Der große Plan (eBook)
440 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-260-5 (ISBN)
Nach seinem Erfolgstitel »Die heile Welt der Diktatur« über die Ära Honecker (1998) folgte 2011 »Aufbruch nach Utopia« über die 1960er Jahre, und nun wird mit dem Band »Der große Plan« über die Aufbauzeit in den fünfziger Jahren die Gesamtschau vollendet.
Jahrgang 1950, Studium der Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1972 Relegation aus politischen Gründen, Arbeit in einem Produktionsbetrieb, nach einem Jahr »Bewährung in der Produktion« konnte er sein Studium fortsetzen, 1976-1989 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1984 Promotion, 1990 Mitarbeiter des Komitees zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, 1991-1996 Assistent an der Humboldt-Universität, 1996-1998 Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1998-2000 Referent bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und bis 2005 Mitarbeit im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, seit 2005 wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums Berlin.
Stefan Wolle: Jahrgang 1950; Studium der Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1972 Relegation aus politischen Gründen; Arbeit in einem Produktionsbetrieb; 1976 - 89 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR; 1984 Promotion; 1990 Mitarbeiter des Komitees für die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit; 1991 - 96 Assistent an der Humboldt-Universität; 1998 - 2000 Referent bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; seit 2001 Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, seit 2005 außerdem wissenschaftlicher Leiter des DDR Museums Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur DDR-Geschichte, darunter "Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968", Berlin 2008.
PrologVom Wiegenfest zur Totenfeier
Ein Wendepunkt in der Geschichte Europas
Der Oktober in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Welche Unwetter sich am politischen Horizont auch immer zusammenbrauen – der Himmel über Berlin ist in diesen Tagen fast immer strahlend blau, der Wind treibt weiße Wolkenfetzen vor sich her, und eine freundliche Sonne lässt die Bäume der Parkanlagen und Alleen in der bunten Pracht des Herbstes erstrahlen. Ein Wetter wie geschaffen für Volksfeste mit Bierzelten, Blasmusik und Bratwurstbuden. Die DDR hätte sich für ihren Geburtstag kein besseres Datum wünschen können als jenen 7. Oktober, an dem alle Jahre wieder die Gründung der Republik gefeiert wurde.
Bereits am 21. April 1950, also nur wenige Monate nach der Staatsgründung, erhob die Volkskammer den 7. Oktober zum Tag der Republik.1 Seit 1975 war offiziell vom Nationalfeiertag die Rede, wollte doch der ostdeutsche Teilstaat so gern eine eigenständige Nation sein. Doch weder der sperrige Name noch die reichlich abgehobene Idee von der sozialistischen Nation wurden in der Bevölkerung wirklich populär.
Überhaupt liebte die DDR Gedenkjahre, Jubiläen und runde Geburtstage. Die Beschwörung der Historie verlieh dem seiner selbst unsicheren Staatswesen den Anschein von Würde und Achtbarkeit. So wie sich Hans Christian Andersens kleine Seejungfrau eine Seele wünschte oder die Holzpuppe Burattino mit der langen Lügennase ein richtiger Junge sein wollte, so dürstete die DDR nach Geschichtlichkeit. Sie sah sich als das »bessere Deutschland«, als den »ersten Friedensstaat auf deutschem Boden«,2 als »Krönung des jahrhundertelangen Kampfes der Besten des deutschen Volkes für den gesellschaftlichen Fortschritt«.3
Selbst als Josef Stalin von seinen Nachfolgern längst in den Orkus des Vergessens geschleudert worden war, zitierte die offizielle SED-Parteigeschichte immer wieder aus dem Telegramm des Generalissimus vom 13. Oktober 1949: »Die Bildung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas,«4 Das hörten die DDR-Oberen gern. Doch sie wollten noch mehr. Ohne einen Schatten von Selbstzweifel erklärte sich die SED zum Bestandteil eines säkularen Heilsprozesses von naturgesetzlicher Wirkungskraft. In der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und in dessen Nachfolge von Karl Marx postulierten Entwicklung der Menschheit vom Niederen zum Höheren sahen sie sich ganz oben und im weiteren Steigflug begriffen. Die objektive historische Gesetzmäßigkeit trat als Surrogat an die Stelle der demokratischen Zustimmung, die das eigene Volk der SED vom ersten bis zum letzten Tag verweigerte.
So rollten erbarmungslos historisierende Großinszenierungen über das Land. Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 fiel in das Goethe-Jahr, das den »demokratischen Neubeginn« in die humanistische Tradition der deutschen Klassik stellen sollte. Im selben Jahr wurde der 70. Geburtstag Stalins gefeiert. Diese seltsame Kombination von Humanismus und Terror wurde von den Weihrauchschwenkern der Parteidiktatur durchaus nicht als Gegensatz gesehen, sondern vom Staatsdichter Johannes R. Becher als »Versöhnung von Macht und Geist« gepriesen.5
Das Jahr 1953 zelebrierte die DDR als Karl-Marx-Jahr. Es bescherte den überraschten Einwohnern von Chemnitz einen neuen Namenspatron, obwohl der bärtige Prophet aus Trier mit der sächsischen Industriestadt nicht das Geringste zu tun hatte. Ein damals kursierendes Gerücht besagte, die regionalen Instanzen hätten eilig Chemnitz zur Umbenennung ausgewählt, um Leipzig dieses Schicksal zu ersparen.
In unregelmäßigen Intervallen folgten weitere Großjubiläen. 1955 wurde unter der patriotischen Losung »Wir sind ein Volk« ein Schiller-Jahr veranstaltet, nicht ahnend, dass diese Parole 34 Jahre später auf den Straßen von Leipzig skandiert werden sollte. 1967 wurde der 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution begangen. Für Monate stand jede Neueröffnung im Zeichen des Roten Oktobers. Just am Revolutionsfeiertag, dem 7. November 1967, wurde unter ausdrücklicher Berufung auf die legendären Schüsse des Panzerkreuzers »Aurora« das erste Goldbroiler-Restaurant in Ost-Berlin eröffnet.6 Niemand fand das lächerlich, weder die Politprominenz, die zu diesem Anlass aufgeboten wurde, noch die Liebhaber des leckeren Brathühnchens. 1984 folgte das Luther-Jahr, 1985 die Johann-Sebastian-Bach-Ehrung, und für 1989 war ein Thomas-Müntzer-Jubiläum in Angriff genommen worden, bei dessen Eröffnung am 19. Januar 1989 Erich Honecker die denkwürdige Prognose abgab, die Mauer werde noch fünfzig oder hundert Jahre stehen.7 Je mehr die Gesellschaft ihre Zukunftsperspektiven verlor, desto liebevoller wurde die geschichtliche Erinnerung zelebriert.
So reihte sich ein Jubiläum an das andere, doch am liebsten feierte die DDR sich selbst. Anlässlich der runden Jahrestage überschlugen sich die »gesellschaftlichen Aktivitäten«, wie dies in der Sprache der Kampfprogramme und Rechenschaftsberichte hieß. Die Werktätigen in Stadt und Land erbrachten – wollte man den Staatsmedien glauben – großartige Leistungen, die sie der Republik auf den Gabentisch legten. Die Schulkinder bastelten Papierblumen, schnitten Friedenstauben aus weißem Zeichenpapier und klebten den Festschmuck an die Fenster der Klassenzimmer. Mit Girlanden und Fähnchen schmückten sie die Wandzeitungen, an denen mit Reißzwecken die Erfolgsmeldungen und Selbstverpflichtungen befestigt waren.
Bereits zum 10. Jahrestag der DDR eröffnete Walter Ulbricht im Berliner Zeughaus eine opulente Ausstellung über die Geschichte und »das herrliche Morgen unseres großen Siebenjahrplans«.8 Damals tauchte erstmals auf den Plakaten und Losungen das große X – das römische Zahlzeichen für zehn – auf. Wie Kaiser, Könige, Päpste und kommunistische Parteitage bezeichnete man die Jahrestage der DDR mit römischen Ziffern. Das signalisierte Reputation und altes Herkommen. Zum 20. Jahrestag wurde das Land mit den zwei Kreuzen des römischen Zahlzeichens regelrecht überschwemmt. Am 7. Oktober 1969 projizierten Flakscheinwerfer die zwei Kreuze an den nächtlichen Himmel über Berlin. »Warum wird man den dreißigsten Jahrestag ausfallen lassen?«, fragten nach dem Großereignis die ewigen Witzbolde. »Weil man dann drei Kreuze machen müsste«, lautete die despektierliche Antwort. Sei es aus Furcht vor der Lächerlichkeit oder aus Sparsamkeit: Tatsächlich ging man 1979 zu der raumsparenden arabischen Bezifferung über und behielt es weitere zehn Jahre so bei.
Auf dem Gabentisch der Republik
Im Oktober 1989 war es wieder mal so weit. Auch zum 40. Republikgeburtstag enttäuschten die meteorologischen Erwartungen nicht. Der Herbst war sogar noch milder als gewöhnlich und versprach schöne Feiertage. Wie jedes Jahr füllten sich die Zeitungsspalten und Fernsehberichte mit Meldungen über Planerfüllungen und -übererfüllungen zu Ehren der Republik. Dabei ergoss sich wie stets eine Flut von unüberprüfbaren und beziehungslosen Zahlen über den Leser. So vermeldete die 17. Konferenz der Initiatoren, Neuerer und Rationalisatoren des Bezirks Gera im Oktober 1989: »Die geplante Nettoproduktion konnte mit 62,3 Millionen Mark und die industrielle Warenproduktion um 118,7 Millionen Mark überboten werden. … Zusätzlich bereitgestellt sind unter anderem 4028 Wohnraumleuchten, 1150 Heißluftkämme, 20 000 Straßenschuhe, 254 000 Quadratmeter Gewebe für Kleider und Blusen.«9 So ging es Tag für Tag und Zeitungsseite um Zeitungsseite. Selbst wenn die Zahlen formal gestimmt haben sollten, sagten sie nichts über die Qualität, die Preise oder die Verfügbarkeit der Waren im Einzelhandel aus. So wurde am 2. Oktober 1989 die Produktion von 40 000 zusätzlichen Farbfernsehern durch den VEB Robotron-Elektronik Radeberg gefeiert. Die Geräte waren maßlos überteuert, technisch veraltet und nur für das Farbsystem der DDR brauchbar. Wer sich damals noch so einen Fernsehapparat aus der volkseigenen Produktion gekauft hatte, dürfte sich schon einige Monate später kräftig geärgert haben.
Für Freitag, den 6. Oktober 1989, waren Pionierkleidung und für die größeren Schüler ab 14 Jahren das FDJ-Hemd angeordnet. Nach der letzten Schulstunde fand ein Fahnenappell statt, und der Schulleiter oder der Sekretär der Parteileitung hielt eine Rede. Richtschnur war ihm dabei die aktuelle Ausgabe des Zentralorgans »Neues Deutschland«. In den Ansprachen dieser Tage wurde stets an den schweren Anfang erinnert, es wurden die großartigen Erfolge beschworen, die man der Partei der Arbeiterklasse und ihrer Führung verdankte, dann wurde das Menschenrecht auf Arbeit, soziale Sicherheit und Bildung hervorgehoben – eine rhetorische Pflichtübung, die seit der Eröffnung der Menschenrechtskampagne des US-Präsidenten Jimmy Carter nicht fehlen durfte. Es folgte der obligatorische Seitenhieb auf die angebliche Hetze des Klassenfeindes, der einen propagandistischen Großangriff gegen die DDR begonnen habe. Dann wurde die Flagge gehisst, und der Redner schickte die Schüler in ein ereignisreiches Wochenende. Längst waren die Pioniere und FDJler in Zehnergruppen eingeteilt, die sich zu bestimmten Stellzeiten an festgelegten Punkten einzufinden hatten, um dann unter der Aufsicht von Pionierleitern und Lehrern die Kulisse für das große Jubelfest zu bilden.
Auch die allgemeine...
Erscheint lt. Verlag | 17.12.2013 |
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Reihe/Serie | Alltag und Herrschaft in der DDR |
Zusatzinfo | 9 s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik | |
Schlagworte | Arbeiter-und-Bauern-Fakultät • Aufbruch nach Utopia • DDR-Alltag • DDR-Geschichte • DDR-Schlager • DEFA • Die heile Welt der Diktatur • FDJ • Kollektivierung • Kominformtagung • Ostjugend • Otto Krahmann • SED-Parteikonferenz • Stalinallee • Stasi-Akten • Ulbricht • Weltfestspiele |
ISBN-10 | 3-86284-260-6 / 3862842606 |
ISBN-13 | 978-3-86284-260-5 / 9783862842605 |
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