Food-Design: Panschen erlaubt (eBook)

Wie unsere Nahrung ihre Unschuld verliert
eBook Download: EPUB
2015 | 3. Auflage
247 Seiten
Hirzel, S., Verlag
978-3-7776-2538-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Food-Design: Panschen erlaubt - Udo Pollmer, Monika Niehaus
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Zusatzstoffe sind buchstäblich in unser aller Munde. Einschlägige Fachbücher listen über 7500 Präparate und Zusätze auf. Wozu diese ungeheure Vielfalt von Emulgatoren und Stabilisatoren, von Hydrocolloiden, Schmelzsalzen, Geschmacksverstärkern und Aromatisierungshilfen? Die Industrie kommt ohne die heimlichen Helfer kaum noch aus, doch in den Zutatenlisten fehlen diese oft. Und die Medien winken ab mit der Bemerkung, die Geschichte sei 'leider zu kompliziert' fürs Publikum. Falsch! Udo Pollmer und Monika Niehaus beweisen, dass die Geschichte der Nahrungszusätze nicht nur spannend ist, sondern auch sehr lehrreich.

Udo Pollmer ist Lebensmittelchemiker und seit 1981 selbstständiger Wissenschaftsjournalist. Seit 1995 leitet er das Europäische Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften. Er hat bereits mehrere erfolgreiche Bücher zum Thema Ernährung veröffentlicht.

Der Appetit kommt beim Essen: Psychophysik


Beim Geschmacksdesign geht es, wie wir gesehen haben, um mehr als nur um eine Aromatisierung. Wie der Name schon andeutet, sucht die „Psychophysik“ nach einer Verknüpfung physikalischer Messdaten und Empfindungen und Emotionen, die sich nicht direkt messen, sondern nur indirekt ableiten lassen. Ihre Wurzeln reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück, doch die Psychophysik des Geschmacks ist zweifellos ein Spross des 20. Jahrhunderts. Eines der ersten sensorischen Forschungsinstitute war übrigens von der US-Armee im Zweiten Weltkrieg eingerichtet worden, denn vielen Soldaten schmeckte die Militärverpflegung nicht, und man befürchtete negative Auswirkungen auf die Kampfmoral.406

Anfangs arbeiteten die Experten noch mit richtigen Totenschädeln, um die Kieferbewegungen aufs Genaueste zu vermessen. Ja, sie pflanzten sogar Mikrophone ein, um die Geräusche im Mund zu belauschen. Das erwies sich als schwieriger als zunächst gedacht, denn die Kaugeräusche erreichen unser Ohr auf zwei Wegen: Zum einen gelangt die Botschaft über Schallschwingungen, zum anderen über den Kieferknochen zum Ohr. Auch wenn der Totenschädel als Werkzeug der Psychophysik noch immer nicht ausgedient hat,202 werden Chips heute vorzugsweise „maschinell gekaut“ – mit dem „Crunchmeter“, das Cornflakes und Kartoffelchips auf ihre Knusprigkeit prüft. Dabei werten Mikrofone die Geräusche aus, die beim Zermalmen des Produkts entstehen, und übersetzen sie auf der Basis fraktaler Geometrie optisch in Käuferwünsche.201 Wenn das nicht Dienst am Kunden ist!

Der Verbraucher wird seither – wenn immer möglich – aufs Genaueste vermessen und sein Innerstes im Dienste der Wissenschaft bzw. des Auftraggebers ausgelotet. Schließlich geht es längst nicht mehr um profane Nahrungsaufnahme, sondern um einen Wettlauf um den besten Gaumenkitzel. Da werden mit dem EEG Hirnströme gemessen, mittels EKG die Herztätigkeit bestimmt, Atemfrequenz und Einatemtiefe registriert, Veränderungen der Pupillen verfolgt, Blutdruck und Blutvolumen per Plethysmographie aufgezeichnet und elektromyographisch die Aktivität der Gesichtsmuskulatur beim Kauen vermessen.202 Das britische Unternehmen Leatherhead Food lobt denn auch die Elektromyographie als eine „neue und aufregende Technik“; mit ihr werden „alle Aspekte des Kauens: Speichelfluss, Temperaturveränderungen und Speisezerkleinerung“ erfasst.83 Andere Spezialisten messen Hautleitfähigkeit und

Marcel Prousts Duft der Kindheit

Warum betreiben Lebensmittelproduzenten einen derartigen apparativen Aufwand? Warum die Testkoster nicht einfach fragen, wie ihnen das neue Produkt schmeckt? Nun, wahrscheinlich können sie einen Teil dessen, was sie beim Verzehr empfinden, gar nicht in Worte kleiden. Denn während Geschmacksqualität und -quantität bewusst via Großhirnrinde wahrgenommen werden, wird der „Genuss“, das Lustempfinden, das uns der Verzehr eines Stücks Schokolade bereitet, im Belohnungszentrum empfunden und verarbeitet.75 Dieses Belohnungszentrum gehört zu einer alten Gehirnregion, dem limbischen System, in dem Stimmungen, Gefühle und Assoziationen gespeichert werden – und es ist beteiligt an der emotionalen Einfärbung von Erinnerungsinhalten.210

Das gilt ganz besonders für das Empfinden von Dufteindrücken. Geruchsmoleküle haben eine direkte Verbindung zum limbischen System, sie „haften“ viel tiefer als optische Eindrücke und werden kaum je ganz vergessen.211 Deshalb erinnern sich alte Menschen sehr gut, wenn etwas genauso schmeckt wie in ihrer Kindheit, auch wenn die allermeisten anderen Eindrücke aus dieser Zeit längst verblasst sind. „Die Zeit scheint beim Geruchsgedächtnis keine Rolle zu spielen“, wunderte sich der renommierte Sensoriker Trygg Engen.85 Auch die Wahrnehmung von Aromen, also einer Mischung aus Geschmacks- und Geruchseindrücken, hat offenbar eine ähnlich ausgeprägte „Löschresistenz“. Geruch und Geschmack sind oft mit Lust und Genuss oder aber auch mit Abneigung und Ekel verknüpft, und stark emotional geprägte Lerninhalte werden ganz allgemein besser behalten als „Wertfreies“, wie lateinische Vokabeln oder mathematische Formeln.208

Aromen können daher auch lebhafte Erinnerungen und Assoziationen hervorrufen. Ein berühmtes literarisches Beispiel ist die „Madeleine-Episode“ in Marcel Prousts Romanepos Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dort fühlt sich der Erzähler durch den Duft eines Stücks Gebäck (Madeleine) in das Universum der Kindheit zurückversetzt: „…sobald ich den Geschmack jenes Madeleine-Stücks wiedererkannt hatte, das meine Tante mir, in Lindenblütentee getaucht, zu geben pflegte … stiegen … alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, aus meiner Tasse Tee.“212 Diese starken, unterbewussten Gefühle, die sich durch Aromen auslösen lassen, versuchen sich Lebensmittelproduzenten zunutze zu machen, um Kunden zu „Produkttreue“ zu veranlassen. Die zum Nestlé-Konzern gehörige Firma Synfleur machte daraus in ihrer Werbung kein Geheimnis; sie pries „Aromen und Düfte“ an, „die Ihre Kunden in Kauflaune versetzen … wieder und wieder“. Auch wenn das sicherlich eine werbliche Übertreibung ist, so zeigt es, wovon die ganze Branche träumt.

Hautwiderstand – die Testkoster werden sozusagen an einen „Lügendetektor“ angeschlossen. Damit lassen sich zwar entgegen dem plakativen Namen keine „Lügen“ feststellen, aber sehr wohl die emotionale Erregung beim Kosten von Speisen.

Ist endlich erforscht, welche Geschmackserlebnisse vom limbischen System als besonders attraktiv empfunden werden, so macht sich ein Stab von Geschmacksdesignern und Food-Technologen daran, das Gewünschte zusammenzubasteln. Und dabei werden nicht nur Geruch und Geschmack sowie die Optik eines Produkts berücksichtigt, sondern auch Schmelzverhalten, Textur und Knusprigkeit. Also wird die Schnittfestigkeit von Butter bestimmt, bevor sie aufs Brot darf, das Biegebruchverhalten von Schmelzkäse, bevor er sich auf den Toast schmiegt, und das richtige „Mouthfeel“, das Mundgefühl von Instant-Kartoffelbrei, bevor er in die Tüte kommt.205, 206, 207, 209 Schließlich ist die Zunge, was den Tastsinn angeht, noch empfindlicher als die Fingerspitzen. Weil sie wie eine Lupe wirkt, findet sie sofort das sprichwörtliche „Haar in der Suppe“ und spürt’s, als wär’s eine kräftige Borste.208

Zielort Psyche


Unter dem Slogan „mit unseren Geschmacksmodulen werten Sie Ihre Produkte im Wettbewerb kulinarisch auf“, offerierte der Chemiekonzern Hoechst der Lebensmittelindustrie ausgeklügeltes Aroma-Tuning.83 Die Food-Designer sind aber nicht nur auf der Suche nach dem universell akzeptablen Geschmack oder nach Produkten, die uns buchstäblich das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen und so Appetit „auf mehr“ machen.214 Für sie steht auch die Befriedigung psychischer Bedürfnisse im Mittelpunkt – meist der Ausgleich von Missbefindlichkeiten wie Frustration, Unruhe oder Langeweile.213 Sehen wir uns einmal einige besonders beliebte Snacks und Leckereien etwas näher an:

Die Kartoffelchip-Industrie ist auf die Sättigung oder besser die Übersättigung von Fernsehzuschauern spezialisiert. Das hat nach Ansicht der Psychophysiker seinen guten Grund: Chips bieten ein Ventil für Anspannungen oder Aggressionen, wie sie beim Anschauen eines Thrillers, Fußballspiels oder Familiendramas entstehen. Sind die Bösewichter aggressionslösend bis auf den letzten Brösel zermalmt worden, folgt die nächste Kauphase: Der durchgespeichelte weiche Brei streichelt den Gaumen, bevor er entspannt heruntergeschluckt wird.213 Und tut sich auf dem Spielfeld oder im Spielfilm nichts Aufregendes, so sorgt wenigstens das „Kauvergnügen“, die Geräuschkulisse beim Knuspern und Knacken für ein wenig Unterhaltung.203

Neben Crunchmeter-geprüfter Brüchigkeit sorgt eine durchdachte Aromatisierung dafür, dass aus einem profanen frittierten Kartoffelschnitz ein genussvolles „Esserlebnis“ wird. Schon beim Öffnen der Tüte soll einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Deshalb riecht der Inhalt dank 2-Methoxy-3-ethylpyrazin intensiv und appetitanregend nach frischen Bratkartoffeln. Als „Backgroundflavor“ unterstreicht der Aromastoff den Kartoffelgeschmack und rundet ihn ab. Die spezielle „Chipsnote“ liefert 2-Etyhyl-3,6-dimethylpyrazin, und die ungarische Puszta-Romantik steuert das scharfe 2-Methoxy-3-isobutylpyrazin bei.215, 216

Aber warum können Chipskonsumenten, selbst wenn sie satt sind, einfach nicht von der Tüte lassen, bis sie bis auf den letzten Krümel geleert ist? Nun, Kartoffelchips sind nicht nur knusprig, sondern auch so würzig, dass uns buchstäblich das Wasser im Munde zusammenläuft. Jeder Chip lockt – unterstützt vom Geschmacksverstärker Glutamat – neuen Speichel. Beim Kauen wird dieser vom Salz und der trockenen Kartoffelscheibe gebunden. Gleichzeitig werden dabei Geschmacksstoffe freigesetzt, die ebenfalls den Speichelfluss in Gang halten. Da so ein Chip sehr leicht ist, spielt es aus der Sicht des Chipsessers keine Rolle, ob er sich den nächsten Chip noch gönnt oder ihn liegen lässt. Sein Motto: Einer geht noch rein – so lange, bis sich das Gefühl von Überfressen bemerkbar...

Erscheint lt. Verlag 16.7.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik
Technik
Schlagworte Ernährung und Diätetik • Food-Design • Geschmacksverstärker • Lebensmittelchemie • Panschen erlaubt • Zusatzstoffe
ISBN-10 3-7776-2538-8 / 3777625388
ISBN-13 978-3-7776-2538-6 / 9783777625386
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