Unabhängigkeit! (eBook)

Separatisten verändern die Welt

Marc Engelhardt (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
272 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-317-6 (ISBN)

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Unabhängigkeit! -
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Separatisten haben weltweit wachsenden Zulauf. Während viele etablierte Nationalstaaten Krieg, Terror und Vertreibung, aber auch wachsender Konzernmacht und sozialer Ungleichheit scheinbar machtlos gegenüberstehen, versprechen die Unabhängigkeitsbewegungen eine bessere, selbstbestimmte Zukunft. Ihre Visionen sind so unterschiedlich wie die Mittel, zu denen sie greifen: Die einen glauben an die Macht des Stimmzettels, andere kämpfen mit Waffengewalt für ihre Ziele. Gemeinsam sind sie dabei, die politische Weltkarte, wie wir sie kennen, zu verändern. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten von weltreporter.net berichten in ihren spannenden Reportagen von Unabhängigkeitsbewegungen überall auf der Welt: in Katalonien, Schottland und dem Osten der Ukraine, im türkischen und im irakischen Teil Kurdistans, im Südsudan oder im kanadischen Québec. Sie beschreiben, wie der Befreiungskampf palästinensische Familien spaltet, wie die Samen im hohen Norden Norwegens ihre Autonomie vorbildlich gesichert haben und was passieren kann, wenn Privatpersonen ihren eigenen Staat ausrufen. Zusammengenommen ergibt sich das Bild einer neuen Weltunordnung.

Marc Engelhardt: 1971 geboren, von 2004 bis 2010 in Nairobi als Afrika-Korrespondent für Radio, TV sowie zahlreiche Zeitungen tätig; seit 2011 lebt der studierte Geograph, Meeresbiologe, Jurist und Philosoph in Genf und berichtet über die UN; Herausgeber und Verfasser zahlreicher Bücher, zuletzt "Heiliger Krieg - heiliger Profit. Afrika als neues Schlachtfeld des internationalen Terrorismus" (Ch. Links).

Katalonien:
»Sie respektieren uns einfach nicht.«


Julia Macher


Keine andere Region in Europa scheint so nah vor der Eigenständigkeit zu stehen wie Katalonien. Seit Jahren streitet die Bevölkerung gegen die Regierung in Madrid – mit gleichbleibender Begeisterung. Der Traum vom eigenen neuen Land hat nicht nur den Verstand, sondern auch die Herzen der Menschen erobert – als Utopia, in dem alles möglich sein soll.[1]


In Sant Pere de Torelló ist man schon länger unabhängig: seit dem 3. September 2012. Damals rief sich das Dorf im grünen Vorgebirge der Pyrenäen zum »freien katalanischen Territorium« aus. Seitdem flattert die »Estelada«, die Flagge der Unabhängigkeitsbefürworter, auf dem Kreisverkehr am Ortseingang, eine gelb-rot gestreifte katalanische Fahne mit blauem Dreieck und weißem Stern. Das spanische Gesetz hat für die 2400 Einwohner nur mehr, so steht es in der symbolischen Erklärung des Stadtrates, »provisorischen Charakter«. Am spanischen Nationalfeiertag am 12. Oktober wird neuerdings gearbeitet. Und Jordi Fàbrega, der hemdsärmelige Bürgermeister, führt die Steuern der Verwaltung nicht wie vorgeschrieben an das spanische Finanzamt, sondern an die katalanische Steuerbehörde ab.

Gut 200 weitere Dörfer haben sich dem Beispiel inzwischen angeschlossen, und 720 der 946 katalanischen Gemeinden sind Mitglied der AMI (Associació de Municipis per la Independència), der Vereinigung der Kommunen für die Unabhängigkeit. Die kampfeslustige Organisation gehört wie der Kulturverein Òmnium und die Assemblea Nacional Catalana (ANC), die Plattform »Katalanische Nationalversammlung«, zu den Impulsgebern der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Im Symbolpolitischen ist der Kampf um einen eigenen katalanischen Staat längst gewonnen: Die gelben Buttons der ANC prangen auf Schulranzen und Aktentaschen. In Kneipen hängen Fotos mit Bildern der »Via Catalana«, der 400 Kilometer langen Menschenkette, die sich 2013 von Pertús in den Pyrenäen bis nach Alcanar im Ebro-Delta zog. Selbst mancher Hipster aus Barcelona trägt Sneaker, auf denen dezente vier Streifen und ein aufgenähter Stern die politische Gesinnung kundtun.

»Unsere Bewegung geht quer durch die Gesellschaft«, sagen die Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit gern. Hinter der separatistischen Bewegung steckt keine einzelne Partei. Im Parlament zieht sich der Traum von einem eigenen Staat von links nach rechts, von den basisdemokratisch verfassten Systemkritikern der CUP bis zur konservativ-liberalen Convergència von Artur Mas. Zur Unabhängigkeitsbewegung zählen Landwirte aus Vic, die stolz darauf sind, die katalanischen Nachnamen ihrer Vorfahren bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen zu können und Spanien schon immer als fremden Staat betrachtet haben. Genauso gehören die in Barcelonas Speckgürtel großgewordenen Kinder andalusischer Einwandererfamilien dazu, die bis vor Kurzem noch die Titel der spanischen Fußballnationalmannschaft bejubelten.

Salvador Cardús gehört zu einer der vielen Gruppen, die sich dazwischen ansiedeln lassen. Der Volkswirt und Soziologe stammt aus Terrassa, einer Industriestadt, 30 Kilometer nordöstlich von Barcelona. Aufgewachsen in einer katalanischsprachigen Familie, wurde das Streben nach einem eigenen Staat für ihn erst mit den Jahren zur politischen Option. »Zu sagen, man sei schon immer Separatist gewesen, finde ich lächerlich«, sagt Cardús, »das ist ja keine Religion, auf die man getauft wird.« Cardús, Anfang 60, Jeans und kariertes Hemd, sitzt in einer Cafeteria neben der Uni, an der er unterrichtet. Vor ihm liegt ein Blatt Papier, auf dem er sich während des Gesprächs Notizen macht: Studien, die er nachreichen möchte, Daten, die er überprüfen will. Der Professor spricht gern und häufig mit der ausländischen Presse, als teilnehmender Beobachter eines Prozesses, den er für den »umwälzendsten der Gegenwart« hält. Er war Teil des »Beirats für die nationale Transition«, eines von der Regionalregierung ins Leben gerufenen Gremiums, das mögliche Wege und Szenarien einer Loslösung Kataloniens von Spanien ausgearbeitet hat. Sein Buch »Der Weg zur Unabhängigkeit« gehörte 2010 zu den ersten Bestsellern im inzwischen boomenden Geschäft mit Sachbüchern zum katalanischen Separatismus. »Spanien hat nie akzeptiert, dass es ein Vielvölkerstaat ist«, konstatiert Cardús. »Innerhalb des spanischen Staatsmodells, des Staats der Autonomien, kann sich Katalonien als Nation nicht entwickeln.« Damit spricht er gleich zwei Konzepte an, die fundamental für die Entwicklung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung sind: Das Selbstverständnis als Nation. Und das Scheitern des spanischen Staatsmodells. Ersteres ist die notwendige, das Zweite die hinreichende Bedingung des katalanischen Separatismus.

Reiseführer erklären die Andersartigkeit der Katalanen gerne mit der Gegenüberstellung von Klischees: Im Nordosten der Iberischen Halbinsel tanzt man Sardana statt Flamenco, isst Butifarra, Bratwurst, statt Paella. Und wo dem Bilderbuch-Spanier Kontaktfreudigkeit und Lebhaftigkeit unterstellt werden, gilt der Katalane als zurückhaltend und verschlossen, als Hamburger Spaniens gewissermaßen. Ist der Reiseführer gründlich, stehen in der Einleitung noch ein paar Sätze zur eigenen Sprache – Katalanisch wird von gut zehn Millionen Menschen gesprochen und ist eine der ältesten Literatursprachen Europas –und zur eigenen Geschichte des Landstrichs: zur spanischen Mark, von den Karolingern als Bollwerk gegen die Muslime errichtet; zur Blütezeit Kataloniens im 11. und 12. Jahrhundert; zur aragonischen Krone, unter der Katalonien zur bestimmenden Macht am Mittelmeer aufstieg. Und natürlich zum Spanischen Erbfolgekrieg, in dessen Folge die Grafschaft 1714 ihre Reste staatlicher Eigenständigkeit verlor und in das bourbonische Königreich eingegliedert wurde. Die Unabhängigkeitsbewegung hat aus 1714 erfolgreich ihre Stunde null gemacht. Im Camp Nou, dem gigantischen Stadion des FC Barcelona, skandieren die Fans bei jedem Match in Minute 17, Sekunde 14 »In-, Inde-, Independència«. Der 11. September, der Tag, an dem Barcelona von den bourbonischen Truppen nach einjähriger Belagerung eingenommen wurde, wird mit einem eigentümlichen masochistischen Gestus als katalanischer Nationalfeiertag (Diada Nacional de Catalunya) jährlich mit Pomp und Großdemonstra-tionen zelebriert.

Geschichte und eigene Sprache sind konstituierende Elemente des katalanischen Selbstverständnisses, doch den Aufschwung der Unabhängigkeitsbewegung erklären sie alleine nicht. Denn bis vor Kurzem dienten die »nationalen Besonderheiten« allenfalls einer Minderheit als Rechtfertigung für eine Sezession. Noch 2006 träumten lediglich 15 Prozent der Bewohner Kataloniens von einem eigenen Staat. 2013 waren es bereits beachtliche 48 Prozent. Der Anstieg erschließt sich erst im Zusammenhang mit der strukturellen, wirtschaftlichen und politischen Krise des spanischen Staatsmodells.

Spanien ist nicht föderal organisiert, sondern als »Staat der Autonomien« (Estado autonómico) mit 17 autonomen Gemeinschaften verfasst. Das Konstrukt ist ein Kompromiss, mit dem man die seit dem 18. Jahrhundert notorischen Spannungen zwischen der Zentralregierung und den peripheren »historischen Nationalitäten« der Iberischen Halbinsel, also Katalonien, Galicien und dem Baskenland, zu lösen versuchte. Die nach dem Tod des Diktators Franco 1975 von Oppositionellen und Regimekräften gemeinsam ausgehandelte Verfassung von 1978 definiert Spanien als »Nation der Nationalitäten«. Die Einheit der spanischen Nation gilt demnach als unauflöslich, im gleichen Artikel wird den Regionen und Nationalitäten, also den historisch gewachsenen Regionen mit eigener Sprache und Kultur, das Recht auf Autonomie garantiert. Ein Tauziehen zwischen Regionen und Zentralstaat war damit programmiert. Die um Ausgleich und Austarieren zwischen den Fronten bemühte Politik nach Francos Tod weitete den Autonomiestatus unter der Devise »café para todos«, »Kaffee für alle«, auf alle Regionen aus, nicht nur diejenigen mit eigener Sprache und nationalem Selbstverständnis: ein Versuch, die baskischen und katalanischen Bestrebungen nach einem Höchstmaß an Eigenständigkeit zu relativieren. Hinzu trat eine komplizierte Abstufung unterschiedlicher Kompetenz-Niveaus. Und: Nicht immer gab der Staat nach Übertragung der Kompetenzen die entsprechenden Hoheitsrechte tatsächlich ab. »Spanien hat es mit dem Autonomiemodell nie so richtig ernst gemeint«, resümiert Cardús. Diese These teilen inzwischen in Katalonien viele; sie ist zum Minimalkonsens der Unabhängigkeitsbewegung geworden. Und die meisten bekennen sich seit 2010 zu ihr, als das spanische Verfassungsgericht das vier Jahre zuvor vom katalanischen Parlament ausgearbeitete und per Referendum ratifizierte Autonomiestatut radikal beschnitt. Das Regelwerk sollte damals für klarere Verhältnisse im Wirrwarr um Kompetenzen und Zuständigkeiten sorgen und den »nationalen Charakter« Kataloniens anerkennen.

Salvador Cardús hat den Glauben an das System der Autonomien bereits 30 Jahre früher verloren, nach dem Putschversuch des Oberstleutnants der Guardia Civil Antonio Tejero gegen die junge spanische Demokratie am 23. Februar 1981. Infolge des missglückten Staatsstreichs einigten sich die regierende Zen-trumspartei und die Sozialisten – unter Ausschluss der katalanischen und baskischen Nationalisten – auf das »Gesetz zur Harmonisierung des Autonomie-Prozesses«. Für die katalanische Regionalregierung war das Gesetz, das eine Angleichung der Statuten aller Regionen vorsah und die verfassungsähnlichen Autonomiestatute einem regulären...

Erscheint lt. Verlag 7.10.2015
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Co-Autor Nicola de Paoli, Julia Macher, Gerd Braune, Stefan Scholl, Thomas Franke, Bettina Rühl, Klaus Bardenhagen, Susanne Knaul, Birgit Svensson, Susanne Güsten, Marc Engelhardt, Kilian Kirchgeßner, Christiane Büld Campetti, Danja Antonovic, Peter Stäuber
Zusatzinfo 17 Karten/Tabellen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
Technik
Schlagworte Autonomie • Bürgerkrieg • Katalonien • Konflik • Konflikt • Kurden • Mikrostaaten • Palästina • Separatisten • Sezession • Transnistrien • Unabhängigkeit
ISBN-10 3-86284-317-3 / 3862843173
ISBN-13 978-3-86284-317-6 / 9783862843176
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