Preußen (eBook)
896 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-12882-1 (ISBN)
Preußen stand stets in einem Spannungsfeld: seit seinem Aufstieg vom kleinen, an Bodenschätzen armen Territorium um Berlin bis zu seiner Blüte als der dominierenden Macht in Europa. Es verkörpert nicht nur Aufklärung und Toleranz, etwa in der Gestalt Friedrichs des Großen, sondern steht auch - vor allem durch Wilhelm II. - für Militarismus, Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung.
Meisterhaft erzählt Christopher Clark die Geschichte Preußens von den Anfängen bis zur Auflösung des Staates im Jahr 1947. Mit seiner großen, 350 Jahre umfassenden Darstellung gelingt es Clark nicht nur, die äußerst ambivalente Geschichte dieser europäischen Großmacht lebendig und anschaulich zu schildern, sondern auch, sie von etlichen Mythen zu befreien.
Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch »Preußen« erhielt er 2007 den renommierten Wolfson History Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs. Sein epochales Buch über den Ersten Weltkrieg, »Die Schlafwandler« (2013), führte wochenlang die deutsche Sachbuch-Bestseller-Liste an und war ein internationaler Bucherfolg. 2018 erschien von ihm der vielbeachtete Bestseller »Von Zeit und Macht«, 2020 folgte das von der Kritik gefeierte »Gefangene der Zeit« und 2023 das Epochengemälde »Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt«. Einem breiten Fernsehpublikum wurde Christopher Clark bekannt als Moderator der mehrteiligen ZDF-Doku-Reihen »Deutschland-Saga«, »Europa-Saga« und »Welten-Saga«. 2022 wurde ihm der Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten verliehen.
Einleitung
Am 25. Februar 1947 unterzeichneten Vertreter der alliierten Besatzungsbehörden in Berlin ein Gesetz zur Auflösung des preußischen Staates. Von diesem Tage an gehörte Preußen der Geschichte an.
Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Geleitet von dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker und erfüllt von dem Wunsche, die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern, erlässt der Kontrollrat das folgende Gesetz:
ARTIKEL I
Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst. 1
Das Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats war weit mehr als ein bloßer Verwaltungsakt. Indem sie Preußen von der europäischen Landkarte tilgten, fällten die alliierten Behörden zugleich ihr Urteil über dieses Land. Preußen war kein deutsches Land wie jedes andere, auf einer Stufe mit Baden, Württemberg, Bayern oder Sachsen. Preußen war der eigentliche Ursprung der deutschen »Krankheit«, die Europa ins Unglück gestürzt hatte. Preußen war der Grund, warum Deutschland den Pfad des Friedens und der politischen Moderne verlassen hatte. »Das Herz Deutschlands schlägt in Preußen«, sagte Churchill am 21. September 1943 im britischen Parlament. »Hier liegt der Ursprung jener Krankheit, die stets neu ausbricht.« 2 Dass Preußen von der politischen Landkarte Europas verschwand, war daher zumindest symbolisch eine Notwendigkeit. Seine Geschichte war »zum Alb geworden, der auf dem Gehirne der Lebenden lastete«.
Dieses schmachvolle Ende lastet auf dem Gegenstand dieses Buches. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte man ein überwiegend positives Bild der preußischen Geschichte gezeichnet. Die protestantischen Historiker der »Preußischen Schule« feierten den preußischen Staat als Vehikel der effektiven Verwaltung und des Fortschritts, als Befreier des protestantischen Deutschlands von der österreichisch-habsburgischen und der französisch-napoleonischen Plage. Sie sahen den 1871 gegründeten, von Preußen dominierten Nationalstaat als den natürlichen, unvermeidlichen und bestmöglichen Endpunkt der historischen Entwicklung Deutschlands seit der Reformation.
Dieses rosarote Bild der preußischen Vergangenheit verblich nach 1945, als die Verbrechen des NS-Regimes ihren langen Schatten auf die deutsche Geschichte warfen. Der Nationalsozialismus sei kein Zufall gewesen, argumentierte der bekannte Historiker Ludwig Dehio, sondern »das akute Symptom eines chronischen [preußischen] Gebrechens«. Der Österreicher Adolf Hitler sei von seiner Mentalität her ein »Wahlpreuße« gewesen. 3 Diese Deutung, derzufolge die deutsche Geschichte der Neuzeit vom »normalen« (d.h. britischen, amerikanischen oder westeuropäischen) Reifeprozess zu weitgehender Liberalität und politischer Stabilität abgewichen sei, fand immer mehr Anhänger. Während in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden die Macht der traditionellen Eliten und politischen Institutionen durch »bürgerliche Revolutionen« gebrochen worden sei, so die Begründung, sei dies in Deutschland nicht gelungen. Stattdessen sei Deutschland einem »Sonderweg« gefolgt, der in zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft gipfelte.
In diesem Szenario der politischen Fehlentwicklung kam Preußen eine Schlüsselrolle zu, denn hier waren die klassischen Kennzeichen des Sonderwegs am deutlichsten ausgeprägt. Das wichtigste dieser Kennzeichen war die ungebrochene Macht der Junker, jener adeligen Gutsbesitzer in den Gebieten östlich der Elbe, deren dominierende Stellung in der Verwaltung, im Militär und in der ländlichen Gesellschaft das europäische Zeitalter der Revolutionen unbeschadet überstanden hatte. Die Folgen für Preußen (und damit für Deutschland) waren, so schien es, verheerend: eine von Engstirnigkeit und Intoleranz geprägte politische Kultur, der Hang, Macht höher einzuschätzen als Recht und Gesetz, und eine ungebrochene militaristische Tradition. Im Zentrum fast aller Diagnosen des Sonderwegs stand der Gedanke einer einseitigen oder »unvollständigen« Modernisierung, bei der die Entwicklung der politischen Kultur mit den Innovationen und dem Wachstum im Bereich der Wirtschaft nicht Schritt gehalten habe. Dieser Lesart zufolge war Preußen der Fluch des neuzeitlichen Deutschlands und der europäischen Geschichte. Preußen habe dem jungen deutschen Nationalstaat den Stempel seiner eigenen politischen Kultur aufgedrückt, die liberalere politische Kultur Süddeutschlands beiseitegeschoben und so die Grundlagen für politischen Extremismus und ein diktatorisches Regime gelegt. Autoritarismus, Unterwürfigkeit und Gehorsam hätten zum Zusammenbruch der Demokratie geführt und der Diktatur den Weg geebnet. 4
Dieser Paradigmenwechsel in der historischen Wahrnehmung stieß bei jenen Historikern, die den aufgelösten Staat zu rehabilitieren versuchten, auf energischen Widerspruch (vor allem in der Bundesrepublik, und vor allem bei Historikern, die liberal oder konservativ eingestellt waren). Sie betonten die positiven Errungenschaften Preußens – die unbestechliche Beamtenschaft, die Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten, das von den anderen deutschen Staaten bewunderte und nachgeahmte preußische » Allgemeine Landrecht« von 1794, die im 19. Jahrhundert von keinem anderen Staat übertroffene Alphabetisierungsrate und die beispielhafte Effizienz der Bürokratie. Sie lenkten die Aufmerksamkeit auf die Dynamik der preußischen Aufklärung. Sie unterstrichen die Fähigkeit des preußischen Staates, sich in Krisenzeiten zu wandeln und neu zu konstituieren. Der politischen Unterwürfigkeit, immer wieder von den Anhängern des deutschen Sonderwegs in den Vordergrund gerückt, stellten sie bemerkenswerte Fälle von Ungehorsam gegenüber und betonten insbesondere die Rolle der preußischen Offiziere beim Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Das von ihnen gezeichnete Preußen war auch nicht frei von Fehlern, aber es hatte wenig mit dem Rassenstaat gemeinsam, den die Nationalsozialisten geschaffen hatten. 5
Ihren Höhepunkt erreichten diese Bemühungen um eine Rehabilitation Preußens mit der großen Preußen-Ausstellung, die 1981 in West-Berlin gezeigt wurde und mehr als eine halbe Million Besucher anzog. Auf seinem Rundgang konnte der Betrachter mit Hilfe einer Vielzahl von Objekten und Texttafeln, die von einem internationalen Wissenschaftlerteam zusammengestellt worden waren, die Geschichte Preußens nach verfolgen. Neben militärischen Ausrüstungsgegenständen, Stammbäumen von Adelsfamilien, Darstellungen des höfischen Lebens und Bildern von historischen Schlachten gab es auch Räume zu den Themen »Toleranz«, »Emanzipation« und »Revolution«. Die Ausstellungsmacher wollten die Vergangenheit nicht in ein nostalgisches Licht tauchen (gleichwohl war vielen Kritikern auf der politischen Linken das Konzept definitiv zu wohlwollend), sondern abwechselnd Licht und Schatten zeigen und so eine »Bilanz« der preußischen Geschichte ziehen. Die Kommentare zu der Ausstellung – sowohl in den offiziellen Katalogen als auch in den Medien – beschäftigten sich vorrangig mit der Bedeutung Preußens im heutigen Deutschland. Ein Großteil der Diskussion kreiste um die Frage, welche Lehren aus der schwierigen Reise Preußens in die Moderne zu ziehen seien. Es sei notwendig, so war zu vernehmen, die »Tugenden« – wie Toleranz oder den uneigennützigen Dienst am Gemeinwohl – in Ehren zu halten und sich gleichzeitig von den weniger appetitlichen Eigenschaften in der preußischen Tradition zu lösen, etwa von autokratischen Einstellungen in der Politik oder der Tendenz, militärische Erfolge zu glorifizieren. 6
Auch heute noch, über zwei Jahrzehnte später, scheiden sich an Preußen die Geister. Nach der Vereinigung Deutschlands 1990 und der Verlegung des Regierungssitzes vom katholisch geprägten Bonn im »Westen« in das protestantische Berlin im »Osten« kamen Bedenken auf, ob die Macht der preußischen Vergangenheit tatsächlich als »gezähmt« gelten könne. Würde der »altpreußische Geist« wiedererwachen und die deutsche Republik heimsuchen? Der Staat Preußen ist ausgelöscht, doch der Begriff »Preußen« als politisches Symbol hat eine gewisse Renaissance erlebt. Er ist zu einem Slogan der Rechten in Deutschland geworden, die in den »altpreußischen Traditionen« ein tugendhaftes Gegengewicht sehen zur »Orientierungslosigkeit«, dem »Werteverfall«, der »politischen Korruption« und dem Verlust einer kollektiven Identität im heutigen Deutschland. 7 Für viele in Deutschland ist »Preußen« allerdings auch heute noch ein Synonym für alles Abstoßende in der deutschen Geschichte, für Militarismus, Eroberung, Arroganz und Intoleranz. Die Kontroverse über Preußen flackert immer dann wieder auf, wenn preußische Symbole ins Spiel kommen. Ereignisse wie die Umbettung der sterblichen Überreste Friedrichs des Großen in den Schlosspark von Sanssouci im August 1991 oder der Plan, das Berliner Stadtschloss der Hohenzollern wieder aufzubauen, führen immer wieder zu hitzigen öffentlichen Diskussionen. 8
Im Februar 2002 wurde der Sozialdemokrat Alwin Ziel, bis dahin eher unauffälliger Minister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg, schlagartig bekannt, als er sich in die Debatte um eine...
Erscheint lt. Verlag | 20.11.2013 |
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Übersetzer | Richard Barth, Norbert Juraschitz, Thomas Pfeiffer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia. 1600-1947 |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 1815 • 1870/71 • Alliierte Besatzung • Aufklärung • Bayerischer Buchpreis 2022 • Berlin • Bismarck • Brandenburg • Demokratie • der Deutsche Bund • Der Große Kurfürst • Deutsch-dänischer Krieg • Deutsche Geschichte • Deutsche Geschichte, Preußen • Deutschland • Drittes Reich • eBooks • Ehrenpreis des bayerischen Ministerpräsidenten • Friedrich der Große • Friedrich Wilhelm I. • Gegenaufklärung • Geschichte • Großmacht • Hohenzollern • jüdische Aufklärung • Landreform • Militarismus • Monarchie • Neutralität • Pietismus • Preußen • Preußisch-Österreichischer Krieg • Revolution • sapere aude • Standardwerk • Wilhelm II. |
ISBN-10 | 3-641-12882-X / 364112882X |
ISBN-13 | 978-3-641-12882-1 / 9783641128821 |
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