Bitte. Nicht. Drängeln (eBook)

Ein Stadtführer für Misanthropen
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
160 Seiten
Diederichs Verlag
978-3-641-10666-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bitte. Nicht. Drängeln -  Kristin Kasten
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Die Hölle sind die anderen

Die Stadt schläft nie. Als Zenit der Modernität erfüllt sie ohne Ablass jegliche Bedürfnisse und Sonderwünsche ihrer Bewohner. Doch in diesem Paradies sind Adam und Eva in Unzahl unterwegs, und machen sich gegenseitig den Alltag schwer genießbar ...

Kristin Oeing erlebt den urbanen Irrsinn von Enge über Ekel bis Unverschämtheiten in U-Bahnschächten und Supermarktschlagen, im Schienenersatzverkehr und Wartezimmern. Die unverschämte Polemik einer überzeugten Großstädterin macht auch vor Selbstkritik nicht Halt, und ist der ideale Begleiter für alle, die sich Tag für Tag durch denselben Dschungel kämpfen.


  • •Trendthema Stadtleben
  • •Der perfekte Begleiter im Großstadtdschungel
  • •Humorvoll wider dem Sittenverfall


Kristin Oeing, Jahrgang 1980, studierte Politik, Rechtswissenschaft und Geschichte. Oeing arbeitet im Berliner Textsalon und schreibt unter anderem für Die Zeit, FAZ, und Spiegel Online.

ICH BIN WIE ICH BIN

Ich bin wie ich bin. Die einen kennen mich, die anderen können mich. Mein Respekt geht postum an Konrad Adenauer, der nicht nur der erste Bundeskanzler, sondern auch Ehrenbürger Berlins war. Schöner hätte ich es nicht formulieren können. Der Mann hatte es drauf! Immer einen schmissigen Spruch auf den Lippen.

In einer Stadt wie Berlin darf per se jeder sein, wie er ist. Individualität ist gefragt, wird aber selten geboten, selbst die Punks tragen ihre Mode wie ein subkulturelles Erkennungsmerkmal an ihrem Körper, individuell sieht anders aus. Doch wer gesehen werden will, wird gesehen, alle anderen können in der Anonymität der Stadt untertauchen. Die Nachbarn interessieren sich wenig füreinander, Tote verwesen hier schon mal mehrere Wochen unbemerkt in ihren Wohnungen. Wer neu in der Stadt ist, muss ganz schön was losmachen, um aufzufallen.

Auffallen ist aber nicht mein Ding, ich bin ein Nordlicht, eher spröde also. Meine Kindheit verbrachte ich in einer Kleinstadt an der Nordseeküste, liebte die Möwen am Himmel, hasste ihren Schiss auf den Bänken. Doch meine Herkunft bringt mir, im Gegensatz zu Menschen, die aus dem Schwabenland kommen, immerhin ein anerkennendes Nicken ein. Warum, weiß ich nicht, vielleicht weil man bei fünfzig Wochen Schietwetter im Jahr, Aal zum Weihnachtsfest und dauerhafter Föhnwelle schon einiges mitgemacht hat. Für Begeisterungsstürme reicht es jedoch nicht, da hätte ich schon mit einer Geburt in einem israelischen Kibbuz, einer Jahre andauernden Sinnsuche in einem indischen Aschram oder einem turbulenten Leben in einer Diplomatenfamilie aufwarten müssen. Nordkorea, Irak, Afghanistan.

Doch auch für mich war der Weg nach Berlin weit, weiter als zunächst gedacht. Bereits zu Beginn meiner Volljährigkeit zog es mich an die Spree, in diese berauschende Stadt, die gerade zusammenwuchs, zwei Seelen, die eins werden sollten, ohne Grenzen, voller Möglichkeiten. Ich wollte was erleben, Geschichten sammeln, frei sein. Bedauerlicherweise verbrachte ich den Sommer nach meinem Abitur lieber im Freibad, als mich an der Humboldt Universität einzuschreiben, so verpasste ich wichtige Fristen, Fristen, die in keinem Fall – auch für Sie gibt es keine Ausnahme, mein Fräulein – verlängert werden konnten. Tränen flossen.

Seitdem boykottiere ich Fristen jeglicher Art, habe nicht aus meinem Fehler gelernt, sondern eine Art Protesthaltung gegenüber Fristen entwickelt. Und ich besitze Ausdauer, bis zur zweiten Mahnung rühre ich mich nicht.

In besagtem Sommer am Ende des letzten Jahrtausends begann ich also ein Studium in einer westdeutschen Kleinstadt nahe der ehemaligen ostdeutschen Grenze. Nach meinem Abschluss tingelte ich durch diverse Städte, München, Barcelona, Hamburg, arbeitete bei Zeitungen und PR-Agenturen, beim Radio und Fernsehen, zuletzt in Bielefeld. Mein Tiefpunkt.

Vor fünf Jahren war es so weit, ich nahm all meinen Mut zusammen, kündigte und zog ohne Job und mit leerem Sparbuch nach Berlin, der Stadt meiner Träume. Ein bisschen Pathos darf an dieser Stelle ruhig sein. Es war eine Herausforderung, die ich lächelnd annahm, befand ich mich doch auf der Zielstrecke zum Glück, meiner Karriere ganz nah, unbeirrbar in dem Glauben, dass mich Berlin und seine Bewohner mit offenen Armen empfangen würden. Ein Trugschluss.

Am Anfang meines Berlinlebens stieg ich die Karriereleiter so weit hinunter, wie es nur ging. Nach mir gab es nur noch Hartz IV.

Mein Einstieg war ein Praktikum beim Privatfernsehen. Ich spielte in so vielen Fernsehbeiträgen mit, dass so mancher C-Promi neidisch wäre, musste dabei meine »fünf Ticks« ausplaudern, die ich gar nicht hatte, die der Redakteur aber unglaublich amüsant fand, hatte Wildfremde auf der Straße über ihr Sexleben ausgefragt und war an einem Badesee im Berliner Umland zur »Badenixe des Jahres« gewählt worden.

Mein mit großen Erwartungen angestrebter beruflicher Aufstieg war wegen der im Vergleich zum nichtstädtischen Deutschland leicht erhöhten Lebenshaltungskosten nur durch wenig prestigeträchtige Nebenjobs auf allerhand hippen Events zu finanzieren, stets begleitet von einem großen Auflauf an Möchtegern-Promis. Dummerweise war ich nicht die mit dem schicken Kleid neben dem roten Teppich, die den Promis das Mikrofon vor den Mund hielt, sondern die mit dem Cap auf dem Kopf, die nicht mal in die Nähe des Teppichs durfte, geschweige denn in die Veranstaltungsräume. Ich und meine Flyer mussten draußen bleiben.

Das Schöne an Berlin ist, hier darf man scheitern. Die Menschen schauen sich gegenseitig dabei zu, glotzen und gaffen, nie um einen hilfreichen Kommentar verlegen. »Na, nichts gelernt? Abschluss nicht geschafft? Vergessen mit dem Chef zu schlafen?« Sie suhlen sich im Leid des anderen, immer darauf bedacht, das eigene Leben hochzujubeln. Die Gespräche drehen sich mit Bescheidenheit getarnt um die neuesten Projekte, Gigs, Kontakte. Nichts Großes, heucheln sie, aber doch recht prestigeträchtig, sogar die Tagespresse hat schon darüber berichtet. Um es auf den Punkt zu bringen, »ich bin nicht so ein Verlierer wie du«.

Doch Berlin verzeiht den Menschen ihre Marotten. Die Stadt hat für jeden ein Lächeln über, schließt die Bewohner in ihre Arme. So ist die Großstadt, sie verzeiht Schwächen. Hier darf ein jeder alles ausprobieren. Das eigene Café geht pleite? In der Probezeit gefeuert? Die erste selbst entworfene Modekollektion verstaubt im Schaufenster? Alles halb so schlimm, es gibt immer jemand, der jemand kennt, der jemand kennt, der einem weiterhilft. In Großstädten leben genug Menschen, um das Unglück der anderen zu kompensieren. Keiner wird hängen gelassen, keiner bleibt auf der Strecke. Man könnte ja der Nächste sein, bei dem es heißt: Gehe nicht über Los, ziehe keine 4000 Euro ein. Pech gehabt, aber Kopf hoch, das Leben geht weiter. Berlin liebt dich trotzdem. Eine solidarische Stadt, ein Auffangbecken für Gewinner und Verlierer. Aber zu den Verlierern zählt natürlich niemand gerne. Ich auch nicht.

Inzwischen bin ich in meinem dritten Lebensjahrzehnt angekommen, habe zwar kein prall gefülltes Sparbuch, aber momentan immerhin einen Sitzplatz in der Arbeitswelt. Ich gehöre zu den Tausenden Kreativen, die niemand so richtig braucht, die schlecht bezahlt sind, aber immer heilfroh, überhaupt eine Anstellung zu haben. Ich hoffe, es stört euch nicht, wenn ich euch ab jetzt duze. Ich wohne in Berlin. Hier macht das jeder – spätestens nach dem ersten Händedruck. Ich darf das also.

Und ich mag Menschen. Ehrlich. Sonst würde ich mir in der Wildnis eine Holzhütte bauen und hätte mir nicht ausgerechnet eine wuselige Großstadt als Domizil ausgesucht. Aber ich mag Menschen nur in einer gewissen Dosis und – ja natürlich – nicht jeden gleich gerne. Es ist ein bisschen wie mit der Schokolade zur Weihnachtszeit. Die ersten Tage bekomme ich kaum genug von Lebkuchen, Spekulatius und Christstollen. Wie wild esse ich alles durcheinander, am liebsten diese Schokoladenkringel, die mit den bunten Zuckerperlchen bestreut sind, die Kringel eben, ich hoffe, ihr wisst, was ich meine. Doch nach ein paar Tagen, manchmal leider erst nach ein paar Wochen, schleicht sich dieses Gefühl einer Überdosis ein. Dann habe ich genug. Es reicht einfach. Oder wie mein Kollege Hannes in einer Rundmail schrieb, jedem, der noch einen einzigen selbstgebackenen was auch immer mitbringt, »gehe ich persönlich an die Gurgel«. Man könnte es auch mit einem Tag im Freibad vergleichen. Erst gibt es Pommes Rot-Weiß, dann eine bunte Tüte mit allerlei Plombenziehern, nach einem ausgiebigen Sonnenbad eine eiskalte Cola, später dann einen Flutschfinger und wenn die Sonne sich langsam zurückzieht, der Tag zur Ruhe kommt, eine zweite Portion Pommes, eine große natürlich, weil irgendwer ja doch immer nascht. Am Ende ist es immer das Gleiche. Ich fühle mich nicht wirklich schlecht, aber Pommes – so viel steht fest – werde ich mindestens eine Woche lang nicht essen. Wenigstens bis zum nächsten Freibadbesuch.

Ich bin wie ich bin. Und mir geht es darum, dass man mich nimmt, wie ich bin. Im Gegensatz zum Choleriker rege ich mich nicht mal gerne auf. Es passiert einfach. Jeden Tag. Immer wieder. Die Großstadt lässt mir keine Wahl. Es leben zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Und jeder möchte in seiner grenzenlosen Individualität ernst genommen werden, möchte seinen bissigen Humor ausleben, seinen schlechten Atem verbreiten, seinen Rededrang ungehindert fließen lassen, will so akzeptiert werden, wie er ist. Ohne Kompromisse. Ebenfalls ganz nach dem Motto: Ich bin wie ich bin. Die unweigerliche Quintessenz: Die Menschen treiben einander in den Wahnsinn. Es ist nicht ihre Schuld. Die Enge der Stadt zwingt sie dazu. Lebenswelten prallen mit voller Wucht aufeinander. Menschen geraten an ihre Grenzen, emotional und körperlich, einige werden unsanft darüber hinaus geschubst. Dieses an Nötigung grenzende Verhalten bringt Wutzentren zum Kochen, so auch meins. Nun sei doch nicht so – diesen Satz höre ich fast täglich und ich mag ihn nicht sonderlich, verstehe eigentlich nicht mal genau, was mir meine Mitmenschen damit sagen wollen. Möchten sie, dass ich mich verstelle, ein Schauspiel aufführe, nicht mehr ich selbst bin? Sie kommen dann mit dem Argument um die Ecke, dass es ja auch furchtbar schlechte Eigenschaften an mir gibt, über die man sich aufregen könnte.

Bitte, ich höre?

Na ja, da wäre deine Vergesslichkeit, die schlechte Laune am Morgen, die Unfähigkeit, zwei Sachen auf einmal zu machen, deine Tollpatschigkeit, zudem bist du an einigen Tagen einsilbig und schüchtern, an anderen vorlaut, mürrisch und rotzfrech.

Ein Kollege meinte sogar mal, ich hätte Kühe im Kopf. Ich fragte ihn, was er...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Baulärm • Drängelei • eBooks • Ekel • Fremdscham • Geschichte • Großstadt • Großstadtdschungel • Großstadt, Stadtleben, Großstadtdschungel, Straßenlärm, Baulärm, Unverschämtheit, Sittenverfall, Drängelei, Ekel, Fremdscham • Personennahverkehr • Sittenverfall • Stadtleben • Straßenlärm • Unverschämtheit
ISBN-10 3-641-10666-4 / 3641106664
ISBN-13 978-3-641-10666-9 / 9783641106669
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