Mein Glück kennt nicht nur helle Tage (eBook)

Wie mein behindertes Kind mir beibrachte, die Welt mit anderen Augen zu sehen
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
220 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-2373-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Glück kennt nicht nur helle Tage -  Gabriele Noack
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Voller Freude erwartet Gabriele Noack die Geburt ihres zweiten Sohnes, doch das Glück wird erschüttert: Der kleine Julius ist schwer behindert. Für die junge Mutter bricht eine Welt zusammen, ihr Traum vom perfekten Familienleben scheint in unerreichbare Ferne gerückt. Warum bloß hat es ausgerechnet ihr Kind getroffen? Sie fühlt sich Julius Krankheit nicht gewachsen, Scham und Schuldgefühle rauben ihr die Kraft. Gleichzeitig spürt sie tiefe Liebe und eine besondere Verbindung zu ihrem Sohn. Langsam und vorsichtig findet sie sich in ihrem neuen Alltag ein und entwickelt durch die erzwungene Entschleunigung einen völlig anderen Blick auf die Welt ...

4. April 2008


Sechs Jahre vorher


Ich feiere zum vierunddreißigsten Mal meinen Geburtstag. Aber zum allerersten Mal mit einem Kind in meinem Bauch.

Auf dem Glastisch vor mir stapeln sich, neben zerknüllten Geschenkpapierfetzen, nagelneue DVD-Boxen. »Greys Anatomy« – die komplette zweite Staffel, »Friends – Episode 1–10«, »Emergency room« – Staffel 1. Keine Klamotten, keine Schals, Parfumflacons oder gar Unterwäsche. Die mitgebrachten Präsente meiner zwei Freundinnen sind eher zweckmäßig. Ich muss noch über acht Wochen mit meinem dicken Bauch auf dem Sofa ausharren.

Seit sieben Monaten wächst ein Kind in mir heran. Seit sieben Monaten mache ich mir Sorgen und Gedanken, wie wohl alles werden wird. Gedanken, die ich mir nie machen wollte.

Wird Michael mich mit Kind noch attraktiv finden? Sind wir womöglich doch schon zu alt? Werden wir als Eltern alles richtig machen?

Kann das Kind in mir schlafen, auch wenn ich mal wieder vor lauter Grübeleien in der Nacht kein Auge zumache? Geht es ihm gut, auch wenn ich furchtbar aufgeregt bin? Hat es womöglich rote Haare wie ich? Was hatte ich als kleines Mädchen unter meinem Kupferdach gelitten!

»Guter Hoffnung sein« kann man meinen Zustand nicht unbedingt nennen. Michael hatte recht, ich mache mir viele Gedanken, viel zu viele Gedanken. So viele, dass sie mich beunruhigen. Am allermeisten verunsichern mich diese Wehen, die ich schon seit Wochen habe. Meine Frauenärztin hat mir Schonung verordnet, sieht aber sonst keinen Handlungsbedarf.

»Ich merke, Sie denken zu viel nach! Aber nun bleiben Sie eben zu Hause und ruhen sich aus. Ich schreib Sie jetzt krank, das tut Ihnen vielleicht gut!«, meinte sie vor einigen Wochen, nachdem ich wieder einmal kurzfristig wegen Bauchschmerzen außerhalb der normalen Vorsorgeuntersuchungen bei ihr in der Praxis erschien.

»Diese ganzen zusätzlichen Untersuchungen bekommen wir alle von der Krankenkasse nicht bezahlt!«, erklärte mir die Arzthelferin mit einem Lächeln und einem reizenden Augenaufschlag. »Die sind auch oft unnötig.« Sie hat schon drei Kinder auf die Welt gebracht und weiß Bescheid, das hatte sie mir stolz bereits beim vorletzten Besuch mitgeteilt. Ich war mir sicher, in ihren Augen den Ausdruck »hysterische Erstgebärende« lesen zu können.

Seither verbringe ich fast den ganzen Tag auf dem Sofa. Ich schlage die Zeit mit dem Glotzen von hirnlosen Daily Soaps und Kochsendungen tot. Das Grinsen von Johann Lafer hat sich bereits in meinem Gehirn festgefressen. In meinen naiven Träumen von einer Schwangerschaft habe ich mich in hübschen Umstandskleidchen und mit rosiger Gesichtsfarbe bei der Arbeit gesehen. Jetzt trage ich täglich dieselben schwarzen Leggings und ein weites Schlabber-Shirt. Das Haus verlasse ich kaum noch.

Michael ist erst vor ein paar Monaten bei mir eingezogen. Er renoviert gerade noch einen Bereich im Obergeschoss für sich. Schließlich braucht sein Klavier, besser gesagt: sein Flügel, eine würdige Bleibe. Ich (und wahrscheinlich der Rest meiner Nachbarschaft) werde den Tag nie vergessen, als sich ein riesiger Schwerlastkran in unsere kleine Sackgasse zu meiner Doppelhaushälfte zwängte. Der LKW mit dem wertvollen Piano im Laderaum versperrte bereits die komplette Straße von der entgegengesetzten Seite aus.

Kurz darauf versammelte sich in meinem beschaulichen schwäbischen Dorf, in meinem idyllischen Sträßchen, eine nicht geringe Menschentraube, und fassungslose Gesichter starrten mit offenen Mündern in den Himmel. Man hätte vermuten können, sie beobachteten gerade, wie sich E.T., der Außerirdische mit dem Fahrrad, über die Dächer ihrer Häuser hinweg auf den Weg nach Hause macht.

Hier aber schwebte ein Kawaiflügel, festgehalten von ein paar Zurrgurten, hoch in den Himmel, wurde immer kleiner und kleiner, ehe er in der Balkontür des dritten Obergeschosses meines Hauses verschwand.

Jetzt verstanden auch alle neugierigen Nachbarn, warum einige Tage zuvor ein großes Stück Balkongeländer weggeschweißt worden war. Nur so war es überhaupt möglich, das imposante Musikinstrument direkt ins Haus zu schwingen. Ich liebe Michael. Er soll sich wohlfühlen bei mir. Und wenn es hätte sein müssen, hätte ich auch das Dach abdecken lassen, um seinen Flügel irgendwie in dieses Haus zu bekommen.

Michael und ich hatten lange über die Form unseres Zusammenlebens nachgedacht. Und ich konnte es gut verstehen, dass ihm die Entscheidung zu mir zu ziehen schwerfiel. In mein Haus. In die vier Wände, die ich verputzt und gestrichen hatte. Eingerichtet mit Möbeln, die ich ausgesucht hatte. Mir bedeutete mein Heim viel, ich wollte es nicht aufgeben. Im Winter 2002 hatte ich es meiner mittlerweile verstorbenen Tante abgekauft. Das Haus war alt und renovierungsbedürftig. Einige Monate davor hatte ich, nach meinem Studium in Fulda, eine Anstellung als betriebliche Sozialberaterin in einem großen Stuttgarter Unternehmen gefunden. Damit war klar, dass ich wieder in meine alte Heimat, das Schwabenland, ziehen würde. Das Haus meiner Tante bot sich geradezu an.

Ich hatte damals kein Geld, doch viele Freunde, die mithalfen, Decken einzuziehen, Fenster und Türen einzubauen und wild wuchernde Bäume im Garten zu fällen.

Es ist keineswegs das perfekte schwäbische Haus entstanden, aber ein gemütliches und individuelles Zuhause mit vielen Erinnerungen an früher.

Das zweite Obergeschoss war bisher nicht bewohnt. Ich hatte die Tür nach oben einfach zugeschlossen, bis Michael einzog. Daran denke ich, während ich an meinem Geburtstag auf dem Sofa liege.

»Am Montag musst du unbedingt in die Klinik fahren! Ich verstehe die Frauenärztin nicht. Du brauchst doch Wehenhemmer! In so einem Fall geht man doch auf Nummer sicher!« Meine Freundin Moni, die mit einem Gläschen Sekt neben mir sitzt, ist empört. Sie ist Ärztin und fühlt sich für mich verantwortlich. Moni war schon immer diejenige von uns, die man als Erste um Rat fragte und die auch gerne einen solchen erteilte. Früher ging es hauptsächlich um Liebesthemen: Konnte man sich bei seinem Schwarm schon telefonisch melden, oder sollte man doch lieber warten, bis er anrief? Stellte die Ex von ihm noch eine Gefahr dar? Gab es noch eine Chance, den Herzensbrecher zurückzugewinnen? Moni wusste immer, was zu tun war, und schien stets fest von dem überzeugt, was sie sagte.

»Ich würde mich einfach nicht mehr vom Sofa wegbewegen! Ist doch toll, du kannst lesen, fernsehen und dich versorgen lassen! Was gibt es Schöneres? Ich kapiere nicht, dass du trotzdem noch so viel herumläufst!« Claudi sitzt mit ihrem Milchkaffee in der Hand in meinem »Sorgensitz«, einem roten Schaukelsessel, und wippt neben uns gemütlich hin und her. Der Sessel ist mein Lieblingsplatz hier im Haus. Auf ihm kann man sich so herrlich Sorgen machen, während man in meinen kleinen, bunt bepflanzten Garten blickt. Es ist nichts Neues, dass Claudi mich nicht versteht. Das Leben zu meistern gleicht bei ihr der Lösung mathematischer Aufgaben: Hat man Bauchschmerzen, legt man sich hin. Vom Joggen kriegt man Muskelkater, also lässt man es besser sein. Will man später genügend Geld zur Verfügung haben, muss man eben einen gut bezahlten Beruf erlernen oder einen reichen Mann heiraten. Oder beides. Für sie folgt das Leben einer Art Rechenaufgabe. Zählt man die Zahlen richtig zusammen, kommt am Ende auch das korrekte Ergebnis heraus.

Ich habe Mathematik allerdings schon immer gehasst. Bei mir ging die Rechnung zum Schluss nie auf. Ohne Claudis Nachhilfe hätte ich im Mathe-Abitur gnadenlos versagt. Dabei ist es keineswegs so, dass ich nicht kalkulieren oder planen könnte. Oder überhaupt nicht daran interessiert wäre, exakte Lösungen herauszufinden. Ganz im Gegenteil! Ich habe sehr wohl den Anspruch an mein Leben, es solle bitteschön eine Erfolgsgeschichte sein. Keine mit großem Brimborium oder Trara, aber eine mit großen Gefühlen. Und mit Happyend.

Doch vielleicht wähle ich in meinem Leben öfter die komplexen Aufgaben aus. Die mit den vielen Unbekannten. Davon würde meine Freundin Claudi von vornherein die Finger lassen.

Wie hübsch meine beiden Freundinnen aussehen, denke ich. Die eine blond, die andere dunkelbraun. Ich sitze mit meinem Kupferhaar dazwischen. Schwarz, Rot, Gold. Das sind wir. Wir drei Frauen, die wir fast unser ganzes Leben zusammen verbracht haben. Mit Moni habe ich schon im Kindergarten gemeinsam Laternen gebastelt, Claudi habe ich auf dem Gymnasium kennengelernt.

So verschieden unsere Haarfarben sind, so unterschiedlich sind auch unsere Lebensgeschichten. Claudi hat nach dem Abitur Betriebswirtschaft studiert und arbeitet nun schon seit Jahren im Controlling eines weltbekannten Bekleidungsunternehmens. Wir alle profitieren davon und tragen seither Klamotten, die wir uns sonst nicht leisten könnten. Jacken, Hosen, Röcke – häufig günstige Mitarbeitereinkäufe, die Claudi gerne an uns verteilt. Mode ist wahrscheinlich eines der Themen, die uns drei gleichermaßen interessieren. Wobei dieses Thema in letzter Zeit in den Hintergrund rückt, weil wir uns hauptsächlich mit der menschlichen Fortpflanzung beschäftigten. Claudis kleine Tochter Lilly ist mittlerweile fast drei Jahre alt und mein sogenanntes Patenkind. Sie ist zwar nicht getauft, aber falls Claudi und ihrem Mann etwas passiert, ist klar, dass ich für Lilly sorgen werde. So haben wir es vereinbart.

Claudis Schwangerschaft lief nicht ganz nach Plan, obwohl die fruchtbaren Tage und der Moment des Eisprungs vorher genau berechnet wurden. Sie wurde von einer so heftigen und nicht vorhersehbaren Übelkeit begleitet, dass sie zehn Kilo abnahm, statt Pfunde zuzulegen. Ihre...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2016
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Autobiografie • Autobiographie • Behinderung • Bewusstes Leben • Biografie • Biographie • Entschleunigung • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Erinnerung • Erkrankung • Erziehung • Familie • Gedanken • Hilfe • Kind mit Behinderung • Krankheit • Leben • Lebensaufgabe • Lebensführung • Lebensweg • Liebe • Muttergefühle • Mutterschaft • Mutter sein • Perfektes Leben • Psychologie • Schicksal • Schicksalsschlag • Schicksalsschläge • Schwere Behinderung • Verbindung • Wahre GEschichte
ISBN-10 3-7325-2373-X / 373252373X
ISBN-13 978-3-7325-2373-3 / 9783732523733
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Ohne DRM)

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman | Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023

von Caroline Wahl

eBook Download (2023)
DuMont Buchverlag
10,99
Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt - Mit einem …

von Herbert Renz-Polster

eBook Download (2012)
Kösel (Verlag)
15,99