Die Geschichte vom Erben, Hauen und Stechen (eBook)

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2013 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402017-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Geschichte vom Erben, Hauen und Stechen -  Kerstin Höckel
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Die Familie erbt - eine gewaltige Herausforderung für alle Hinterbliebenen. Die Oma ist noch nicht unter der Erde, schon bricht der Streit ums Erbe aus. Muss man sich an das Testament halten? Warum soll ihr jüngster Sohn den roten Sessel bekommen, wo er doch sonst vom Erbe ausgeschlossen ist? Was weiß die schöne Tante? Und wird die patente Mutter bald das dunkle Geheimnis der Familie lüften? Was jahrzehntelang im Verborgenen wucherte, im Zaum gehalten von Konventionen und einigermaßen guten Manieren, kommt plötzlich ans Tageslicht. »Erben gehört zu den Grenzerfahrungen. Wie Liebe und Sterben. Und wir sind blutige Anfänger!«

Kerstin Höckel studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Nach ein paar Jahren am Theater begann sie, Independentfilme zu drehen und Drehbücher zu schreiben. Höckel lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald

Kerstin Höckel studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Nach ein paar Jahren am Theater begann sie, Independentfilme zu drehen und Drehbücher zu schreiben. Höckel lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald

Doch auch Erben ist nun mal eine Herausforderung. Eine, die aus der Feder von Kerstin Höckel hohen Unterhaltungswert verspricht.

Zum Kuckuck


denkt Elly. Ihr Tod spielt mit den Ärzten Versteck im alten Körper. Er spielt auch mit Elly. Zunächst sieht es nämlich gut aus. Elly erholt sich und erfährt am Telefon von der Geburt ihres siebten Urenkelchens im Heiligen Land, einer gewissen Lea, ein Mädel also. Sie beginnt schon, sich wieder ans Licht zu gewöhnen. An den Tag. Die Gardine schillert hellgelb. Die Zimmernachbarin hält den Mund. Bekommt kaum Besuch. Der Fernseher läuft ohne Ton. Nur zu den Nachrichten mit. Elly freut sich auf den Wetterbericht. Im Norden hat in ihrer Todesnacht der Sturm des Jahrhunderts gewütet. Sie freut sich sogar aufs Frühstück. Das hat es lange nicht gegeben. Die sogenannten Lebensgeister. Elly lässt sich ihren Honig kommen. Und Tata bringt Zigaretten mit, echte, starke. Das müssen die anderen nicht wissen. Meiner Mutter hat sie am Telefon versprochen, das Rauchen von nun an ganz aufzugeben, hat ihr weisgemacht, dass sie nur noch ab und zu an ihrer Zigarettenspitze nuckele, wenn ihr unbedingt danach sei. In der Tat saugt sie oft daran. Unerquicklich. Elly bemerkt zum ersten Mal die Falten um Tatas Mund. Nur wenn Tata lacht, verschwinden die Falten. Tata hätte ihr Kind kriegen sollen.

Ich hole dich hier raus, Mutti, sagt Tata.

Elly lächelt.

Die einfachste Sache der Welt, wird Tata nachher wüten, Und die Arschlöcher bringen es fertig und lassen sie verbluten.

 

Dabei weiß Tata aus eigener Erfahrung, wie es der Tod mit dem Zeitpunkt hält. Dass jeder Mensch ihn in sich trägt von Anbeginn an, als verborgene Knospe, er lässt sich nicht zwingen, du musst warten, bis dein Tod reif ist, dass es da keinen Verhandlungsspielraum gibt.

Ellys Todesblüte sorgt bei der Katheter-Untersuchung für Flüchtigkeitsfehler, ein Leck, eine ungesunde Verbindung zwischen Schlagader und Vene. Und dafür, dass das relativ spät bemerkt wird. Außerdem für einen Ausfall während der Bypass-Operation. Dazu das übliche Spektakel aus den Krankenhausserien, immer mehr Personal, an die zwölf Leute in Kitteln, gebellte Befehle, gymnastische Übungen auf Ellys Brustkorb, jemand rupft ihr einen Schlauch aus dem Mund, stülpt ihr eine neue Maske über, Tempo Tempo Tempo, Herzstillstand, sie stirbt, sie stirbt. Elly hört noch das rhythmische Gestampfe, das sie erst für ihren Herzschlag hält, das dann aber anschwillt wie alle Größen von Glocken, kleine, mittlere, große, gigantische, die letzte kolossal wie das Himmelszelt, ein unmöglicher Lärm. Sie spürt einen starken Sog nach unten und rutscht seitlich von der Liege in eine blecherne Röhre. Sie wundert sich über das moderne Transportwesen und dass es kein Geruckel gibt, als sie zwischen den Füßen der vielen am Boden landet, dass keiner auf sie tritt in der Hektik, sie nicht mal mit dem Hosenbein streift. Eine Schwester trägt weiße Turnschuhe mit einem Känguru darauf, Frauen in Turnschuhen, das hat Elly nie verstanden, jedoch das Känguru ist recht gut getroffen. Elly ist pudelwohl zumute, und sie versteht die ganze Aufregung nicht, Herrje, all die jungen Leute, die da um die geräderte Metallliege wuseln, darauf eine alte Frau, der sie soeben Elektroden an den Oberkörper heften, gelbbeschmierte Bügeleisen über die Brüste halten, platte Brüste mit Ringen unter den Augen, die arme alte Frau, so nackend. Der Arzt mit den Bügeleisen schreit Los los los, macht schon, der liegt ja schon fast drauf auf der alten Frau, die davon ganz unbeeindruckt scheint, Worauf wartet ihr denn, wollt ihr sie abkratzen lassen, schreit der Arzt mit den Bügeleisen. Er hat sehr kurzgeschorene Haare, mattbraune Stoppeln lugen unter der albernen Kappe hervor, im Nacken mit ersten grauen dazwischen, die dem Ganzen einen gewissen Glanz verleihen. Der sollte sich seltener die Haare waschen, denkt Elly, dann hätte er nicht so viele Schuppen, weniger ist mehr, lautet die Devise, junger Mann. Ein Hautplättchen löst sich von seinem Kragen und trudelt auf den Bauch der alten Frau zu. Elly registriert, dass die Schuppe das Einzige ist, was sich in diesem Raum Zeit lässt, der freie Fall, ungeheuer leicht, und die Gehetzten können sowieso nichts ausrichten. Merken die das nicht, die Alte ist tot. Soeben schnellt ihr Körper in die Höhe, vom Strom geschockt, Elly gewissermaßen entgegen, die inzwischen unter der Decke schwebt und den Panoramablick genießt. Was für ein Trubel, welch unadäquate Zeremonie, da jemand gestorben ist. Erst als sie das Muttermal an der linken Schläfe der alten Frau entdeckt, begreift sie, dass es sich da unten um ihren eigenen Körper handelt, bei dem stumpfen Gesicht um ihr eigenes, um ihren Mund, ein wenig in die Breite gezogen, ihre Nase, die hochgeschwungenen Wangenknochen ihrer Familie unter der fahlen Haut, ihre blauen Flecken und Beulen rund um die Einstiche der Infusionsnadeln. Aus allen Richtungen zugleich kann sie ihre gebrauchte Hülle betrachten, sich selbst, das einstige Zuhause all ihrer Empfindungen und Gedanken. Du liebe Zeit. Lasst mich bloß gehen, ruft sie den Ärzten und Schwestern zu, ich brauche das Ding nicht mehr. Keiner reagiert. Hört schon auf mit dem Blödsinn, schimpft sie ganz nah am Ohr des Doktors mit den Schuppen. Lassen Sie diesen Körper gefälligst in Ruhe, es war meiner, ich will ihn nicht mehr, ich bin es leid, was wissen Sie schon vom Leben, Sie, Sie. Elly brüllt unter Aufbietung all ihrer Kraft, Mir geht es bestens, sie klammert sich an den Armen des Arztes fest, der schon wieder Anstalten macht, die Bügeleisen auf ihren Brustkorb zu pressen. Vergebens. Sie wird ignoriert. Sie richtet nichts aus. Muss stattdessen mitansehen, wie ihr Leib sich erneut aufbäumt unter Strom, knirscht und knackt. Na warte, denkt sie, einen Leserbrief an die Saarbrücker Zeitung wird sie schreiben, über die Entmündigung der Sterbenden, Na warte, ruft sie und macht sich gleich auf den Weg an den Schreibtisch, durch die Decke in den zwölften Stock, nur dass dort nicht ihr Schreibtisch steht, der ehedem Willis Schreibtisch gewesen ist, und den sie erst nach der Geburt von Veronikas Sohn ausgetauscht haben, um im Herrenzimmer Platz für das Babybett zu schaffen, damit Elly das Kleine hüten kann, während ihre Enkelin studiert, sondern das Schreibpult einer Ärztin mit langen aschblonden Haaren, die soeben den Befund eines Leberkranken in ihr Diktiergerät spricht, eines gewissen Herrn Soundso, drogensüchtig, Hepatitis B.

Ich bin tot, dämmert es Elly, und zu ihrem Erstaunen löst die Erkenntnis weder Furcht noch Erleichterung aus, denn sie ist längst jenseits davon, sie ist so leicht, dass es sich nur mit den Begriffen einer weiteren Dimension erklären ließe, wenn überhaupt. Ich bin tot, trällert sie ins Diktaphon der Blonden, und ob Sie es glauben oder nicht, jenes hosentaschenfreundliche Aufnahmegerät wird Ellys Überschwang in einem nach dem heutigen Stand der Wissenschaft unerklärlichen Rauschen für ihre Nachwelt dokumentieren, während Elly sich in den Himmel beamt, der nicht weit ist, da sie sich ja bereits im zwölften Stock befindet. Etwa in Lichtgeschwindigkeit sieht sie die Dächer des Krankenhauskomplexes kleiner werden, den Hubschrauberlandeplatz, das dunkle Quadrat der Klinikkapelle, Autodächer werden Farbpixel, die sich ins Einerlei des Asphaltes fügen, die Zipfel der Höckerlinie vom Gras überwuchert, selbst das große, dunkle Dach des Staatstheaters, das ihnen der Führer zum Dank für die Abstimmung geschenkt hat und das ihm nachher zu mickrig erschien für seine Zwecke, in der Tat, mickrig löst es sich im Gesamtbild auf neben der grau sich schlängelnden Saar, SR und Casino werden vom Wald geschluckt, ein braungraugrünes Gemälde, messerscharf nimmt Elly jede Einzelheit wahr trotz ihres Tempos, famos, denkt sie und passiert die Wolken über der Landesgrenze, ein Flugzeug passiert Elly, ohne ihr einen Kratzer zuzufügen, es ist der Flieger aus Tel Aviv, in dem ihre Älteste an einem Sudoku herumrätselt, welches sie unbedingt vor der Landung lösen will, Herrgottnochmal, das kann doch nicht so schwer sein, ihren Gatten neben sich, der Erdnüsse knabbert, obwohl der Zahnarzt ihm das untersagt hat, einer Digitalkamera voll frischer Fotos von den jüdischen Enkeln (Ellys Urenkeln) im Gepäck, fünf an der Zahl, oder mittlerweile sechs, wie war das noch gleich, Elly erlaubt sich einen Blick auf die Chipkarte, auf jedem Bild lächeln ihr ein paar niedliche Israelis entgegen, die ebenso gut Schweden sein könnten, so hellhaarig sind sie, und jetzt fällt ihr sogar der unmögliche Name ihres allerersten Urenkels wieder ein, Elieser, ja ist denn das die Möglichkeit, der kleine Elieser, Du bist aber groß geworden, sie zählt die Urenkelschar, die sich neben der rostigen Wippe um den bärtigen Schwiegersohn versammelt haben, fünf sind es, fünf an der Zahl, drei davon mit Schläfenlocken, die Wolken lichten sich über Ägypten, schon entdeckt sie ein großes Stück Afrika, nun also doch, Afrika, sieh nur die helle Wüste aus Sand, der Fluss, neue Wölkchen, und wo das Rund den flüssigen Horizont bildet, jeden Moment neu erfindet, die Berge, der Berg, Ellys Kilimandscharo, er trägt ein Halsband aus Wolken, seht nur, seht, all das zu erfassen, ist das der Tod, bleibt man sich derartig nah, da man ganz und gar abhebt? In Form dieses Gedankens katapultiert Elly sich ins Weltall, während entgegenkommende Flugkörper an der Erdatmosphäre verglühen. Der Anblick des blauen Planeten ist berauschend, und berauschend beschreibt mehr schlecht als recht, was Elly empfindet, denn sie befindet sich, wie erwähnt, in einer mindestens fünfdimensionalen Sphäre jenseits unserer gängigen Sprachen, if you know what I mean, treiben wir es nicht zu sehr auf die Spitze, von fern ist der blaue Planet wunderschön, das wissen wir auch aus Berichten unserer Astronauten, aus dem Fernsehen, amazing, überirdisch...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2013
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Enkel • Erben • Erbschaft • Erbstreit • Familiengeschichte • Familienzwist • Generation • Grenzerfahrung • Oma • Saarland • Sachbuch • Sterben • Testament • Tod
ISBN-10 3-10-402017-5 / 3104020175
ISBN-13 978-3-10-402017-4 / 9783104020174
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