Nackte Hochzeit (eBook)

Wie ich China lieben lernte

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-11851-5 (ISBN)
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Wie ich Dingding lieben lernte und ein ganzes Land dazu. Eigentlich wollte Sven Hänke nur für ein Jahr nach China gehen. Sechs wurden es, und schuld daran ist Dingding, seine spätere Ehefrau. Doch es war nicht ganz leicht, Dingdings chinesische Großfamilie für sich zu gewinnen. Vor allem nicht als «Nackter Bräutigam», der einfach aus Liebe heiraten will, ohne über Karrierejob, Auto und Eigentumswohnung zu verfügen. Zunächst musste Sven Hänke im Reich der Mitte überleben lernen und die Seltsamkeiten des Alltags meistern: Warum sind manche chinesischen Handynummern so viel teurer als andere? Haben die Pekinger wirklich keine Brusthaare? Wieso tragen Chinesen so aparte Namen wie Jupiter oder Pünktchen? Und dann erzählt Sven Hänke von den komplexen Ritualen der chinesischen Brautwerbung - von der korrekten Anrede von Onkeln vierten Grades bis zum stilvollen Verspeisen einer Seegurke -, die auch ein Deutscher unbedingt absolvieren muss, bevor das große Hochzeitstheater beginnen kann ... Sven Hänke begibt sich auf eine romantische Tour de Force durch ein Land zwischen Hightech und Tradition, zwischen Kaufrausch und Kommunismus. Mit viel Humor und geradezu konfuzianischer Gelassenheit erzählt er vom komischen Clash der Kulturen - und der fast unmöglichen Kunst, in China zu heiraten.

Sven Hänke stammt aus Brunsbek in der Nähe von Hamburg. Nach dem Studium ging er nach China, um dort an der Universität Deutsch zu unterrichten. Hier traf er seine spätere Frau - und blieb fünf Jahre länger als geplant. Als Blogger wurde er bald zu Chinas bekanntestem Deutschlehrer. Fünfzigtausend Abonnenten folgen seinem Weibo-Mikroblog. Heute lebt Sven Hänke mit seiner Frau in Berlin.

Sven Hänke stammt aus Brunsbek in der Nähe von Hamburg. Nach dem Studium ging er nach China, um dort an der Universität Deutsch zu unterrichten. Hier traf er seine spätere Frau – und blieb fünf Jahre länger als geplant. Als Blogger wurde er bald zu Chinas bekanntestem Deutschlehrer. Fünfzigtausend Abonnenten folgen seinem Weibo-Mikroblog. Heute lebt Sven Hänke mit seiner Frau in Berlin.

2 Flagt eine Maus, wohin es geht


Es ist noch nicht lange her, da hatte ich mit China rein gar nichts am Strohhut. Bevor ich meine etwas zu groß geratenen Füße zum ersten Mal auf volkschinesischen Boden setzte, deutete in meinem Leben nur sehr wenig auf einen intensiveren Kontakt mit dem hinteren Orient hin. Meine familiären Wurzeln liegen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Hamburg. Es heißt Brunsbek, aber als Dingding es zum ersten Mal aussprach, klang es ein bisschen wie «Bumsberg». In Bumsberg schubsen die Jugendlichen nachts die schlafenden Kühe um, und wer nicht im Schützen-, Tennis- oder Fußballverein ist, der ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ansonsten bekäme man auch nicht mit, falls im Dorf wider Erwarten einmal etwas passiert.

Dingding sagt, sie habe nie gedacht, dass derartige Orte überhaupt existieren, so «totgestorben», wie sie sich ausdrückt, fand sie Bumsberg bei ihrem ersten Besuch. Ich würde es ja eher idyllisch nennen, aber sie hat schon recht. Für Chinesen, in deren Heimat manche Fischerdörfer innerhalb weniger Jahre zu stahlbetonierten Zukunftsvisionen mutieren, muss das norddeutsche Flachland wirken, als sei es aus der Zeit gefallen. Im Vergleich zu China verläuft dort das Leben wie ein Schneckenrennen in Superzeitlupe; die Vorgärten mit den Blumenbeeten und den Buchsbaumhecken wirken, als wären sie schon immer da gewesen.

Manchmal ist dann doch etwas los. Wenn zum Beispiel der Knecht Otto nach dem Osterfeuer mit seinem Mofa betrunken gegen einen Schweinestall geknattert ist, dann muss man schon gut vernetzt sein, um all die spannenden Einzelheiten zu erfahren.

Meine Mutter ist in Hamburg aufgewachsen, aber für die Liebe ihres Lebens tauschte sie das bürgerliche Wandsbek gegen die gut und reichlich gedüngten Felder der Stormarner Einöde ein. Meinen Vater hatte es schon immer aufs Land gezogen, je öder, desto besser. Wahrscheinlich hat er deswegen das schöne Bumsberg gewählt und dort ein Grundstück in einer Lage gekauft, in der sich die letzten Anzeichen menschlicher Siedlungstätigkeit im Jauchedunst der Felder verlieren. Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Mutter sich an die neue Umgebung gewöhnt hatte – an die frische Landluft, wie mein Vater den Güllegestank nennt, und die Menschen, die darin herumspazieren. Aber spätestens als sie feststellte, dass mein Bruder und ich zu waschechten Landeiern heranwuchsen, und wir ihr regelmäßig frisch gesammelte Regenwürmer aus dem Garten als Geschenk brachten, gab sie den Widerstand auf. Sie nahm die verkräuselten Wurmklumpen entgegen, bedankte sich bei den braven Kindern und wurde Mitglied im Tennisclub.

Meine Mutter beschloss bald, dass mein Bruder und ich auch das bunte Stadtleben kennenlernen sollten. Manchmal war es ihr wohl ein wenig peinlich, dass ihre Kinder solche Dorftrottel waren. Das las ich zumindest in ihrem Gesichtsausdruck, als ich beim Einkaufen in Hamburg-Wandsbek alle Leute freundlich grüßte, die uns auf dem Weg vom Parkhaus zu Karstadt entgegenkamen. Menschen auf der Straße grüßt man, so hatte ich es gelernt. Woher sollte ich wissen, dass in der großen Stadt ganz andere Spielregeln galten als bei uns zu Hause, wo man jeden grüßt, auch wenn man ihn nicht kennt? Denn meistens kennt man ihn ja doch, oder man lernt ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bald kennen, ob einem das nun lieb ist oder nicht.

Aus diesem Grund machten wir hin und wieder einen Ausflug in die große Stadt. Und da merkte ich: Hamburg ist eine ganz andere Hausnummer als das gute alte Bumsberg. Ich gewöhnte mich langsam an den Gedanken, dass die Welt da draußen aus deutlich mehr bestand als aus Deutz-Treckern und Melkmaschinen, und verstand, dass man nicht die ganze Zeit in Gummistiefeln herumlaufen konnte.

Später schaffte ich es, immer besser zu verbergen, wo ich eigentlich herkam. Aber selbst nach dem Umzug nach Berlin in den Prenzlauer Berg bin ich im Herzen Dorfkind geblieben – hier ist man mit dieser Eigenschaft aber auch gar nicht so allein. Später, in Beijing, zeigte sich, dass meine dörfliche Herkunft in einer Megacity sogar von Nutzen sein konnte. Meine traumatischen Erinnerungen an das Herzhäuschen auf dem alljährlichen Stoppelfest ermöglichten es mir, bei der einen oder anderen Hutong-Toilette zunächst Ruhe zu bewahren.

Mit Menschen aus anderen Ländern kam ich in meiner Kindheit fast nur in Kontakt, wenn wir Urlaub machten. An meiner Schule gab es zwar einige Kinder von libanesischen Ärzten oder englischen Anwälten, aber sie waren allesamt in Deutschland aufgewachsen und auch äußerlich meist nicht weiter auffallend. Chinesen begegnete ich nur, wenn ich im Restaurant Lotus Garten eine Bestellung abholte. Zumindest dachte ich damals, es seien Chinesen. Sie waren klein und hatten schmale Augen. Ihr dunkles Haar war so glatt und dick, dass selbst die von den libanesischen Arztkindern gestriegelten Pferde neidisch werden konnten. Wie man sich das bei Chinesen eben vorstellt. Aber als ich Jahre später versuchte, Fiete in jenem Restaurant die hart erarbeiteten Chinesischkenntnisse vorzuführen, erfuhr ich, dass dort gar keine Chinesen arbeiteten, sondern Vietnamesen und Pakistaner, wie in fast allen deutschen Chinarestaurants.

Die meiste Zeit meines Lebens spielte China schlicht und einfach keine Rolle. Und dann, eines Tages, saß ich im Büro von Professor Mandé. Ich hatte an vier verschiedenen Universitäten studiert und einen Abschluss in Germanistischer Linguistik, Philosophie und Publizistik in der Tasche. Ich war nicht der schnellste Student, aber die Noten waren gut – und als mein Professor sagte, er könne sich vorstellen, dass ich bei ihm promovieren würde, begann ich mit einer Arbeit über metaphorische Konzepte. Eines Tages saß ich also in der Sprechstunde meines Professors – er war in den Jahren an der Universität der Einzige, den ich mit einem Possesivpronomen bedachte – und sah seine Augen blitzen. Er erzählte von Indien, von Paris und vor allem von Griechenland. Er hatte dort als DAAD-Lektor gearbeitet.

«DAAD-Lektor?», fragte ich. «Entschuldigen Sie mein Unwissen, aber was ist denn das?

«Ich glaube, das wäre etwas für Sie. Über den Deutschen Akademischen Austausdienst im Ausland Deutsch zu unterrichten. Erkundigen Sie sich mal nach einer DAAD-Stelle in Spanien. Sie können doch Spanisch.»

Ich erkundigte mich, aber irgendwie wurde daraus nichts.

Einige Zeit später war ich wieder in seiner Sprechstunde. Professor Mandé saß auf seiner Ledercouch und zog an einer Pfeife. Vor den Regalen stand ein Flipchart, an dem eine Kalligraphie seines Namens angebracht war, und vor mir auf dem Couchtisch lag ein Schlüsselanhänger, eine Kugel, in der ein Plastikauge schwamm.

«Wie wäre es denn mit China?», fragte er.

«Was wäre wie mit China?», fragte ich.

«Wollen Sie nicht vielleicht nach China?»

«Kommt darauf an.»

«Ich habe gestern die Ausschreibung einer chinesischen Universität hereinbekommen.»

«Aha», sagte ich.

«Ich könnte mir vorstellen, dass es Ihnen vielleicht ganz guttun würde. Fernost. Warten Sie, ich glaube, der Zettel liegt noch im Sekretariat.»

Er stand auf und verließ das Büro. Ich saß da. Das Auge auf dem Tisch beobachtete mich. Vielleicht war es an der Zeit, etwas ganz anderes zu machen. Ich war gerade Single. Beziehungen lagen hinter mir, und der Gedanke, mich für die nächsten Jahre hinter Bücherstapeln vor der Welt zu verstecken, gefiel mir ganz und gar nicht. Aber deswegen arbeitet man doch nicht gleich für einen Unrechtsstaat! Oder doch?

Eines meiner Lieblingsbücher ist die Autobiographie von Felix Graf von Luckner, jenem Mann, der als Jugendlicher im Hamburger Hafen auf einen Frachter gestiegen war, einfach um nachzusehen, wie weit die Welt da draußen wirklich ist. Er war weder zur Berufsberatung gegangen, noch hatte er eine Auslandskrankenversicherung abgeschlossen. Er hatte es einfach gemacht.

Außerdem stand über die Globalisierung ja auch viel Positives in der Zeitung. Vielleicht war das eine gute Gelegenheit, da selbst ein bisschen mitzumachen. Erst recht in China: Mandarin-Kenntnisse – auch das stand in der Zeitung – wurden immer wichtiger. Das alles ging mir durch den Kopf, als mein Professor zurückkam.

«Es tut mir leid. Die Sekretärin muss die Stellenausschreibung versehentlich entsorgt haben. Nichts zu machen.»

«Oh!», sagte ich.

«Das wäre vielleicht etwas für Sie gewesen», sagte er, setzte sich auf die Ledercouch und zündete die Pfeife wieder an. Dann sagte er lange nichts.

«Warten Sie. Ich seh noch mal nach.» Er stand wieder auf und verließ das Büro.

Minuten vergingen, Minuten, in denen ich durch Reisfelder watete und im Morgengrauen elegante Kung-Fu-Bewegungen ausführte. Als mein Professor dann zum zweiten Mal in der Tür stand, hielt er einen Zettel in der Hand. Bis heute liegt dieser Zettel in meiner Schreibtischschublade neben dem Hochzeitsausweis der Volksrepublik China.

«Sehen Sie», sagte er, «bei uns kommt nichts weg.»

Es war die Ausschreibung für eine Stelle als Universitätsdozent in einer chinesischen Zehn-Millionen-Stadt namens Tianjin, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte. Vier Monate später saß ich im Flugzeug und trank Jasmintee aus einem Plastikbecher, serviert von einer chinesischen Stewardess mit entzückenden Segelohren. Sie lächelte mich an, und ich hatte das seltsame Gefühl, dass mich dort in diesem fernen Land tatsächlich irgendetwas erwartete.

Kurz vor meiner Abreise hatte mir mein Kumpel Fiete zum Abschied noch ein dünnes Büchlein mit dem...

Erscheint lt. Verlag 18.12.2015
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte Asien
Schlagworte Beijing • China • Deutschunterricht • Familie • Hochzeit • Kultur • Kulturelle Missverständnisse • Liebesgeschichte • Sprache • Tianjin • Tradition
ISBN-10 3-644-11851-5 / 3644118515
ISBN-13 978-3-644-11851-5 / 9783644118515
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