Europa ja - aber welches? (eBook)

Zur Verfassung der europäischen Demokratie

(Autor)

eBook Download: PDF | EPUB
2016 | 1. Auflage
289 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-68870-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europa ja - aber welches? -  Dieter Grimm
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Die Europäische Union hat keinen Mangel an Kritik und Akzeptanzproblemen - doch die Ursachen werden häufig an der falschen Stelle gesucht. Während viele hoffen, dass sich durch eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments das Demokratiedefizit der Union beheben lässt, zeigt Dieter Grimm, warum diese Hoffnung trügt. In grundsätzlichen Erörterungen und Einzelstudien zeigt Grimm, einer der renommiertesten deutschen Rechtswissenschaftler, dass eine Ursache für die starken Akzeptanzprobleme meist übersehen wird, nämlich die Verselbständigung der exekutiven und judikativen Organe der EU (Kommission und Europäischer Gerichtshof) von den demokratischen Prozessen in den Mitgliedstaaten und der EU selbst, die ihre Wurzel wiederum in der vom Gerichtshof vorgenommenen 'Konstitutionalisierung der Verträge' hat. Er geht den Ursachen für diese problematische Entwicklung nach und bietet Vorschläge zu ihrer Korrektur an.

Dieter Grimm ist Professor em. Für Öffentliches Recht an der Humboldt- Universität zu Berlin. Von 1987 bis 1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts und von 2001 bis 2007 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Bei C.H.Beck ist von ihm zuletzt erschienen: Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen (2001).

Dieter Grimm ist Professor em. Für Öffentliches Recht an der Humboldt- Universität zu Berlin. Von 1987 bis 1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts und von 2001 bis 2007 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Bei C.H.Beck ist von ihm zuletzt erschienen: Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen (2001).

II.
Auf der Suche nach Akzeptanz
Über Legitimationsdefizite und Legitimationsressourcen der Europäischen Union


Dass die Europäische Union an mangelnder Akzeptanz bei den Unionsbürgern leidet, wird nicht bestritten. Ebenso wenig wird bestritten, dass die Akzeptanzschwäche das Integrationsprojekt gefährdet. Weniger klar ist, worin der Grund der Schwäche liegt und wie sie sich beheben ließe, wenn man annimmt, dass es für die Integration gute Gründe gibt. In den Anfängen der europäischen Integration bestand daran kein Zweifel. Die Zustimmung war hoch. Das legt die Frage nahe, warum das so war und wie es zum Verlust gekommen ist.

Zur Beantwortung des ersten Teils der Frage muss man an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Nach den Leiden dieses Krieges, die Besiegte und Sieger gleichermaßen trafen, war die Bereitschaft, der Kriegsgefahr wirksamer zu begegnen als nach dem Ersten Weltkrieg, groß. Für diejenigen Generationen, die noch eine lebhafte Erinnerung an den Krieg haben, besteht die wichtigste Errungenschaft der europäischen Integration in der Verhütung eines erneuten Kriegs zwischen den europäischen Staaten.

Doch scheint diese Leistung im Lauf der Zeit verblasst zu sein. Der Friede verknüpft sich nicht symbolträchtig mit der Europäischen Union. Dafür ist der Abstand zwischen dem Kriegsende und der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu groß, und dafür sind die Anfänge mit einer Zollunion zu prosaisch. Die Erfahrung der heutigen Generationen ist ein unkriegerisches Europa, und auch wenn man die EU wegdenkt, droht kein Krieg zwischen ihren Mitgliedstaaten. Der Friede ist von einer Errungenschaft zu einer Gegebenheit geworden.

Für Deutschland gab es noch einen speziellen Grund, die Integration zu bejahen. Nach dem tiefen Fall durch die nationalsozialistische Herrschaft führte die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Völker nur über die europäische Integration, während diese für Frankreich ein Mittel bildete, ein wiedererstarkendes Deutschland unter Kontrolle zu bringen, wirtschaftlich durch die Vergemeinschaftung der kriegswichtigen Kohle- und Stahlindustrie in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), militärisch durch die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), politisch durch die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG). Davon kam nur die wirtschaftliche Vereinigung zustande, während die militärische und politische auf der Strecke blieb, weil es in Frankreich dafür keine Mehrheit mehr gab.

Auch diese Anfangsgründe sind aber mittlerweile verblasst. Die Gründungsmotive haben sich für Deutschland wie für seine Kriegsgegner erschöpft. Deutschland ist wieder ein geachtetes Mitglied der Staatengemeinschaft und zugleich eng in diese eingegliedert. Es wird nicht mehr als friedensbedrohend wahrgenommen. Die EU hat sich erweitert. Zweiundzwanzig europäische Staaten sind mittlerweile aus ganz anderen Gründen der EU beigetreten.

Wenn man die anfängliche Europa-Euphorie mit der heutigen Europa-Lethargie vergleicht, muss dies in Erinnerung behalten werden. Die anfängliche Begeisterung war zum erheblichen Teil situationsbedingt, aber die Situation ist nicht mehr dieselbe. Was von den großen Plänen übrig blieb, war der Gemeinsame Markt, kein geeignetes Objekt für Begeisterung, aber auch nicht für Ablehnung, weil die wirtschaftliche Integration sich unpolitisch gab und zum Wohlstand beitrug. Der Gemeinsame Markt legitimierte sich durch seinen Nutzen.

Dies ist die eine Seite des Entfremdungsprozesses zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Bürgern. Sie gewann aber erst durch eine andere, von der Europäischen Gemeinschaft selbst aufgeschlagene Seite Bedeutung. Unter dem Deckmantel der wirtschaftlichen Integration vollzogen sich Veränderungen, die die Herstellung und Sicherung des Gemeinsamen Marktes überschritten, aber öffentlich nicht wahrgenommen, geschweige denn zum Gegenstand einer politischen Debatte gemacht wurden.

Es war der Maastricht-Vertrag von 1992, der den Deckmantel von der Entwicklung wegzog und die Bürger der Mitgliedstaaten mit einem Integrationsgrad konfrontierte, zu dem sie nicht um ihre Meinung gefragt worden waren. Dasjenige Europa, welches der Maastricht-Vertrag sichern und fortentwickeln sollte, war nicht das Europa, auf welches sich die Akzeptanz der Bürger bezogen hatte. Europäische Integration und europäisches Bewusstsein waren außer Tritt geraten.

Was die Integration betrifft, bildete der Maastricht-Vertrag einen erheblichen Schritt vorwärts, was die Akzeptanz betrifft, einen Schritt zurück. Er markiert den Wendepunkt in der Einstellung der Öffentlichkeit zum europäischen Projekt. Mit ihm begann die Akzeptanzschwäche der EU. Auf längere Sicht hat er zur Ausbreitung antieuropäischer Parteien geführt, die mittlerweile ins Europäische Parlament vorgedrungen sind und derer sich die proeuropäischen Fraktionen nun durch Bildung einer großen Koalition erwehren müssen.

Reaktionen darauf gibt es seit langem. Die EU verwendet viel Geld für die Erzeugung einer europäischen Identität von oben, jedoch ohne spürbaren Erfolg. Die Schaffung einer europäischen Verfassung war ein anderer Anlauf, die EU den Unionsbürgern näherzubringen. Nur daraus erklärt sich der Versuch. Alle Reformen, die wegen der gewachsenen Zahl der Mitgliedstaaten und der veränderten Rolle Europas in der Welt nach 1989 nötig erschienen, wären durch Vertragsänderungen erreichbar gewesen.

Dass es diesmal nicht ein verbesserter Vertrag, sondern eine Verfassung sein sollte, hat in der Legitimationsschwäche der EU seinen Grund. Von einer Verfassung wurde eine stärkere Bindung der Unionsbürger an die EU erhofft. Auch das ist fehlgeschlagen. Die Verfassung sah nach mehr Europa aus, während schon das bestehende vielen zu weit ging. Dort, wo die Annahme des Verfassungsvertrages von Referenden abhing, fiel er durch.

Der Verfassungsgedanke wird in naher Zukunft nicht wieder belebt werden. Heute werden institutionelle Reformen bevorzugt, die auf Stärkung der Repräsentation der Unionsbürger setzen. Zu diesem Zweck soll das Europäische Parlament mit denjenigen Befugnissen ausgestattet werden, die nationale Parlamente üblicherweise haben. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass eine Vollparlamentarisierung der EU die Legitimationsschwäche behebt, weil dann statt der Regierungen der Nationalstaaten die gewählten Volksvertreter ins Zentrum der EU rücken.

Die Hoffnung würde sich freilich nur erfüllen, wenn der Kompetenzmangel des Europäischen Parlaments die Ursache des Legitimationsdefizits wäre. Das versteht sich indes keineswegs von selbst. Der Anschein spricht vielmehr dagegen. Je mehr Kompetenzen das Europäische Parlament erlangte, desto geringer wurde die Wahlbeteiligung. Besonders gering ist sie in den neuen Mitgliedstaaten, deren sehnlichster Wunsch die Zugehörigkeit zur EU noch vor kurzem war.

Auch das hat mehrere Gründe. Ein besonders wichtiger liegt in der schwachen Repräsentativität des Europäischen Parlaments. Das hängt wiederum mit dem Wahlsystem zusammen. Die europäischen Wahlen sind nicht europäisiert. Gewählt wird nach nationalem Wahlrecht und für nationale Kontingente, die jedoch nicht der Bevölkerungsstärke der Mitgliedstaaten entsprechen. Es kandidieren nationale Parteien, die mit nationalen Themen Wahlkampf machen. Das Wahlergebnis wird vorwiegend unter nationalen Gesichtspunkten gewürdigt.

Infolgedessen bleibt die Legitimationszufuhr durch Wahlen relativ gering, weil der Zusammenhang zwischen Wahlentscheidung und europäischer Politik gering ist. Zum einen ist das zentrale Organ der EU, der Rat, von den europäischen Wahlen unabhängig. Zum anderen wird der Legitimationsstrom durch das Wahlsystem gewissermaßen abgeknickt. Die Unionsbürger können nur die nationalen Parteien wählen, die als solche im Europäischen Parlament aber gar nicht in Erscheinung treten, sondern in den europäischen Fraktionen aufgehen, die ihrerseits nicht in der Gesellschaft verwurzelt sind.

Deswegen können die Parteien auch nicht glaubhaft versprechen, dass diejenigen Ziele, für welche sie im Wahlkampf eintreten, später im Europäischen Parlament zur Geltung kommen. Die Parteien, die man wählen kann, bestimmen nicht den Parlamentsbetrieb. Die Parteien, die den Parlamentsbetrieb bestimmen, kann man nicht wählen. Zu einer Europäisierung der nationalen Programme kommt es erst nach der Wahl. Eine bessere Kompetenzausstattung des Europäischen Parlaments würde daran nichts ändern.

Aber gesetzt den Fall, die Europawahl würde europäisiert und die EU in ein parlamentarisches Regierungssystem umgewandelt: Wäre damit das Legitimationsproblem behoben? Auch daran bestehen Zweifel. Trotz ihrer Kompetenzfülle und Funktion als Schaltstelle zwischen Gesellschaft und politischem System stehen die Parlamente allenthalben unter Druck. Die zunehmende Verwissenschaftlichung und Internationalisierung der Politik spielt den Regierungen in die Hände, während die Parlamente an Gunst im Publikum verlieren. Es ist unwahrscheinlich, dass gerade das Europäische Parlament davon verschont bliebe.

Es gibt aber auch einen europaspezifischen Grund. Er liegt in der...

Erscheint lt. Verlag 25.2.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte Akzeptanz • Demokratie • Demokratiedefizit • EU • Europa • Europäische Union • Gerichtshof • Kommission • Konstitutionalisierung • Kritik • Parlament • Politik • Ursachen
ISBN-10 3-406-68870-5 / 3406688705
ISBN-13 978-3-406-68870-6 / 9783406688706
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