Der Traum von der Revolte (eBook)

Die DDR 1968

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
256 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-229-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Traum von der Revolte - Stefan Wolle
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Der 68er-Grundton von Provokation und Respektlosigkeit wirkte auch über die Mauer hinweg. Aus Prag wehte zudem ein belebender Frühlingshauch. Die Führung der Tschechoslowakei hatte den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« proklamiert, der bei vielen Jugendlichen in der DDR begeistert aufgenommen wurde. Doch am 21. August starben die Reformhoffnungen unter sowjetischen Panzerketten. Es kam zu wild aufwallender Empörung in Teilen der Bevölkerung und Strafaktionen der Ost-Berliner Staatsmacht. Eine Zeit der Stagnation begann.
Mit der Präzision des gelernten Historikers und dem individuellen Erinnerungsvermögen des wachen Zeitgenossen liefert Stefan Wolle ein beeindruckendes Gesellschaftspanorama, das verständlich macht, wieso es - anders als im Westen - nicht zu einer wirklichen Revolte und zu einem Generationswechsel in der DDR kam.

Jahrgang 1950, Studium der Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1972 Relegation aus politischen Gründen, Arbeit in einem Produktionsbetrieb, nach einem Jahr »Bewährung in der Produktion« konnte er sein Studium fortsetzen, 1976-1989 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1984 Promotion, 1990 Mitarbeiter des Komitees zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, 1991-1996 Assistent an der Humboldt-Universität, 1996-1998 Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1998-2000 Referent bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und bis 2005 Mitarbeit im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, seit 2005 wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums Berlin.

Jahrgang 1950, Studium der Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin, 1972 Relegation aus politischen Gründen, Arbeit in einem Produktionsbetrieb, 1976-89 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1984 Promotion, 1990 Mitarbeiter des Komitees für die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, 1991-96 Assistent an der Humboldt-Universität, 1996-98 Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1998-2000 Referent bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, danach freier Autor; zeitweilige Mitarbeit im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, seit 2005 wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums Berlin.

PROLOG


Das Ende der Großen Ferien


Die großen Ferien des Jahres 1968 neigten sich dem Ende entgegen. Nach einem kühlen und verregneten Sommer versprachen die letzten Ferientage, doch noch hochsommerlich schön zu werden. Am 20. August 1968 meldete die Zentrale Wetterdienststelle Potsdam: »An den kommenden Tagen ist zumindest vorübergehend mit Wetterbesserung und allmählichem Temperaturanstieg zu rechnen.« So blieb noch eine gute Woche Zeit zum Badengehen, faulen Herumliegen, Bücherlesen oder Verreisen, ehe Anfang September das Schuljahr und der Universitätsbetrieb wieder losgehen würden.

Auch in der hohen Politik war nach den Aufregungen der ersten Jahreshälfte endlich die Sauregurkenzeit eingekehrt, wie man die nachrichtenarme Zeit des Hochsommers damals nannte. Die rebellischen Studenten der westdeutschen und West-Berliner Universitäten waren in die Semesterferien gefahren. Die Weltrevolution machte Pause, und der Kurfürstendamm gehörte, wie eine West-Berliner Zeitung schrieb, wieder den Spaziergängern und den Damen, die mit großen Hüten im Café Kranzler saßen und Sahnetorten verspeisten.1 In Frankreich, das im Mai vor einer Revolution zu stehen schien, war nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der Konservativen unter Präsident Charles de Gaulle am 23. Juni 1968 Ruhe eingekehrt.

Auch in der Tschechoslowakei schien sich die Situation beruhigt zu haben. Offenbar hatte sich die Sowjetunion mit dem Kurs der reformkommunistischen Führung unter Alexander Dubček abgefunden. Die Medien der DDR hatten seit Anfang August jede Polemik gegen die Partei- und Staatsführung der Tschechoslowakei eingestellt. Am 13. August 1968 berichtete das Neue Deutschland ausführlich über ein Treffen zwischen Walter Ulbricht und Alexander Dubček. Auf den Fotos schüttelten sie sich freundschaftlich die Hände, und Schulkinder überreichten Blumen. Im Anschluss an eine gemeinsame Pressekonferenz erklärte Walter Ulbricht, es sei für ihn Zeit, endlich einmal Urlaub zu machen. Die Bemerkung wurde als positives Zeichen gewertet. Ein trügerischer Friede lag über dem Land.

Am frühen Morgen des 21. August 1968 zerrissen die Radiomeldungen über den Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei jäh die sommerliche Idylle. Die Nachricht von der Militäraktion gegen die ČSSR gehört zu jenen Meldungen, die sich tief ins Gedächtnis der Zeitgenossen eingeprägt haben. Noch heute wissen viele, unter welchen Umständen sie die Nachricht erreicht hat.

Mich weckte an diesem Morgen die Stimme des RIAS-Sprechers aus der Nachbarwohnung. Jahre später konnte man in den Akten der Staatssicherheit lesen, dass viele Leute die Westnachrichten demonstrativ laut einstellten und sogar die Fenster aufrissen, so dass die Nachrichten über die Straße hallten. Wenigstens die Staatssicherheit registrierte solche subtilen Formen des Protestes. Im Radio war die Rede von sowjetischen Panzern in Prag, von Schüssen vor dem Rundfunkgebäude, von Demonstrationen in vielen Städten der Tschechoslowakei und ersten Protesten in aller Welt. Nach der damaligen Nachrichtenlage musste man davon ausgehen, dass die Nationale Volksarmee der DDR auch direkt an der Militäraktion beteiligt war. 30 Jahre nach dem Münchener Abkommen waren wieder deutsche Soldaten in die Tschechoslowakei einmarschiert. So wenigstens war die allgemeine Wahrnehmung, die auch von den Medien der DDR gestützt wurde.

Die erste spontane Reaktion auf diese Nachrichten war eine wild aufflammende Empörung. Jenseits aller späteren Analysen und nachvollziehenden Erkenntnisse hat sich dieses Gefühl über die Jahrzehnte hinweg erhalten. Intuitiv spürten damals gerade junge Menschen, dass an diesem Tag etwas zerbrochen war, das sich nicht mehr reparieren lassen würde.

Natürlich gab es auch damals schon viele kluge Zeitgenossen, die in dem Einmarsch der verbündeten Armeen nur eine neuerliche Bestätigung dafür sahen, dass die Sowjetunion auf jeden Versuch einer Veränderung mit brutaler Gewalt reagieren würde. Sie hatten den Glauben an die Reformierbarkeit des Systems schon lange verloren – oder sie hatten ihn nie besessen. Doch gerade die Erfahrungen des 17. Juni 1953, des Ungarnaufstandes von 1956 und des Mauerbaus von 1961 sprachen für eine allmähliche Entwicklung zum Besseren, für eine vorsichtige und systemimmanente Modernisierung des Sozialismus, die den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion Rechnung trug. Immerhin gab es dafür Ansätze genug, selbst in der verknöcherten DDR. Auch die Tatsache, dass junge Menschen in Paris, West-Berlin, Rom und anderswo mit roten Fahnen durch die Straßen zogen, zeigte die Faszinationskraft der sozialistischen Idee und bestärkte im Osten viele in ihrem Traum von einem modernisierten und demokratischen Sozialismus.

Die Sympathie für den Prager Reformkurs war, wie auch die Anziehungskraft der antiautoritären Revolte im Westen, nicht unbedingt von großen Theorien gespeist, sondern weit mehr von der Sehnsucht nach einem kleinen bisschen Luft zum Atmen. Endlich öffnete sich das Fenster wenigstens einen Spaltbreit, und es wehte ein leiser Hauch von Freiheit durch die Stickluft des Mauerstaates. Am 21. August 1968 wurde dieses Fenster zugeschlagen.

An diesem Tag flossen viele Tränen. Immer wieder stößt man in Erzählungen auf diese einfache und schlichte Reaktion. Es war der Tag der Wut und Trauer über die Unbelehrbarkeit der Sowjetführung. Für viele war es auch ein Tag der Angst. Gerade bei älteren Leuten wurden böse Erinnerungen wach, als sie die Sondermeldungen im Radio hörten.

In der Küche stand meine Großmutter über das Abwaschbecken gebeugt und weinte still vor sich hin. »Immer wenn die Ernte vom Halm ist, gibt es Krieg«, schluchzte sie. Zweimal hatte sie es so erlebt, im August 1914 und Anfang September 1939. Sie war voller Sorge wegen der Familienangehörigen, die noch im Urlaub waren. Sicherlich würde das Militär die Zivilzüge mit Beschlag belegen, meinte sie. Sie reagierte auf ihre Weise auf die vorgebliche Kriegsgefahr und ging einkaufen: Mehl, Zucker, Haferflocken, Nudeln, Dauerbackwaren. Die Frauen ihrer Generation wussten, was in Krisenzeiten wichtig ist.

Im RIAS war davon die Rede gewesen, dass sich im Zentrum Ost-Berlins erregte Menschengruppen gebildet hätten. Also fuhr ich mit der S-Bahn ins Zentrum. Tatsächlich standen vor einer Kaufhalle einige ältere Frauen mit Einkaufstaschen und schimpften aufgeregt. Sie verstummten erschrocken, als sich ein Fremder näherte. Vielleicht hatten sie wegen der schnell um sich greifenden Rationierung von Lebensmitteln gemeckert. Angesichts der Hamsterkäufe gaben die Geschäfte knappe Lebensmittel nur noch in bestimmter Stückzahl aus.

Die Stadt lag träge im Dunst des schwülen Sommertages. Am Nachmittag zogen Gewitterwolken auf, und Regenschauer kündigten sich an. Die bleibende Erinnerung an jenen 21. August 1968 ist der bedrückende Gegensatz zwischen der inneren Aufgewühltheit und der äußeren Ruhe. Es mag sein, dass an jenem Tag noch mehr Volkspolizisten als sonst an den Straßenecken standen. Aus den Akten wissen wir heute, dass manche Passanten, die scheinbar ziellos durchs Berliner Zentrum schlenderten, von jener geheimen, aber allgegenwärtigen Überwachungspolizei waren, über die man damals noch sehr wenig wusste. Oder es handelte sich um treue Genossen, die von der Partei als »gesellschaftliche Kräfte« eingesetzt waren. In den Berichten der Bezirksverwaltung Groß-Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit werden die Erfolge dieser Kräfte ausdrücklich gelobt. Aber ihre segensreiche Tätigkeit bei der Jagd auf »Schmierer von Hetzlosungen und Verbreiter von staatsfeindlichen Hetzflugblättern« entfaltete sich erst in den folgenden Nächten. Sichtbar war die verstärkte Präsenz der Sicherheitskräfte an jenem Sommertag nicht.

Einer jener Reisebusse aus West-Berlin, die man in der Reisezeit stets sah, fuhr im Schritttempo durch die Friedrichstraße. Neugierige Touristen starrten durch die getönten Scheiben auf die matten Lebenszeichen im Ostsektor. Sicherlich hatten auch sie morgens in ihrem West-Berliner Hotel die Rundfunkmeldungen gehört. Doch warum sollten sie deswegen die bereits gebuchte Sightseeing-Tour durch die Hauptstadt der DDR absagen? Vielleicht würde sich aus der Krise sogar ein interessantes Fotomotiv ergeben?

Auch im Espresso an der großen Kreuzung von Friedrichstraße und Unter den Linden herrschte hochsommerliche Leere. Während des Semesters ging es in dem Kaffeehaus zu wie im Taubenschlag. Am Schnittpunkt aller Wege zwischen Humboldt-Universität, Staatsbibliothek, den Akademieinstituten und den Buchhandlungen des Stadtzentrums gelegen, führte kaum ein Weg am Espresso vorbei. Das kulinarische Angebot war selbst für DDR-Verhältnisse armselig, die Innenausstattung hatte den Charme eines Bahnhofsbistros, und die Luft war gesättigt von Zigarettenqualm. Die Serviererinnen allerdings waren von mütterlicher Güte. Hier hielten es ohnehin nur Mitarbeiter aus, die ein Herz für die jungen Leute hatten, die drei Stunden diskutierten und dazu nur eine Tasse Kaffee tranken. Schön war das Espresso nicht. Dafür war man am Puls der Zeit. Hier war der Weltgeist zu Hause. Auch Westbesucher aus der linken Szene kamen gern hierher, um zufällig oder gezielt Gesprächspartner zu treffen. Sie erzählten mit leuchtenden Augen von ihrer Revolte gegen das Establishment. Einige hatten sogar im Pariser Quartier Latin auf der Barrikade gestanden. Sie waren wie kleine...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2013
Reihe/Serie DDR-Geschichte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 1968 • 68er • APO • DDR • DDR-Gesellschaft • Friedliche Revolution • Prager Reformkurs • RAF • Sozialismus • Studentenbewegung
ISBN-10 3-86284-229-0 / 3862842290
ISBN-13 978-3-86284-229-2 / 9783862842292
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