Die Geschichte der Korruption (eBook)
432 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403132-3 (ISBN)
Jens Ivo Engels, geboren 1971, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Zuvor lehrte er Geschichte an der Universität Freiburg. Unter anderem veröffentlichte er ?Naturpolitik in der Bundesrepublik? (2006) sowie ?Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870¿¿-¿1940)? (2007). Er ist Herausgeber der Zeitschrift »Neue Politische Literatur«.
Jens Ivo Engels, geboren 1971, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Zuvor lehrte er Geschichte an der Universität Freiburg. Unter anderem veröffentlichte er ›Naturpolitik in der Bundesrepublik‹ (2006) sowie ›Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870¿¿–¿1940)‹ (2007). Er ist Herausgeber der Zeitschrift »Neue Politische Literatur«.
Jens Ivo Engels hat […] einen hervorragenden Text vorgelegt. Kein populäres Sachbuch, sondern eine fundierte wissenschaftliche Analyse, die trotzdem leicht zu lesen ist.
Kann man aus der Geschichte lernen? […] Dazu leitet Jens Ivo Engels mit seiner überlegten ›Geschichte der Korruption‹ an.
eine kleine Sensation
1. Was ist Korruption? Was ist Mikropolitik?
Am 2. Dezember 1887 jagten die französischen Parlamentarier einen ihrer Helden aus dem Amt. Unter schimpflichen Umständen verließ Jules Grévy, Präsident der Französischen Republik, der erste wirkliche Republikaner in dieser Position, den Elysée-Palast. Nach der Niederlage Frankreichs gegen deutsche Truppen und dem Untergang des Zweiten Kaiserreiches war 1870 eine Republik entstanden. Ungewöhnlich und ungeheuerlich für viele Zeitgenossen, denn Frankreich war zu jener Zeit die einzige europäische Großmacht ohne Monarch. Tatsächlich war die Republik lange umstritten geblieben. Doch mit Grévy hatten die Abgeordneten 1879 einen Mann zum Präsidenten gewählt, der sich bereits seit der Revolution von 1848 für die politischen Rechte des Volkes stark gemacht hatte. Auf ihm ruhten alle Hoffnungen der demokratisch gesinnten Franzosen, und sie wurden nicht enttäuscht. Grévy verzichtete freiwillig auf eine Reihe politischer Vorrechte des Staatsoberhaupts und stärkte die Macht des Parlaments. Bis heute gilt er als zweiter Gründungsvater der Dritten Republik nach Adolphe Thiers.
Der Sturz Grévys war ebenso tief wie die Enttäuschung seiner Weggefährten. Stein des Anstoßes war der sogenannte »Skandal der Dekorationen«, eine Affäre, die auch international Aufsehen erregte. Im Zentrum standen Vorwürfe gegen Grévys Schwiegersohn Daniel Wilson, der dutzendweise Orden der Ehrenlegion an unterschiedliche Interessenten verkauft hatte. Seine eigenen politischen Freunde zwangen Grévy zum Rücktritt, als bekanntwurde, dass der Präsident selbst von den Vorgängen gewusst, sie gebilligt und von ihnen profitiert hatte. Der aufrechte Republikaner war mit Vorwürfen konfrontiert, die seine politischen Freunde normalerweise an die Adresse von Monarchen richteten: Vetternwirtschaft, Bereicherung, Amtsmissbrauch; kurz: Korruption.
Die Affäre Grévy war im 19. Jahrhundert ein berühmter Skandal. Für die Konservativen lieferte sie den Beweis, dass auch die häufig moralisierend auftretenden Demokraten keine weiße Weste hatten. Die Republikaner bauten auf die Selbstheilungskräfte der Republik und waren überzeugt, im Gegensatz zur Monarchie sei nur diese Staatsform in der Lage, derlei Missstände aufzuklären. Für uns ist die Affäre zunächst deshalb interessant, weil sie zeigt, um welche Praktiken die Korruptionskritik kreiste und bis heute kreist. Die Geschichte von Grévy und Wilson ist die eines gemeinsamen Aufstiegs, einer Symbiose von Politik und Kapital, in welcher der Handel mit Ordensverleihungen nur eine untergeordnete Episode war.[9] Die Verbindung zwischen beiden Männern ging auf die 1860er Jahre zurück. Damals sahen sich Wilson und seine Schwester Marguerite Pelouze von den besseren Kreisen des Zweiten Kaiserreichs bitter enttäuscht. Sie ließen sich zu dieser Zeit in Tours nieder und kauften das nahe gelegene Loire-Schloss Chenonceau. Die Geschwister waren Erben eines phantastischen Vermögens. Ihr Vater, ein schottischer Immigrant, hatte es vor allem in der Stahlindustrie und mit der Gasversorgung von Paris gemacht. Offenbar wollten sich die beiden Erben in der lokalen Elite etablieren. Sie gaben Bälle und richteten Feste aus. Marguerite führte auf Chenonceau einen Salon, wie es bei den französischen Damen der Oberschicht schon seit dem 17. Jahrhundert üblich war. Allerdings rümpften die alteingesessenen Familien ihre Nasen über die Neureichen und verweigerten ihnen die soziale Anerkennung.
So begannen die Wilsons, sich andere Verbündete zu suchen. Die fanden sie in der republikanisch gesinnten Opposition gegen das Kaiserreich Napoleons III. In der Spätphase des Zweiten Kaiserreichs wurden die Polizeimaßnahmen gelockert, und das Regime leistete sich den Luxus, bei den Wahlen zur Legislativversammlung eine größere Zahl kritischer Kandidaten zu akzeptieren, auch wenn die Mehrheit der Abgeordneten weiterhin sogenannte »offizielle Kandidaten« der Regierung waren. Die Wilson-Geschwister scharten nun ehrgeizige Provinzbürger um sich, Rechtsanwälte, Journalisten, freiheitlich gesinnte Richter und Beamte, und knüpften Kontakte zu einer Reihe von aufstrebenden Politikern. Sie verwandelten Marguerites Salon nach und nach in einen republikanischen Treffpunkt. So kamen sie in Kontakt mit den Führern der Opposition. Darunter waren Schwergewichte wie Adolphe Thiers, der bereits in den 1830er Jahren unter Bürgerkönig Louis-Philippe Regierungschef gewesen war und 1871 der erste Präsident der neuen Republik werden sollte. Im Salon erschien obendrein Léon Gambetta, charismatischer Führer der radikalen Republikaner, der ebenfalls ab 1870 eine politische Schlüsselposition erreichte. Auch der weitgehend mittellose Rechtsanwalt Jules Grévy gehörte zu diesem Kreis. Der Revolutionär von 1848 war nach der Machtergreifung Napoleons III. zunächst verfolgt worden und wartete nun auf ein politisches Comeback. Derweil nutzte er seine Arbeit als Anwalt in Paris, um Verbindungen in Justiz und Verwaltung aufzubauen.
Ende der 1860er Jahre entschloss sich Wilson wie viele seiner republikanischen Mitstreiter zur Kandidatur um ein Parlamentsmandat. Zur Vorbereitung des Wahlkampfs gründete er gemeinsam mit seiner Schwester eine politische Zeitung, die Union libérale. Zum Wahlkampf auf dem Lande gehörte es, die Wähler mit allerlei Angeboten zu umwerben, etwa Festen und Banketten, die Wilson für sie ausrichtete. Mit Erfolg – neben vielen anderen Republikanern zog er 1869 ins Parlament ein und nahm seinen Sitz in der Gruppe der radikalen Republikaner.
Nach dem Regimewechsel 1870 bauten Wilson und Grévy ihre politische Zusammenarbeit aus. Grévy wurde Parlamentspräsident; der berühmte Parlamentarier öffnete dem Erben im politischen Paris die Türen, während Wilson sich um die Geschäftsverbindungen Grévys kümmerte. Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten machte Grévy Wilson zu einer Art politischem Generalagenten. Wilson und Grévy verband neben der politischen nun eine persönliche Freundschaft. Das hätten beide kaum besser zum Ausdruck bringen können als dadurch, dass bei dem feierlichen Einzug des Staatsoberhauptes in den Elysée Wilson direkt hinter der Präsidentenkutsche fahren durfte. Bei Freundschaft blieb es indes nicht, man band sich auch familiär: 1881 heiratete Wilson in der Kapelle des Elysée-Palastes Alice Grévy, die Tochter des Präsidenten. Tout Paris jubelte; Trauzeugen waren Regierungschef Jules Ferry und Finanzminister Pierre Magnin. Der Schwiegersohn wohnte zeitweilig mit der Präsidentenfamilie unter einem Dach und spann von hier aus seine politischen Fäden. Gern hätte Grévy Wilson zum Minister gemacht, doch reichte seine Macht nach der erwähnten Selbstbeschränkung des Präsidentenamts hierfür nicht mehr aus. Immerhin war sein Schwiegersohn Unterstaatssekretär im Finanzministerium, was ihm (und dem Präsidenten) wichtige Einblicke in die Staatsfinanzen erlaubte.
Grévy schätzte die Bedeutung familiärer Bindungen hoch ein. Nach seinem Amtsantritt nutzte er seine Zuständigkeiten als Chef der öffentlichen Verwaltung nicht nur, um antirepublikanisches Personal zu verdrängen, sondern auch, um die Interessen seiner Familie zu fördern. So ernannte er seinen Bruder Albert zum Senator auf Lebenszeit und zum Gouverneur von Algerien, offenbar vor allem deshalb, weil dieser in Eisenbahn- und Minenbetriebe der nordafrikanischen Kolonie investiert hatte. Freilich musste Grévy seinen Bruder nach zwei Jahren wegen offensichtlicher Unfähigkeit zum Rücktritt drängen. Auch persönlich profitierte Präsident Grévy von den Netzwerken. Am Ende seines Lebens verfügte der einst mittellos aus den Tälern des Jura nach Paris gekommene Mann über ein Vermögen von rund 7,5 Millionen Francs. Er selbst behauptete, über Jahre seine Amtsbezüge angespart zu haben, was rechnerisch denkbar ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er sein politisches Wissen und seine Kontakte in die Bankenwelt genutzt hatte, um Insidergeschäfte zu machen.
Wilson organisierte unterdessen im Elysée ein dichtes Patronagenetz. Im Dienst der guten Sache des Republikanismus errichtete er ein Presseimperium, das ganz Frankreich umfasste und dem bis zu 20 Blätter angehörten. Aufmerksamkeit bekamen sie durch exklusive Informationen aus dem Elysée, die teilweise über eine eigene Telegraphenverbindung zu den Redaktionen gelangten. Finanziell trugen sich derartige Unternehmungen nicht. Wilson verband sie daher in der Regel mit Druckereien, die von öffentlichen Aufträgen lebten. Der Elysée übte Druck auf die lokalen Verwaltungen aus, damit sie ihre Aufträge an die ausgewählten Druckhäuser vergaben. Zudem verlangte Wilson sehr häufig von seinen Geschäftspartnern im Gegenzug für politische Gefälligkeiten, dass sie Abonnements der Präsidentenzeitungen erwarben.
Neben diesem politischen Netz knüpfte Wilson vielfältige individuelle Verbindungen zu Abgeordneten und Repräsentanten der wirtschaftlichen Elite. Hierbei ging es zum einen um politische Loyalität gegenüber dem Präsidenten, zum anderen schlicht um Finanztransaktionen. Zu dem, was Wilson seinen Partnern bieten konnte, gehörten staatliche Vergünstigungen, etwa Steuererleichterungen, oder öffentliche Aufträge. Außerdem ermöglichte Wilson seinen Partnern Zugang zu immateriellen Gütern: die Aufmerksamkeit des Präsidenten, ein Wort, eine...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2014 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Amtsmissbrauch • Amtsträger • Antikapitalismus • Antiparlamentarischismus • Antisemitismus • Aufdeckung • Aufklärer • Aufstieg • Bankrott • Batavia • Bayern • Begünstigungssystem • Bereicherung • Bestechung • Boßismus • Brandbrief • Bürgerkrieg • Bürokratisierung • Daniel Wilson • Demokratie • Deutschland • Diktatur • Duce • Durchsetzung • Eisenbahnsektor • Elitenverflechtung • Elysée • Empörungsgeschichte • Erosion • Erster Weltkrieg • Europa • Fachliteratur • Faschismus • Flugblatt • Frankreich • Gabe • Gabentausch • Gemeinwohl • Geschenkannahme • Geschichtsbild • Glaubwürdigkeitsvorteil • Gründerkrach • Günstling • Hauptwerk • Hebung • Helmut Kohl • Industrialisierung • Insolvenz • Italien • Kabale • Kampf • Kanalbaugesellschaft • Kapitalismus • Kazike • Kirchenfonds • Klientelismus • Konflikt • Königsfamilie • Konkurrenzkampf • Korruption • Korruptionsbekämpfung • Korruptionsdebatte • Korruptionsdiskussion • Korruptionserzählung • Korruptionsgeschichte • Korruptionsklage • Korruptionskritik • Korruptionsskandal • Korruptionsskandalgeschichte • Korruptionsvergehen • Korruptionsverständnis • Korruptionsvorwurf • Kreuzzeitung • Krise • Krisengebiet • Krone • leerformel • Leistungsverwaltung • leitdifferenz • Liberalismus • Lobbyismus • Loyalität • Mächtige • Machtverschiebung • Mikropolitik • Militär • Mischwesen • Moderne • Modernisierungsprozeß • Monarchie • Nationalsozialismus • Naturkatastrophe • Naturpolitik • Neuere • Neuzeit • Niederlande • Norm • Normenkonkurrenz • Normensystem • Obsession • Oligarchie • ordnungsmodell • Ordnungsmuster • Organisationspatronage • Parlament • Parlamentarischismus • Parlamentskritik • Parlamentsreform • Parlamentswahl • Parteienfinanzierung • Patronage • Patronagekultur • Patronageressource • Patronagesystem • Patrone • Philippart • Politik • Praktik • Primo • private • Privatsphäre • Radikalisierung • Rechtfertigung • Rechtssystem • Reformbewegung • Regenerationisten • Regierungspatronage • Regimekrise • Reichsglocke • Reichsgründung • Republikanischismus • Ressource • Revolution • revolutionsexport • Sachbuch • Sauberkeit • Schlagwort • Schreckensherrschaft • Semantik • Sinekure • Skandal • Skandalgeschichte • Skandalisierer • Skandalisierung • Spanien • Sphärentrennung • Spiegelsaal • Spionage • Staatskrise • Staatstheorie • Strafrichter • Südosten • Symbolik • Tausch • Terrorherrschaft • Thronfolge • Transparenz • Trennung • Überfluss • Übergangsregierung • Überschwemmung • Unregelmäßigkeit • Unreinheit • Unruhen • Unterscheidung • Urereignis • Verbrechen • vergeblichkeit • Verlauf • Verschwörung • Verschwörungstheorie • Verwaltung • Verwaltungsreform • Verwandlung • Vetternwirtschaft • Vokabular • Volksvertreter • Volkswillen • Vormoderne • Wahlen • Wahlkampf • Wahlkreis • Wahlniederlage • Wahlrecht • Wehrpflicht • Weltkrieg • Whistleblower • Wiederwahl • Zerstörung • Zivilliste • Zwischenkriegszeit |
ISBN-10 | 3-10-403132-0 / 3104031320 |
ISBN-13 | 978-3-10-403132-3 / 9783104031323 |
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