Der schnellste Kreisverkehr der Welt -  Johannes Mittermeier

Der schnellste Kreisverkehr der Welt (eBook)

Rennen + Menschen + Geschichten 1996 - 2016
eBook Download: EPUB
2017 | 4. Auflage
208 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-3305-0 (ISBN)
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Worum es in diesem Buch nicht geht, ist ungefähr Folgendes: Doppeldiffusoren, Motormappings und Rundentabellen. Hier liegt kein Almanach mit Anspruch auf Vollständigkeit, dafür eine lose Kompilation von Vergangenem, das bewegte - im mehrdeutigen Sinn. Autos wurden bewegt, was wiederum Menschen bewegte. Früher war alles besser? Nicht doch. Aber manches schon. In den 90er und 00er Jahren. Rennen, ob legendär oder kontrovers oder beides. Figuren, die Geschichten schrieben. Und Geschichten, die dann erzählt werden. Oder auch: Faszination Formel 1.

Johannes Mittermeier, Jahrgang 1990, pflegt ein ambivalentes Verhältnis zu Autos, die ihn abseits des sonntäglichen 14-Uhr-Termins in etwa so begeistern wie Kostensenkungen die Formel 1. Also ungemein. Wird jedoch seit Ende der 90er ganz hibbelig, wenn sich Menschen das Visier herunterklappen, um herauszufinden, wer am schnellsten im Kreis fährt. Arbeitete unter anderem für Spox, Eurosport, 11 Freunde, Focus Online, 1&1, schrieb zwischendurch ein Buch über den FC Bayern und landete folglich beim: FC Bayern. Wenigstens temporär. Alles begann im Auftrag von Inside Racing und Formel-Woche, was dem, nun ja, trockenen Studium einen Sinn gab.

MIKA HÄKKINEN


KÜHLES BLONDES


Von Mika Häkkinen ist nicht bekannt, dass er ein Band zu Winston Churchill unterhalten würde. Aber den Aphorismus von Blut, Schweiß und Tränen haben der britische Politiker und der finnische Rennfahrer gemein, wenngleich natürlich auf solch widersinnige Weise, dass die Einordnung nicht konträrer sein könnte.

Häkkinen hält die Reihenfolge aufrecht. Blut in Adelaide, dann Schweiß, dann Tränen.

Beginnen wir mit dem Schweiß, wobei sich die Tröpfchen eher bei anderen bilden. So sagt Michael Schumacher, der erfolgreichste Formel-1-Pilot der Geschichte, in Bild auf die Frage nach seinem größten Herausforderer, also dem Schweißperlen-Produzenten: „Ich hatte ja einige Rivalen, aber es gibt keinen, vor dem ich so viel Respekt auf und neben der Strecke hatte wie Mika.“

Eher neben als auf der Strecke ist Mika mal in Monza, das ist der Moment, der ihn zu einem Tränenanfall rührt. Als Häkkinen vergebens gegen den Schwall der Emotionen ankämpft, kauert er im königlichen Park, hat das Gesicht tief zwischen die Knie gegraben und weiß nicht, dass ihn Millionen Fernsehzuschauer live aus der Helikopterperspektive beobachten. Jede Zuckung, jedes Wimmern, jeden innerlichen Ausbruch. Womöglich denkt Häkkinen, als er da hockt, nicht nur an seinen Schaltfehler, „der mir in 10.000 Testkilometern nicht passiert“, sondern auch an seinen Vater, der ihm in Frustsituationen schon als Knirps dieses doziert: „Geh in den Wald und tritt gegen ein paar Bäume, um deinen Ärger loszuwerden!“ Der Filius horcht und gehorcht. Wenn es beim Kartfahren nicht gut gelaufen ist, marschiert er hinaus zu den Fichten und Tannen, doch auch das entpuppt sich als kompliziert. „Eine Zeit lang gab es nicht genügend Wälder“, schmunzelt Häkkinen, „aber am Ende wurde mir klar, dass mein Vater Recht hatte: Es bringt nichts, sich aufzuregen.“

Die Häkkinens stammen aus Vantaa, einem Vorort von Helsinki. Vater Harri ist Kurzwellenfunker und Gelegenheits-Taxifahrer, Mutter Aila arbeitet als Sekretärin, Mika hat eine Schwester, Nina. Dass der Sohnemann mit 33 Lenzen, nach 161 Rennen, 20 Siegen und 26 Pole Positions eine Formel-1-Pause antritt, die er nie beendet, ist in den frühen Jahren nicht zu erahnen. Vor allem nicht am Abend des 10. November 1995. Das ist im Übrigen der grausige Part am Dreiklang; der mit dem Blut.

Letztes Rennen der Saison, Qualifying zum Grand Prix von Australien in Adelaide. Die PS-Süchtigen ächzen noch unter dem Schock der tödlichen Unfälle von Roland Ratzenberger und Ayrton Senna aus dem Frühling 1994, als am Häkkinen-McLaren bei 200 Stundenkilometern ein Reifen platzt. Ohne Vorwarnung. Es ist auch das letzte Rennen vor Einführung der hochgezogenen Cockpitwände, Häkkinens Kopf ist der verwundbarste, weil angreifbarste Punkt, viel fragiler als heute, da Debatten über Kanzeln und Hauben gewälzt werden.

Beim Aufprall wird sein Kopf auf das Lenkrad geschleudert. Es zerbricht wie Häkkinens Schädeldecke.

Aus Mikas Mund fließt Blut, seine Augen sind geöffnet, aber regungslos. Als sich das Gesicht wegen Sauerstoffmangels bläulich verfärbt, entschließt sich Professor Sid Watkins zu einem Luftröhrenschnitt. Der Fakt, dass dies unmittelbar an der Strecke geschieht, nicht im Krankenhaus, verdeutlicht den Ernst der Lage. Ohne Watkins‘ Eingreifen wäre Häkkinen jämmerlich erstickt.

Zehn Tage liegt er im Koma, und als er aufwacht, ist alles anders. Sky Sports verrät er Jahre darauf das Arsenal der Beeinträchtigungen: „Geruchsinn, Geschmacksinn, Gehör, Sehen waren betroffen. Ich stand ständig unter Schmerzmitteln und hatte unglaubliches Kopfweh. Ich wollte einfach wieder gehen, sprechen, schlafen können. Das hat mir gezeigt, wie zerbrechlich das Leben ist.“ Nach dem Einschlag redet Häkkinen langsamer, auf einem Ohr hört er sehr viel schlechter.

Der horrende Crash an einer Stelle, an der inzwischen eine Straße nach ihm benannt ist, lehrt den 27-Jährigen eine weise Erkenntnis. Häkkinen, ein ebenso talentierter wie ungeduldiger Pilot, der den WM-Titel gleich im Debütjahr 1991 erringen will, merkt nun, dass er „erst gehen und dann rennen“ muss. Im übertragenen Sinn. Die Relationen verschieben sich, die Prioritäten sowieso. Was nicht bedeutet, dass sich der Mann, der die Motorsport-Annalen als „Flying Finn“ schmücken wird, zum gemütlichen Sonntagsfahrer entwickelt, ganz gewiss nicht: „Nach dem Unfall war der Traum, Weltmeister zu werden, stärker als jemals zuvor!“

Gewinnen, das ist eine Ersatzdroge, die Häkkinen wie ein Junkie konsumieren will. Mit fünf sitzt er im Kart, danach dominiert er sämtliche Meisterschaften, 1989 steigt er in die britische Formel 3 auf, 1990 ist er Champion. In Macao liefert er sich ein famoses Duell mit diesem Deutschen, Schumacher heißt er, die Wagen kollidieren. Mikas Laufbahn vermeidet Dellen, die Formel 1 ruft, Debüt bei Lotus. Toller Name. Trostlose Gegenwart. Häkkinen landet ein paar Achtungserfolge. Die ihm nicht genügen. Weil er zu spüren glaubt, dass er mehr kann.

Also befiehlt Manager Keke Rosberg, Landsmann und Ex-Weltmeister: ab zu McLaren. Doch der Rennstall aus Woking, der seit 1984 sechs Konstrukteurs- und sieben Fahrer-Titel eingeheimst hat, darbt 1993 nach dem Honda-Rückzug dahin. Und Häkkinen ist ja nicht einmal Stammfahrer, er sitzt auf der Reservebank hinter dem bereits ikonischen Senna und US-Cart-Meister Michael Andretti. „Zu meiner Überraschung verzichtete Senna gerne auf Testfahrten, solange nicht wirklich etwas Neues auszuprobieren war. Also wohnte ich fast schon auf der Strecke in Silverstone“, erklärt Häkkinen.

Als der enttäuschende Andretti gefeuert wird (übrigens vom markant kompromisslosen Ron Dennis), darf Häkkinen ran. Drei Rennen vor Saisonende, mit herzlich wenig Zeit, um Dennis zu beeindrucken. Dann halt so: Im ersten Qualifying ist das Nordlicht prompt schneller als Senna. Boss Dennis zieht eine Augenbraue hoch.

1994, nach dem Senna-Abgang, als Teamleader: jetzt aber. Denkste. 1995, mit Mercedes-Power: Zweiter in Italien und Japan. Aber wieder kein Sieg. Immer noch kein einziger Sieg. Es wird Zeit für Häkkinen. Stattdessen kommt: Adelaide.

Freundin Erja Honkanen, eine TV-Journalisten, hat er auf einer Party kennengelernt. Bis zum fatalen Unfall halten sie ihre Beziehung geheim, im Winter 1995/96 gibt sie eigens ihren Job auf, um Mika gesund zu pflegen. Es ist auch die Zeit, in der Dennis vom autoritären Chef zur Vaterfigur wird. Der sanfte Finne und der ruppige Engländer wachsen zusammen, vielleicht, weil sich Dennis mitverantwortlich fühlt. Drei Monate nach Adelaide beobachtet Dennis, wie Häkkinen wieder ins Auto steigt - und schneller ist als gedacht. Als er beim 96er Saisonauftakt in Melbourne gleich Fünfter wird, tosen die Glückwünsche herab wie ein Sturzbach. Häkkinen wehrt sie ab: „Fünfter Platz, das soll gut sein? Das ist gar nichts! Ich bin hergekommen, um zu gewinnen.“

Stimmt, da war ja noch was: die Sache mit dem Sieg.

Irgendjemand verfügt, dass es noch dauern soll, und dass die Geschichte des Helden noch nicht ausreichend tiefe Talsohlen gekratzt hat. Es ist Häkkinen nicht zwingend anzumerken, aber eigentlich stellt er sich durchaus dickfällig auf in dieser Branche voller Egozentriker. Er repräsentiert keinen dieser breitschultrigen Testosteron-Bolzen in Rennmaschinen, sein blasser Teint, das gescheitelte blonde Haar, der schüchterne Blick lassen ihn in einer devoten Schutzhaltung und dort wie einen Chorknaben aussehen. Aber Häkkinen ist schnell. Äußerst schnell. „Phantastisch schnell“, korrigiert Dennis mit bösem Blick. Sorry, Mister.

Und trotzdem scheint es nichts zu werden mit güldenen Lorbeerkränzen. Teamkollege David Coulthard gelingt beim GP Australien 1997 der Premierensieg der Silberpfeil-Ära, während Häkkinen, von Zweifeln geplagt, sogar seinen Fahrstil hinterfragt. In Silverstone, Spielberg und am Nürburgring ist die Erlösung so nah und doch so fern, die Technik als Schicksalsmacht. „Es ist hart, wenn du nicht das erreichst, was du erreichen willst“, bekennt der Skandinavier, ehe er im Wald die Bäume malträtiert. Vermutlich.

SAISON 1998

Mika Häkkinen   100

McLaren

Michael Schumacher   86

Ferrari

David Coulthard   56

McLaren

McLaren   156

Ferrari   133

Williams   38

Ein paar andere Sätze erzählen bald von einem, der die Ballaststoffe einfach an den Fichten und Tannen abschüttelt. „Ich habe an McLaren geglaubt wie an mein eigenes Talent“, sagt Häkkinen, und, zur generellen Gesinnung: „Wir Finnen sind eben Optimisten. Was bleibt uns in einem Land, in dem es im Winter selbst tagsüber kaum hell wird, auch anderes übrig?“

Schön ist die Bildersprache: Beim Finale 1997 markiert Champagner ein Ende der Durststrecke. In Jerez erbt Häkkinen einen „geschenkten“ Sieg, da ihn das Team an Coulthard vorbeilotst und Williams-Pilot Jacques Villeneuve - dessen Wagen...

Erscheint lt. Verlag 9.1.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Sachbuch/Ratgeber Sport
ISBN-10 3-7412-3305-6 / 3741233056
ISBN-13 978-3-7412-3305-0 / 9783741233050
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