Der verpasste Frühling (eBook)

Woran die Arabellion gescheitert ist

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
248 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-321-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der verpasste Frühling - Julia Gerlach
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
2011 schien in der arabischen Welt eine neue, demokratische Zeit anzubrechen. Der ägyptische Aufstand gegen Mubarak auf dem Kairoer Tahrir-Platz war dafür ein besonders starkes Signal. Heute sitzen viele der damaligen Aktivisten im Gefängnis, alte und neue Diktatoren sind an der Macht, Millionen Menschen fliehen vor Bürgerkrieg, Hoffnungslosigkeit und den Mördern des sogenannten Islamischen Staates.
Julia Gerlach hat Aktivisten der Revolution, Islamisten, Politiker und ganz normale Menschen in der Region über Jahre begleitet und befragt. So gelingt ihr eine ebenso persönliche wie informative Beschreibung der Ereignisse, die zum Scheitern der hoffnungsvollen Anfänge führten. Ein spannender, differenzierter Einblick in die jüngste arabische Geschichte, die uns mehr denn je betrifft.

Jahrgang 1969, Politik- und Islamwissenschaftlerin. 2008-2015 berichtete sie als Korrespondentin für Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau und Focus aus Kairo über die Arabische Welt. Autorin mehrerer Sachbücher zur aktuellen Entwicklung in der Region, zur Jugendkultur und zum Islam in Deutschland, u.a . "Zwischen Pop und Dschihad -Muslimische Jugendliche in Deutschland" (Ch. Links Verlag, 2006) und "Wir wollen Freiheit - Der Aufstand der Arabischen Jugend" (Herder-Verlag, 2011).

Einleitung


Die Brandung knallt an die Hafenmauer von Tripolis. Die ersten Herbststürme toben auf dem Mittelmeer. »Heute habe ich kaum Kundschaft«, sagt Hosni al-Orfali und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Gott sei Dank!« Mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenen Schultern schaut er auf den Hafen hinaus: »Hoffentlich sehen auch die Flüchtlinge ein, dass man bei diesem Wetter besser nicht rausfährt.« Der 23-jährige muskulöse Mann im Strickpulli betreibt ein Geschäft für Bootszubehör am Hafen der libyschen Hauptstadt. Er verkauft Schwimmwesten, GPS und alles, was man sonst so braucht, wenn man sich in einem kleinen Boot aufs Meer hinaus begibt, um am anderen Ufer ein neues Leben zu beginnen. »Ich kann die Menschen verstehen. Das sind doch arme Schlucker. Sie kommen aus Ländern, in denen Krieg herrscht und sie keine Zukunft haben. Sie träumen davon, dass es ihnen dort drüben besser geht«, er zeigt Richtung Horizont. Riesige Wellen brechen sich an der Hafeneinfahrt.

»Hundewetter!«, schimpft ein Mann um die 40, der mit hochgeklapptem Kragen ins Geschäft kommt. Abdullah heißt er, seinen Nachnamen will er nicht verraten. »Sogar heute schleichen da unten an der Mole so ein paar arme Gestalten herum«, berichtet er: »Mir wird ganz schlecht, wenn ich diese armen Wichte sehe. 90 Prozent von denen, die jetzt losfahren, werden sterben. Das habe ich im Gefühl«. Warum er sich so gut auskennt, will er lieber nicht sagen. »Ich bin Seemann, nein, nicht Schlepper, Seemann!«

Der kleine Laden von Hosni al-Orfali liegt in unmittelbarer Nähe des großen Platzes im Zentrum von Tripolis. Bis 2011 hieß er Grüner Platz. Hier hielt Staatschef Muammar al-Gaddafi seine Reden. Nach seinem Sturz wurde der Platz in Märtyrerplatz umbenannt. Tagelang feierten die Menschen ausgelassen ihre neugewonnene Freiheit. Wie lange scheint das her! Heute droht Libyen zu zerfallen, Milizen kämpfen gegeneinander und Libyen gilt aus europäischer Sicht als Problemfall: Hier hat der sogenannte Islamische Staat (IS) eine starke Basis, und – was Europa noch mehr Sorgen bereitet – das Land mit seinen unbewachten Grenzen hat sich zum Eldorado für Schlepper, zum Durchgangsland Nummer eins für Bootsflüchtlinge nach Europa entwickelt. Sie kommen aus vielen Ländern, doch die meisten sind Syrer oder stammen aus anderen arabischen Ländern. Auch in ihrer Heimat schlug das, was als hoffnungsvolle Revolution begonnen hat, in einen blutigen Kampf um.

Dies ist aber kein Buch über Flüchtlinge im eigentlichen Sinne. Es geht weder um Fluchtrouten noch darum, wie die Menschen sich in Europa integrieren können. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Entwicklung in der arabischen Welt in den vergangenen fünf Jahren. Wie kam es dazu, dass auf den Arabischen Frühling direkt ein eisiger Winter folgte? Warum sind inzwischen Millionen Menschen aus der Region so verzweifelt, dass sie alles hinter sich lassen und sich auf die Flucht begeben? Wie konnte Libyen so aus den Fugen geraten, dass es zum größten Transitland für Flüchtlinge geworden ist?

»Wir wussten von Anfang an, dass es schwierig werden würde, die Diktaturen in der arabischen Welt zu stürzen, aber dass es so schwierig werden und solche Auswirkungen haben würde, haben wir natürlich nicht gedacht«, sagt Amal Scharaf. Mit nervös flatternden Händen und gehetztem Blick sitzt sie auf der Kante ihres Stuhls und schaut sich immer wieder ängstlich um, mustert die Gäste an den Nachbartischen des Cafés. Amal Scharaf ist eine der bekanntesten Aktivistinnen des Aufstands gegen den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. Im Januar 2011 war die zierliche Frau mit den langen rötlichen Haaren ständig auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die alleinerziehende Englischlehrerin brachte die Forderungen der Demonstranten auf den Punkt: ein gerechteres, freieres und demokratischeres Land, in dem alle in Würde leben können. Nicht mehr und auch nicht weniger. In kürzester Zeit gelang es, im Frühjahr 2011 Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen und den Start in eine neue Gesellschaft zu wagen.

Der gelungene Aufstand gegen den tunesischen Langzeitpräsidenten Zine Abdine Ben Ali inspirierte Aktivisten in der ganzen Region, und nachdem im Februar 2011 der ägyptische Präsident Hosni Mubarak abgesetzt worden war, gab es kein Halten mehr. Auch in Libyen, Bahrain, Jemen und vielen anderen Ländern demonstrierten die Massen. In jenem Frühling sah es tatsächlich so aus, als wäre die Diktatur in der arabischen Welt ein Auslaufmodell. Heute aber ist Amal Scharaf eine der wenigen in Ägypten, die noch immer die Fahne der Revolution hochhalten. Die Hoffnung auf Würde, Freiheit, Wohlstand und vielleicht auch Demokratie hat sich für Amal Scharaf und ihre Mitstreiter nicht erfüllt. Viele haben das Land verlassen oder sind im Gefängnis, und Amal Scharaf rechnet ständig damit, dass auch sie verhaftet wird. Kein Wunder, dass sie so nervös um sich blickt. In Ägypten regiert ein Präsident, der gnadenloser und brutaler gegen die Opposition vorgeht, als Hosni Mubarak es je getan hat. Auch sonst hat sich kaum etwas zum Besseren verändert. Die Wirtschaftskrise verschärft sich ständig, und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die alten Eliten haben nach wie vor das Sagen. Das gilt auch für den Rest der Region, und zu den vielen alten Problemen kommen nun noch Bürgerkrieg und Terror hinzu. In den Medien wurde das Bild der fröhlichen Demonstranten vom Tahrir-Platz, die »Salmia, salmia!« (Friedlich, friedlich!) skandierten und so den Panzern der Regierung entgegentraten, abgelöst von den vermummten Kriegern des Islamischen Staates (IS) in der Region, die auf Massaker und Köpfungen setzen, um ihre Ziele zu erreichen. Rückblickend scheint es unglaublich, fast schon naiv, dass es hier einmal die Hoffnung auf Demokratie und Freiheit gegeben hat. Oder gibt es sie vielleicht immer noch?

Die ägyptische Aktivistin Amal Scharaf und ihr Mitstreiter Amr Mahrus, 2015.

Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zunächst herauszufinden, weshalb die Arabellion von 2011 gescheitert ist und in keinem Land – mit Ausnahme von Tunesien vielleicht – der Weg in Richtung Demokratie eingeschlagen wurde. Was ist schiefgelaufen? Wie konnte es geschehen, dass die Chance, die sich 2011 auftat, so gründlich vertan wurde? Lag es an der Unfähigkeit der Aktivisten der Revolution, sich zu organisieren oder auch nur gemeinsame Ziele für den Neuanfang zu entwickeln? Lag es an der Machtgier der Islamisten und deren Unfähigkeit, ihre Strukturen und Ideologie zu erneuern, um den Herausforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden? War es der Einfluss von außen, die Politik der USA und Europas oder auch der einflussreichen Golfstaaten, der die Revolution auf Abwege brachte? Oder lag es daran, dass die alten Regime so stark und so gut verankert waren, dass sie Veränderungen zu verhindern wussten? Wer wäre besser geeignet, Antworten auf diese Frage zu finden, als die beteiligten Akteure selbst?

Sieben Jahre habe ich als Korrespondentin für verschiedene deutsche Medien aus der Region berichtet. In dieser Zeit konnte ich nicht nur erleben, wie es zum Arabischen Frühling kam, sondern habe auch viele Menschen kennengelernt, die mir ihre Sicht auf die Veränderungen schilderten. Ich habe viele von ihnen nicht nur einmal getroffen, sondern immer wieder um Interviews gebeten. Es sind Aktivisten der Revolution wie Amal Scharaf, die hier zu Wort kommen. Es sind aber auch Regierungsvertreter, Islamisten und ganz normale Bürger. Anhand der Erlebnisse ausgewählter wichtiger Gesprächspartner soll die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre nachgezeichnet und auf diese Weise verständlich werden, warum die Akteure bestimmte Entscheidungen getroffen haben. Wieso wählten 2011 mehr als 70 Pro- ­zent der Ägypter eine islamistische Partei? Wieso befürworten dann mindestens ebenso viele, dass 2013 die Militärs an die Macht zurückkamen, und halten es für richtig, dass Tausende Islamisten brutal getötet oder inhaftiert werden? Wieso haben viele ihre Meinung derart geändert und würden – hätten sie eine neue Chance – heute anders entscheiden und auch anders handeln? Die Selbstreflexion der Akteure in Kombination mit dem analytischen Draufblick von Intellektuellen und Wissenschaftlern soll die Dynamik der Entwicklung klar zum Vorschein bringen.

Ähnliche Interviewserien habe ich auch in den anderen Ländern des Arabischen Frühlings geführt: Lina Ben Mhenni aus Tunis, Abu Ahmed Yakobi aus Libyen, Maher Esber aus Syrien und Sarah Ishaq aus dem Jemen wurden für dieses Buch ausgewählt.

Der Arabische Frühling und sein – zumindest vorläufiges – Scheitern lässt sich nur verstehen, wenn man die Entwicklung in der ganzen Region betrachtet. Ägypten spielt dabei eine wichtige Rolle, weil das politisch einflussreiche und bevölkerungsreichste arabische Land für die Nachbarstaaten Vorbild ist und die Ereignisse dort schon immer auch den Fortgang der Entwicklung in der ganzen Region beeinflusst haben. Aber gerade jetzt gibt es Einflussnahme auch aus anderer Richtung. Nicht zuletzt benutzt die ägyptische Regierung den Bürgerkrieg in Syrien und den blutigen Kampf in Libyen als Drohung. Nach dem Motto: Wenn ihr nicht aufhört, gegen die Regierung zu protestieren, dann seid ihr selbst schuld, wenn auch Ägypten ins Chaos stürzt!

Zugleich gilt Ägypten aber auch als abschreckendes Beispiel. So hat das Vorgehen des ägyptischen Militärs gegen die Muslimbrüder im Sommer 2013 die tunesischen Islamisten von der Al-Nahda-Partei dazu gebracht, ihre Positionen zu überdenken und Kompromisse mit anderen politischen Kräften zu suchen. »Wir hatten berechtigte Angst, dass es auch bei uns eine Konterrevolution geben könnte, und haben deswegen der Bildung einer...

Erscheint lt. Verlag 22.1.2016
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Zusatzinfo 23 s/w-Abbildungen und 1 Karte/Tabelle
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ägypten • Arabellion • Islamischer Staat • Muhammad Husni Mubarak
ISBN-10 3-86284-321-1 / 3862843211
ISBN-13 978-3-86284-321-3 / 9783862843213
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99