Die Fähigkeit zu sterben (eBook)

Meine psychologische Arbeit mit Krebskranken

(Autor)

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2014 | 1. Auflage
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02871-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Fähigkeit zu sterben -  Sabine Lenz
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Wie gehen Menschen mit der Diagnose Krebs um - zu einem Zeitpunkt, wo der Tod noch weit weg scheint, lange, bevor die Krankheit ihren körperlichen Tribut fordert? Sabine Lenz arbeitet seit vielen Jahren als Psychoonkologin; sie betreut Krebspatienten und weiß, welchen seelischen Belastungen sie ausgesetzt sind. Und sie weiß auch, welche Fragen die Menschen in dieser Situation umtreiben: Warum hat es gerade mich getroffen? Kann ich das Unausweichliche wirklich annehmen? Hat diese Erkrankung vielleicht sogar einen Sinn? In Sabine Lenz' Buch werden Krankheits- zu Lebensgeschichten. Mit viel literarischem Feingefühl zeigt sie, wie unterschiedlich Menschen reagieren, die sich mit dem Ende ihres Lebens auseinandersetzen - es geht um Verleugnung, Angst, Auflehnung und Erschöpfung wie auch um die Fähigkeit, sein Schicksal anzunehmen. Die Annäherung an den Tod, das zeigt jede ihrer Geschichten, ist einmalig und persönlich, so wie jedes Leben es gewesen ist. «Ich erzähle Geschichten von den Lebensrändern, weil ich Psychoonkologin bin. Seit ich Menschen begegne, denke ich in Geschichten. Und seit ich mich erinnern kann, frage ich nach dem Wie. Geschichten sind das Gegenteil von Reportage, Analyse und Diskurs. Sie sind, wie sie sind, weil jemand sie so und nicht anders erzählen wollte. Es gibt Geschichten, die man über sich selbst erzählt, und solche, die man über andere erzählt. Beides kann gelingen oder nicht. Dies hier ist das Wagnis, aus der Psychoonkologie auf eine sehr persönliche Weise zu berichten, und mehr als irgendjemanden sonst werden die Texte vor allem mich selbst sowohl bedecken wie entblößen.»

Sabine Lenz ist 1951 geboren und aufgewachsen in Deutschland. Nach verschiedenen Studien in Hamburg kam sie 1975 in die Schweiz, wo sie in Zürich ein Psychologie-Studium und eine Psychotherapie-Ausbildung absolvierte. Sie arbeitet seit vielen Jahren in der onkologischen Abteilung eines Schweizer Krankenhauses.

Sabine Lenz ist 1951 geboren und aufgewachsen in Deutschland. Nach verschiedenen Studien in Hamburg kam sie 1975 in die Schweiz, wo sie in Zürich ein Psychologie-Studium und eine Psychotherapie-Ausbildung absolvierte. Sie arbeitet seit vielen Jahren in der onkologischen Abteilung eines Schweizer Krankenhauses.

Aufschrei


Dass eine psychische Problematik sich so eng mit einer Krebserkrankung assoziiert wie in der vorangegangenen Geschichte, ist eher selten in der Psychoonkologie. Meist ist der Zusammenhang lockerer – unsere Patienten haben gewisse psychische Probleme und eine Krebserkrankung. Da wir mit erwachsenen Menschen arbeiten, die meist schon eine jahrzehntealte Biographie mit sich tragen, ist es nicht verwunderlich, dass bei nicht wenigen von ihnen das Leben, ganz unabhängig von der Krankheit, ungesunde Spuren in der Psyche hinterlassen hat. Eine körperliche Krankheit sucht sich nicht nur psychisch unbeschadete Menschen aus. Was diese Menschen und ihre Angehörigen in unserer Klinik bekommen, ist ein kleines Geschenk in verlustreicher Zeit: den einfachen Zugang zu klassischer Psychotherapie, und niemand fragt, in wie vielen der Gespräche es im engeren Sinne um onkologisches Erlebensmaterial geht.

Ob wir eher psychotherapeutisch oder eher psychoonkologisch arbeiten – in all diesen Fällen ist etwas da, was uns Psychologen zu Psychologen macht: ein seelisches Problem, das wir gemeinsam mit unserem Gegenüber auf den Weg der Veränderung und Verbesserung bringen wollen. Psychologen sind angewiesen auf Probleme wie Ärzte auf Krankheiten. Doch nicht alle, die sich in unserer Sprechstunde einfinden oder die wir auf den Stationen besuchen, kommen uns in dieser Weise entgegen.

 

Krebs ist eine körperliche, keine psychische Krankheit. Natürlich ist die Psyche des Krebskranken betroffen, negativ betroffen von der Tatsache der körperlichen Krankheit, aber negative Betroffenheit ist keine ungesunde, sondern eine gesunde Reaktion auf ein negatives Ereignis. Es gibt eine Menge Gefühle und Verhaltensweisen in Zusammenhang mit einer Krebserkrankung, die ohne Zweifel von großer psychischer Belastung zeugen, die wir aber nicht anders als gesund und normal bezeichnen können. Zum Beispiel das verzweifelte oder wütende Hadern mit der Krankheit, Überforderung und Orientierungslosigkeit angesichts der neuen erschreckenden Lebensthematik, das hyperaktive Suchen nach zusätzlichen Behandlungsmöglichkeiten; als normal bezeichnen wir auch eine permanent hohe Gefühlsintensität ebenso wie den Rückzug in sich selbst. Und es gibt noch vieles mehr, was angesichts einer extrem ungesunden und abnormalen Situation als psychisch gesund und normal gelten kann. Werden wir auf Wunsch der Ärzte, des Pflegepersonals oder der PatientInnen selbst trotzdem hinzugezogen, dann erscheinen wir mit unserem schlichten Menschsein und nehmen Anteil an einer Qual, die wir, wären wir selbst betroffen, nicht anders empfinden würden.

 

Wo bleibt in solchen Fällen die berufliche Identität, das Ego der Psychoonkologin? Mein Kollege sagt: In solchen Fällen arbeitest du supportiv. Anteilnahme ist Unterstützung. Ich bin froh, dass er einen Terminus zur Verfügung stellt, der mein schlichtes Menschsein als etwas Professionelles ausweist.

Psychoonkologie ist das Oszillieren zwischen Mitmenschlichkeit und Profession.

 

Ich möchte dazu die Geschichte einer 38-jährigen Patientin erzählen, einer lebensprühenden Frau, einer glücklichen Ehefrau, einer vollblütigen Mutter von drei Kindern. Unter dem Einfallwinkel von Krebs leuchtet das geliebte Leben außerordentlich hell und frei von Ambivalenzen.

Als ich die Patientin im Krankenzimmer besuche, klammert sie sich ohne jede Erklärung an mich, und halb stammelnd, halb schreiend wiederholt sie nur immer den einen Satz: Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Atem geht schnell, und sie krallt sich mit beiden Händen in meinen Arm. Entsetzen und Panik überfluten sie. Stoßweise bringt sie hervor, der Arzt habe ihr vor einer halben Stunde mitgeteilt, dass ihr bösartiger Hautkrebs trotz der Chemotherapie rapid gewachsen sei, man habe nun auch Ableger im Gehirn gefunden. Der Arzt habe ihr eröffnet, dass es keine weitere Therapie mehr gäbe, die ihr Leben retten oder auch nur verlängern könnte.

 

Die extreme Reaktion der Patientin erscheint mir gesund und normal angesichts einer extremen Realität, auch wenn es sich um ein Erleben von äußerst negativer Qualität handelt. Es erscheint mir auch in keiner Weise auffällig, dass sie im Rahmen unserer funktionellen Begegnung spontanen und heftigen Körperkontakt mit mir aufnimmt. Was normal und was befremdlich ist, ist situations- und kontextabhängig.

 

An diesem fast nur mitmenschlich relevanten Fall will ich, bevor ich seinen weiteren Verlauf schildere, als Fachfrau immerhin die Gelegenheit wahrnehmen, aufzuzeigen, wie man Psychisches überhaupt erkennt und erfasst. Wir Psychologen haben es ja nicht wie die Mediziner mit Knochen und Organen, Blut und Rückenmark, also mit Materiellem zu tun, sondern mit Immateriellem. Die Psyche ist im Gegensatz zum Körper unsichtbar, unwägbar und letztlich ein Konstrukt. Dennoch nimmt dieses Konstrukt Tag und Nacht spürbar Gestalt an, am Tag in wachem, nachts in träumendem Zustand.

 

Wie erkennt und erfasst man etwas, das es substanziell gar nicht gibt und das dennoch zweifellos präsent oder auch verzweiflungsvoll präsent ist?

 

Erinnern wir uns an die Reaktionen der Patientin: Ihre Gedanken reduzieren sich auf den einen Satz «Ich will nicht sterben», der wie ein Presslufthammer in ihrem Kopf dröhnt. Im Gefühl wird sie überflutet von Entsetzen und Panik. Körperlich reagiert sie mit geweiteten Augen und beschleunigtem Atem. Und handlungsmäßig klammert sie sich an mich wie ein Kind. Auf diesen vier Ebenen – der gedanklichen, der emotionalen, der körperlichen und der verhaltensmäßigen – ist Psychisches angesiedelt. Subjektiv erlebt es die Betroffene, objektiv beobachtet es die Psychologin. Und sie teilt das Erleben, wenn sie es teilen kann, das heißt, wenn es im kontextuellen und situativen Rahmen ein stimmiges, ein nachvollziehbares Erleben ist. Das war es in diesem Fall ohne Frage.

 

Die Psychologin stellt aber noch eine andere Frage: Ist das nachvollziehbare Erleben auch ein wünschenswertes? Das war es ohne Frage nicht. Ein psychischer Ausnahmezustand ist kein wünschenswerter Zustand, nicht umsonst klammert die Patientin sich haltlos an mich. In Zusammenhang mit Krebs stoßen wir in den allermeisten Fällen auf eine solche Art des Erlebens: Es ist adäquat, aber nicht wünschenswert. So entsteht meist von selbst der therapeutische Auftrag: Wir versuchen, die Erlebensqualität unserer PatientInnen zu verbessern.

 

Therapeutische Arbeit besteht im Kern darin, Patienten für Veränderung zu gewinnen, für ein günstigeres Verhalten oder eine günstigere Haltung gegenüber einem gravierenden Problem. In der Psychoonkologie bestimmen medizinische Diagnose und Prognose, wo die mögliche Veränderung zu suchen ist, ob mehr in der äußeren oder mehr in der inneren Realität der Patienten. Je machtloser die Ärzte der Krankheit gegenüberstehen, desto wichtiger wird es, den inneren Spielraum zu nutzen. Er besteht darin, dass man ein Problem auch anders ansehen oder dass man die Aufmerksamkeit auf etwas anderes als das Problem richten kann. Erleben ist, was wir mit unserer Aufmerksamkeit fokussieren – und wie wir es fokussieren. Die Haltung Es ist unerträglich, dass ich sterben muss verdunkelt nicht das Sterben, sondern das Weiterleben. Psychoonkologie ist nicht selten Psychotherapie, die den Weg durch eine Nadel ohne Öhr sucht. Wie kann es gelingen, auf das zukünftige Sterben so zuzugehen, dass man es in der Gegenwart ertragen kann?

 

Weil der Anlass, aus dem unsere PatientInnen zu uns kommen, kein geringerer ist als reale Lebensgefahr, und weil das primäre Leiden, das daraus resultiert, so gänzlich unneurotisch und unverschuldet ist, oszilliert unsere Arbeit immer wieder zwischen Profession und Mitmenschlichkeit, und manchmal verblasst das eine ganz hinter dem anderen.

Der zeitweilige Verlust unserer beruflichen Handlungsfähigkeit geschieht jedoch nicht einfach immer wieder, unmerklich oder diffus, sondern er geschieht vor allem in zwei bestimmten Situationen. Eine davon hat mit einer Frage zu tun, die an den Kern unserer Arbeit rührt: Ist das Erleben der Patientin überhaupt veränderbar?

In der Schocksituation, in der sich die Melanom-Patientin befindet, ist die Antwort nein. Der Schock ist eine autonom ablaufende psychophysische Reaktion. Er ist durch die beschriebenen Symptome gekennzeichnet: eingeengte Gedanken, emotionale Überwältigung, Körperstress und Notfallverhalten. In Form von Erstarrung hat der Schock Schutzfunktion, in Form von Übererregung dient er der Abreaktion überschüssiger Energie. Als Therapeutin, das heißt als Fachperson für Veränderung und Verbesserung einer psychischen Problematik, bin ich fehl am Platz. Im Moment des akuten Schocks gibt es nichts zu verändern und zu verbessern.

 

Die berufliche Arbeit mit der Patientin bleibt dementsprechend bescheiden. Mit nichts als meiner menschlichen Ausstattung setze ich mich zu ihr aufs Bett, nehme sie in den Arm und streichle ihr beruhigend über den Kopf. Dazu wiederhole ich ihre Worte: Sie wollen nicht sterben, nein, Sie wollen nicht sterben, ich weiß, dass Sie nicht sterben wollen. Ich erkenne an, was sie jetzt gerade erlebt, und halte es aus. Das ist alles.

 

Die zweite therapeutisch unfruchtbare Situation hat mit der Frage zu tun: Würde eine mögliche Veränderung des Erlebens auch eine Verbesserung mit sich bringen?

 

Nach dem Absturz in Entsetzen und Ohnmacht macht die Patientin auf einmal eine neue Bewegung. Sie lässt meinen Arm...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2014
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Krebs • Onkologie • Psychoonkologie • Sterbebegleitung
ISBN-10 3-644-02871-0 / 3644028710
ISBN-13 978-3-644-02871-5 / 9783644028715
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