nicht getan, schließlich bin ich ihre Mutter. Also presste ich ihren heißen Körper gegen meine Rippen und schaukelte vor und zurück. Vor und zurück.

Ellie hat als Baby natürlich auch geschrieen. Ich habe sie auf meine Knie gesetzt und getröstet. Meistens habe ich ihr die Brust gegeben, das mochte sie offenbar. Vom ersten Tag an nuckelte sie an mir und nahm meinen Geschmack auf. Nachts wachte ich auf und spürte, wie die Milch in die Warze schoss, noch bevor sie quäkte.

Ich musste Immie von der Flasche wegbringen. Es musste einfach gehen, meine Mutter hatte mir erzählt, dass sie mich von der Flasche weg wieder an die Brust bekommen...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2016
Reihe/Serie Erfahrungen und Schicksale – Wahre Geschichten über Krankheit, Tod, Abschied und Zuve
Erfahrungen und Schicksale – Wahre Geschichten über Krankheit, Tod und Abschied
Übersetzer Brigitte Döbert
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel When the Bough breaks
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Adoption • Autobiografie • Autobiographie • bio • Biografie • Biographie • Biographien berühmter Persönlichkeiten • Biographien bestseller • Eltern • England / Großbritannien • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Erinnerung • Erinnerungen • Erkrankung • Erzählung • Familie • Geburt • Gedanken • Geschichte • Hilfe • Historie • Klan • krank • Krankheit • Leben • Lebensbericht • Lebensbeschreibung • Lebensführung • Lebensgeschichte • Lebensweg • Memorien • Pflegefamilie • Psychologie • Schicksal • Schicksale und Wendepunkte • Schicksalsschlag • Schicksalsschläge • Schwanger • schwerbehindertes Kind • Tagebücher • Tochter • Vita • Wahre GEschichte • Zerebralparese
ISBN-10 3-7325-3125-2 / 3732531252
ISBN-13 978-3-7325-3125-7 / 9783732531257
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